Unsere politische Diskussion in Deutschland ist zur Zeit von großer Unzufriedenheit geprägt. Die Bereitschaft eines bedeutenden Teils der Wählerschaft, offen oder verdeckt verfassungsfeindliche Parteien zu wählen, ist ein Alarmzeichen und die sozialen Konflikte spielen eine große Rolle. Wer die Rigorosität sieht, mit der in den USA möglicherweise eine Mehrheit der Wähler alle offensichtlichen Bedenken gegen einen Kandidaten Trump bezüglich Integrität, Verfassungstreue und Berechenbarkeit fahren lässt, nur um das „System“ zu attackieren, muss die Unzufriedenheit ernst nehmen. Auch bei einem Vertreter offen faschistischen Gedankenguts, wie dem Thüringer AFD-Politiker Höcke, gibt es in Teilen der Wählerschaft eine – jedenfalls für mich – unerklärliche Bereitschaft, über sehr vieles hinwegzusehen.

Auf dieses Phänomen gibt es nicht die eine Antwort. Aber eine grundlegende Tendenz lässt sich durchaus rund um den Atlantik erkennen. Zu viele Menschen haben Sorgen, dass der Fortschritt, den sie in den Medien beobachten, für sie selbst nicht eintritt. Die amerikanische Mittelschicht hat in den vergangenen drei Jahrzehnten keine oder nur geringe Steigerungen des Realeinkommens erlebt. Auch in den neuen Bundesländern fühlen sich viele – wenngleich auf besserem Niveau – von der Zukunft abgehängt. Sowohl in den USA als auch in Deutschland wird versucht, diesem Phänomen mit zusätzlichen staatlichen Leistungen beizukommen. US-Präsident Biden hat unter Inkaufnahme einer weiteren dramatischen Staatsverschuldung Sozialleistungen gesteigert und öffentliche Infrastrukturprogramme aufgelegt, den Mindestlohn drastisch erhöht und Bildungskredite gelöscht. Dennoch wankt die Trump-Front nicht.

Allein Staatsgeld ist keine Garantie für sozialen Frieden

In Deutschland haben manipulative Erhöhungen des Mindestlohns, neues Bürgergeld, Rücknahme der fordernden Bedingungen der ehemaligen Agenda 2010 und beachtliche weitere soziale Verbesserungen bisher auch kaum Wirkung auf das Wahlverhalten. Viele definieren ihre Unzufriedenheit mit der eigenen Situation als ein Ergebnis von Ungerechtigkeit. Protagonisten des linken Spektrums sehen darin vor allem eine Ungerechtigkeit zwischen den Normalverdienern und dem einen Prozent der vermeintlich oder tatsächlich „Superreichen“. Dabei ist die Empörung über die angeblich zu hohe Pension eines Abteilungsleiters in einem Ministerium oft größer als die schlechten Gefühle beim Lamborghini eines jungen Fußballstars.

Nach meinem Eindruck unterschätzen wir, welche Unzufriedenheit das Gefühl von Ungerechtigkeiten in der jeweils eigenen Vergleichsgruppe auslöst. Die prinzipielle Bereitschaft, die eigene Lage durch Anstrengung zu verbessern, ist umso höher, je weniger man den Eindruck hat, der vergleichbare Nachbar könne das gleiche Ergebnis mit keiner oder weniger Anstrengung erreichen. So war das bei der starken Ablehnung von Obama-Care in den USA. Und genau so ist es – auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen – mit der Debatte über Sozialleistungen in Deutschland. Das Bürgergeld ist dafür ebenso zum Symbol geworden wie es das Heizungsgesetz für die „Klima-Bevormundung“ wurde.

Die Soziale Marktwirtschaft ist solidarisch, verlangt aber Anstrengung

Dabei geht es nicht um die Verantwortung des Staates für diejenigen, die nur ein geringes Einkommen haben oder auf Grund einer Einschränkung nicht erwerbsfähig sein können. Der Geist der Sozialen Marktwirtschaft und der Solidarität mit denjenigen, die der Solidarität bedürfen, ist in Deutschland Konsens. Das ist eine große Errungenschaft! Die zunehmende Unzufriedenheit begann mit einer immer stärkeren juristischen Ausdifferenzierung der daraus resultierenden Ansprüche. Mit einem grundlegenden Urteil im Jahr 2010 verschärfte das Bundesverfassungsgericht die Maßstäbe und ihre Herleitung. Auch das heutige sogenannte Bürgergeld ist noch ein Ausfluss dieser Entwicklung. Mit dem Leitsatz, es solle nicht nur die physische Existenz gesichert werden, sondern auch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe, lässt sich viel gestalten. Zusätzlich zum kompliziert zu berechnenden Existenzminimum kommen die gut begründeten Versuche, allen Kindern eine stabile Startchance zu verschaffen. Das Ergebnis ist ein schon der Höhe nach weltweit einzigartiges Sozialsystem. Das ist aber nicht nur eine große volkswirtschaftliche Anstrengung, die erst erarbeitet werden muss, sondern zugleich eine Herausforderung in Bezug auf eine als gerecht empfundene Ordnung. Hier entsteht ein Dilemma. Ein exzessiv interpretiertes Ziel der gleichberechtigten Teilhabe führt zu einem nur noch geringen Unterschied zwischen dem Lohn aus einer Erwerbstätigkeit im unteren Durchschnitt der Einkommen und der staatlichen Unterstützung. Ludwig Erhard warnte schon 1958: „Nichts ist (…) in der Regel unsozialer als der sogenannte „Wohlfahrtsstaat“, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken lässt.“

Der Lohnabstand geht verloren – das ist nicht gerecht

In der aktuellen Lage kann man diesen Konflikt daran erkennen, dass zurzeit eine Anpassung der unteren Beamtengehälter (das Musterbeispiel ist der Justizwachtmeister) geprüft werden muss, da das ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht kommende Lohnabstandsgebot von mindestens 15 Prozent gegenüber dem Bürgergeldempfänger nicht mehr gewahrt ist. Gleichzeitig führen die zusätzlich zum Bürgergeld zu zahlenden Zuschüsse zu Wohnungsmieten und Heizkosten tatsächlich zu Nettoeinkommen, die für Menschen mit 40stündiger Erwerbarbeit demotivierend sind. Wenn der Staat in diesem Maß eingreift, muss aus allgemeinen Gerechtigkeitsüberlegungen alles immer detaillierter werden. So kommt dann neben das Bürgergeld der Plan einer Kindergrundsicherung mit dem Zusatz einer Kinder-Wohnkostenpauschale ins Spiel, die das Lohnabstandsgebot erneut in Frage stellen wird.

All diese Versuche der Herstellung einer Einkommenssituation, die das Existenzminimum zu nahe an die unteren Einkommen heranführt und in jedem Einzelfall gerecht sein will, führen zu weiterer Bürokratie. So sollen nach der Meinung der Bundesregierung allein für die Einführung der Kindergrundsicherung weitere 5.000 Beamte nötig werden. Zugleich entstehen mit der vermeintlich größeren Einzelfallgerechtigkeit bei immer mehr ineinandergreifenden Systemen neue, kaum akzeptable Unterschiede. Eine vierköpfige Familie in Leipzig mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von 2915 Euro, die Wohngeld, Kinderzuschlag und Kindergeld bekommt, hat für die Deckung des täglichen Bedarfs 474 Euro mehr zur Verfügung als eine vierköpfige Familie mit dem gleichen Bruttoeinkommen in München.

Diese für jeden in den Medien nachvollziehbaren Ungleichheiten machen offensichtlich viele Menschen wütend. Wenn sich das mit der als ungelöst angesehen Frage des Zuzugs von Flüchtlingen und der in Deutschland besonders ineffektiv gelösten Frage der Beschäftigung ukrainischer Mitbürger verbindet, dann entsteht daraus ein politisch gefährliches Gemisch.

Wer glaubt, das Bürgergeld sei der Grund für das Aufkommen undemokratischer Wut-Parteien, greift zu kurz. Aber es ist in den Meinungsumfragen erkennbar: Die gefühlte Geringschätzung der eigenen Arbeit und des eigenen Fleißes ist ein Konstruktionsfehler des Bürgergeldes, der die Konflikte verschärft.

DRUCKEN
Rentenpolitik mit Illusionen
Der Weg zur Knechtschaft
DRUCKEN