Ein Gegner eines staatlichen Mindestlohns zu sein, führt zu einem schlechten Image und auf Dauer bei sehr vielen auch zu einem schlechten Gewissen. Fast sieht es so aus, als könne die grundgesetzliche Würde des Menschen nur durch einen staatlichen Beschluss einer unteren Einkommensgrenze gewährleistet werden.

Vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland im Jahr 2015 gab es keine allgemeinverbindlichen Mindestlöhne auf nationaler Ebene. Stattdessen wurden Mindestlöhne in bestimmten Branchen und Regionen durch Tarifverträge zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden festgelegt. Diese Tarifverträge galten allerdings nur für diejenigen Arbeitnehmer, die Mitglied der tarifgebundenen Gewerkschaften, oder für Arbeitgeber, die Mitglieder der Arbeitgeberverbände waren. Zugleich ging in den neuen Service-Branchen der Zahl der tarifgebundenen Unternehmen immer weiter zurück.

Eine Steigerung von 50 Prozent in neun Jahren

Der gesetzliche Mindestlohn startete bei 8,5o Euro und wurde seitdem bis heute um 41 Prozent auf 12 Euro erhöht. Die derzeit von der durch Gesetz geschaffenen Mindestlohn- Kommission beschlossene Erhöhung auf 12,82 bis 2024 würde eine Erhöhung des Lohns um 50% binnen 9 Jahren bedeuten. Die durchschnittlichen Gehälter in Deutschland dagegen sind in der Zeit von 2015 bis2021 lediglich um 16% gestiegen, spätere Zahlen hat das Statistische Bundesamt noch nicht. In Europa sind wir schon mit den bisherigen12 Euro an der Spitze der Mindestlöhne, nur Luxembourg liegt vor uns. Wichtig ist, sich zu erinnern: Schon die Steigerung auf 12 Euro war keine Vereinbarung der Tarifparteien in der Mindestlohn-Kommission, sondern ein SPD-Wahlversprechen, das per Einzel-Gesetz umgesetzt wurde. Und auch jetzt sehen wir in der Regierungskoalition und bei den Gewerkschaften wieder Bestrebungen, die durch die Kommission beschlossene Erhöhung durch ein neues Sondergesetz auszuhebeln um möglichst schnell auf die erneut politisch erfundene Summe von 14 Euro zu kommen. Das wäre dann eine Steigerung um 65 Prozent seit 2015 und damit weit von der allgemeinen Einkommensentwicklung entfernt.

Das Ergebnis der Mindestlohngesetzgebung ist die Beendigung eines weiteren Kapitels der Sozialen Marktwirtschaft. Der Staat fühlt sich als kompetenter Entscheider über die angemessenen Löhne für Arbeit mit geringer persönlicher Qualifikation. Die Bedenken gegen die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns haben sich mit der Entwicklung der letzten Monate leider abschließend bestätigt. Die Arbeitsbedingungen der unteren Lohnbereiche werden von den Marktentwicklungen abgekoppelt. Politisierte Löhne sind für Unternehmen unberechenbar und treiben den Ersatz dieser Arbeitsplätze durch Technisierung und Verlagerung. Das kostet Wachstum, aber schlimmer noch, es zerstört die Beschäftigungsperspektiven für diejenigen, denen man ja vorgeblich helfen wollte.

Viele verlieren durch den Mindestlohn Einkommen

Betroffen sind diejenigen, die aus längerer Arbeitslosigkeit wieder in Beschäftigung einsteigen, aber auch all diejenigen, die ein Interesse an einem Zuverdienst haben – seien es Rentner oder Studenten. Schon 2015 hatten zum Beispiel die Zeitungsverleger gewarnt: Durch die Neuregelung würden die Mehrausgaben der Zeitungsverlage pro Jahr etwa 205 Millionen Euro im Vergleich zu den Bedingungen ohne Mindestlohn betragen. Die Politik hat abgewunken; eine längere Übergangszeit müsse reichen. Heute sehen wir, dass ländliche Regionen Deutschlands gar keine Zeitungszustellung mehr haben. Nach der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat jetzt auch die Welt am Sonntag die Zustellung an Sonntagen vollständig eingestellt. Zeitungsbote war nie ein Fulltime-Job, aber er war ein willkommener Zuverdienst für sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Der Staat hat diese Jobs vernichtet. Selten sind Wirkungen so direkt sichtbar. Meist geschieht der Abbau von zu teurer Arbeit schleichend und unauffällig. Aber dennoch entsteht der Schaden.

Die freie Lohnfindung ist ein entscheidendes Element der Sozialen Marktwirtschaft. Die Findung der richtigen Preise für Arbeit sollte der staatlichen Regelung entzogen sein. Wird der Staat der verbindliche Entscheider über die finanziellen Arbeitsbedingungen, werden Kriterien bedeutend, die gerade nicht das Angebot und die Nachfrage von Arbeitskräften zum Maßstab haben. Jenseits der sittenwidrigen Ausbeutung – die schon immer verboten war – muss es das Recht jedes Einzelnen bleiben, den Preis für seine Arbeitsbereitschaft selbst zu definieren. Es ist die wichtigste durch das Grundgesetz geschützte Aufgabe der Gewerkschaften und der Arbeitgeber, Vereinbarungen über die richtige Lohnhöhe zu vereinbaren, auch zu erkämpfen. Sollte ein Bereich ohne eine gute Abdeckung mit Tarifvertragen sein, ist als letztes Mittel die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ein Ersatz. Aber hier wird dann eine Vereinbarung der Tarifvertragsparteien allgemein verbindlich und nicht eine von wirtschaftlichen Gegebenheiten losgelöste politische Entscheidung durch Gesetz.

Ludwig Erhard stand zur Tarifautonomie

Ludwig Erhard schreibt in „Wohlstand für Alle“ dazu: „In solchem Zusammenhang hängt viel von dem verantwortungsbewussten Verhalten der Tarifpartner ab. [] Unter diesen Bedingungen und in der Erwartung, dass auch in Zukunft selbst harte Auseinandersetzungen nicht zu reinen Machtkämpfen entarten, zögert die Bundesregierung nicht, sich zur Wahrung der Tarifautonomie zu bekennen. Die Bundesregierung hat das betonte Ja der Gewerkschaften zur staatsbürgerlichen Verantwortung dankbar begrüßt. Sie erwartet, dass diese auch in ihrem Bereich den demokratischen Grundfreiheiten der von ihnen betreuten Menschen uneingeschränkt Raum geben.“

Der Weg zurück und damit weg vom Mindestlohn hat derzeit keine politische Mehrheit, nicht einmal in der Opposition. Man muss schon dankbar sein, dass der Bundeskanzler nicht erneut die Entscheidung der Mindestlohn-Kommission aufheben will. Aber überzeugte Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft müssen kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie an der Überzeugung festhalten, dass ein staatlicher Mindestlohn Wohlstand kostet und dem Prinzip der freien Vereinbarung der Tarifpartner widerspricht. Nicht alles, was gut aussieht, ist auch gut.

Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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