Im Jahr 2017 ist in Deutschland das erste „Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen“ – Onlinezugangsgesetz (OZG) in Kraft getreten, welches alle Behörden verpflichtete, bis Ende 2022 ihre Verwaltungsleistungen auch digital über Verwaltungsportale anzubieten.

In seinem Überprüfungsbericht stellt der Bundesrechnungshof im März 2023 dazu jedoch fest: „Bund und Länder haben das Ziel, ihre Verwaltungsleistungen bis Ende 2022 online verfügbar zu machen, deutlich verfehlt. Bislang sind erst 19 Prozent der digitalisierbaren Verwaltungsleistungen online verfügbar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bund und Länder eine Verwaltungsleistung schon dann als online verfügbar werteten, wenn diese in einer Kommune online verfügbar war. Tatsächlich haben Bund und Länder im „Digitalisierungsprogramm Föderal“ nur drei der 35 hoch priorisierten OZG-Leistungen deutschlandweit online verfügbar gemacht.“

Digitalisierung erträgt keine Kleinstaat-Allüren

Nach diesem Armutszeugnis sollte man zwei Dinge erwarten: Demut und Schnelligkeit. Aber wir erleben gerade ein weiteres Armutszeugnis. Am 22. März hat der Bundesrat das zweite Online-Zugangsgesetz gestoppt. Es wird jetzt auf Initiative der Bundesregierung in den Vermittlungsausschuss kommen. Es ist zu hoffen, dass die Bundesregierung und ganz besonders die Vertreter der Bundesländer die Zeichen der Zeit begreifen und radikal umsteuern. Digitalisierung erträgt keine Kleinstaat-Allüren. Digitalisierung ist kein Kostenfaktor, sondern ein Einsparprogramm und ersetzt ohnehin sonst nicht vorhandenes Personal. Digitalisierung öffentlicher Prozesse ist Voraussetzung internationaler Wettbewerbsfähigkeit, und Digitalisierung wird zu einer Legitimitätsfrage unserer staatlichen Institutionen. Soziale Marktwirtschaft braucht einen Staat, der es freien Bürgern erlaubt, in einem geordneten Rahmen ihre Kreativität und ihren Geschäftssinn leben zu können. Beim Thema Infrastruktur hat der Staat eine Bringschuld.

Das Geld kann nicht das entscheidende Hindernis sein

Als ehemaliger Ministerpräsident bin ich mir des Spannungsfeldes bewusst. Es geht um Geld, Kompetenzen und Strukturen. Vordergründig wird gerade um Geld gestritten. Die Bundesregierung hat in ihrem Haushalt drei Milliarden an Digitalisierungsmitteln gestrichen und Bundeskanzler Scholz hat durch die Abgabe der Aufgaben Digitalisierung und Verwaltungsreform das Desinteresse der politischen Führung dokumentiert – keine guten Voraussetzungen für einen fruchtbaren Dialog mit den Ländern. Aber bei Ausgaben der Bundesländer von im Jahr 2022 insgesamt 522 Milliarden Euro kann der Streit um diese Mittel kein finaler Grund des Scheiterns sein. Von Seiten der ebenfalls stark betroffenen Kommunen kommen weitere 360 Milliarden hinzu. Die Länder und Kommunen sind durch ihre Anteile an den Steuern – bei den Kommunen sogar mit eigenen zusätzlichen Steuerhebungsrechten – so ausgestattet, dass man verlangen muss, dass sie ihre originären Aufgaben ohne ständiges Fordern weiterer Bundeszuschüsse wahrnehmen. Die Erbringung der Verwaltungsdienstleistungen des Staates gegenüber Bürgern und Unternehmen ist nun einmal genau eine solche Kernaufgabe. Wenn die Bundespolitik eine Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen machen würde, müssten die Kosten bei Ländern und Kommunen selbstverständlich zum überwiegenden Teil vom Bund getragen werden. Für die Infrastruktur der Verwaltung muss das schon aus dem Selbstverständnis von Ländern und Kommunen heraus anders sein.

Eine Anwendung für Deutschland muss das Ziel sein

Aber es geht nicht nur um Geld. Die Digitalisierung der Staatsverwaltung ist zugleich ein Wettkampf kleinteiliger individueller Vorstellungen von der staatlichen IT-Infrastruktur der Zukunft. Jedes Bundesland will die Digitalisierung, aber jeder eben etwas anders. Manche sind schon zufrieden mit einer Mail-Adresse, von der aus ein Vorgang ausgedruckt und abgearbeitet werden kann, wie es schon immer war. Andere haben erkannt, dass es nicht um digitale Nachrichten, sondern um digitale Prozesse geht, was zu einer neuen Verwaltung führen wird. Manche wollen schnell in die neue Zeit kommen, weil sie schon jetzt mit den Herausforderungen nicht fertig werden, andere haben gerade deshalb Angst vor einer Mehrbelastung in der Übergangszeit. Nach dem streitigen Gesetz soll die sogenannte Schriftformerfordernis entfallen, was bedeutet, dass per Mail ausgetauschte Informationen als verbindlich behandelt werden können, also kein Papier mehr. Die Einführung der Bund-ID (im Personalausweis) als zentrales, digitales Bürgerkonto soll Standard werden. Über ein digitales Postfach sollen Bescheide zugestellt werden, und der Anspruch auf digitalen Zugang zu Verwaltungsdiensten soll prinzipiell für Bürger und Unternehmen einklagbar sein. Wirklich verbindlich wird das alles ohnehin leider erst ab 2028 sein. Wenn man das mit Estland vergleicht, wie ich es in einem meiner letzten Kommentare getan habe, bedeutet das einen deutschen Wettbewerbsnachteil durch eine Verzögerung von über 20 Jahren!

Unser Grundgesetz gibt den Bundesländern aus gutem Grund eine starke Stellung. Wir sind kein Zentralstaat. Das Miteinander erfordert aber wechselseitige Besonnenheit. Die Bundesregierung hat bei der Digitalisierung der Staatsverwaltung eine zentrale Rolle und sollte sich als Architekt, Ermöglicher und auch als Förderer der Digitalisierung von Ländern und Kommunen sehen. Die Länder wiederum sollten erkennen, dass Schnelligkeit vor Detailverliebtheit geht. Mancher Prozess muss eben an andere Bundesländer angepasst werden, auch wenn es bisher nie Beschwerden gab. Für die IT-Entwicklung muss es gemeinsame Einrichtungen geben, die Standards für alle 16 Bundesländer verbindlich entwickeln und durchsetzen. Die Systeme müssen vernetzt sein, jede Verbesserung und Anpassung muss über Nacht in allen deutschen Amts-Computern verfügbar sein. Behalten wir im Auge, dass ein Weltunternehmen wie Amazon für das Funktionieren seiner IT bis zu 1000 verschiedene Anpassungen pro Tag aufspielt. Da ist der Föderalismus ein Anachronismus. Jeden Monat, den die Länder diese Erkenntnisse verdrängen, ist nicht nur ein direkter finanzieller Schaden für die Verwaltung, es ist auch ein zunehmendes Risiko für die Legitimität des Föderalismus und der Länderkompetenzen.

Wenn man im Vermittlungsausschuss zusammensitzt, wäre es auch an der Zeit, den oft sehr engagierten Fachleuten der öffentlichen Verwaltungen zuzuhören. Ihre Probleme liegen oft in fehlenden Schnittstellen, die man für die anbietende Industrie verbindlich machen könnte. Sie scheitern an 17 verschiedenen Vorgaben von Datenschutzbeauftragten, die man zentralisieren muss. Sie freuen sich über Interesse an Künstlicher Intelligenz, aber sie raufen sich die Haare, wenn Bayern eine eigene KI-Grundlagensoftware (BayernGPT) im Alleingang entwickeln will, obwohl ein nationaler Ansatz wichtig wäre.

Gefahr für den Wohlstand

Warum ist das alles zum wiederholten Mal ein Thema für einen Kommentar unter dem Dach der Ludwig-Erhard-Stiftung? Warum ist dieses „OZGII-Gesetz“ so wichtig? Die Antwort lautet, dass in einer alternden Gesellschaft die einzige Chance zu Wachstum und Wohlstand im Produktivitätsfortschritt liegt. Dieses Wachstum ist für unabhängige, kreative Unternehmen und Bürger in einem Rechtsstaat ohne starke und leistungsfähige Behörden nicht möglich. Die langsame Digitalisierung des Staates gefährdet den Wohlstand für alle.

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