Handelsblatt Chefredakteur Sebastian Matthes gibt in seiner letzten Wochenend-Kolumne eine – leider – treffende Analyse für unser Land: „Vielleicht ist es der Pragmatismus, der den Deutschen abhandengekommen ist. Das Mindset, einfach mal loszulegen, bevor alles bis ins Detail geregelt ist. In der Energiewende, wo detailliert festgelegt wird, welche Art von Wasserstoff gut und welche böse ist. In der Pharmaforschung, die so kompliziert geworden ist, dass die Konzerne ihre Labore einfach ins Ausland verlegen. Und beim Heizungsgesetz, das so kleinteilig geworden ist, dass niemand mehr durchblickt, dabei hätte man es auch einfach über den CO2-Preis regeln können. Deutschland steckt nicht nur in der Komplexitätsfalle, wie es manchmal heißt. Deutschland steckt in der Mindset-Falle.“

Einzelfallgerechtigkeit ist als Maßstab nicht immer richtig

Allerdings fürchte ich, dass das, was Matthes „Mindset“ nennt, über eine lange Zeit immer mehr in Rechtsnormen geronnen und fast zum Verfassungsrang erhoben worden ist. Im ganz Allgemeinen könnte man dieses Phänomen „Einzelfallgerechtigkeit“ nennen. Jede einzelne Entscheidung der Behörden in Deutschland kann vor einem Verwaltungsgericht beklagt werden, so steht es in unserer Verfassung. Das ist eine Konsequenz aus den Erfahrungen eines nationalsozialistischen Willkür-Staates. Andere Länder kennen solche speziellen Verwaltungsgerichte gar nicht, und alles wird vor den normalen Gerichten verhandelt. Schon das könnte zu mehr lebensnahem Pragmatismus führen, geht aber bei uns nicht.

Da sind wir dann doch zunächst wieder beim „Mindset“. Die Politik muss Gesetze machen, die trotz des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes der Verfassung ein größeres Maß an ungleichen, genau auf eine Situation zugeschnitten, Entscheidungen zulassen. Die Juristen nennen das Regulierungsermessen, und das ist in Deutschland nicht sehr beliebt. Behörden scheuen mutige Entscheidungen, weil sie lange Gerichtsverfahren befürchten, die dann doch Ermessensentscheidungen unter dem vermeintlichen Gerechtigkeitsaspekt „Da kann ja jeder kommen!“ wieder korrigieren.

Bei den Windrädern hat es geklappt

In den letzten Monaten sehen wir durchaus Reaktionen des Gesetzgebers. Das beste Beispiel ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das bei der Neufassung jetzt einen neuen Paragraphen zwei erhielt, der da lautet: „Die Errichtung und der Betrieb von Anlagen sowie den dazugehörigen Nebenanlagen liegen im überragenden öffentlichen Interesse und dienen der öffentlichen Sicherheit. Bis die Stromerzeugung im Bundesgebiet nahezu treibhausgasneutral ist, sollen die erneuerbaren Energien als vorrangiger Belang in die jeweils durchzuführenden Schutzgüterabwägungen eingebracht werden.“ Hier kann man eine klare politische Wertentscheidung erkennen, die den Behörden auch im Falle einer gerichtlichen Überprüfung den Rücken stärken soll. Das Ziel ist klar: weniger bürokratische Hemmnisse für Windräder.

Einfach mal anfangen

So kann man auch andere Probleme lösen, wenn man will. Hier einige Beispiele:

  • Ärzte und Pfleger beklagen heute, dass sie weniger Zeit für die Patienten aufwenden, als sie für endlose Dokumentationen aufbringen müssen. Der Gesetzgeber kann die Dokumentationspflichten deutlich reduzieren, indem er elektronische Aufzeichnungen genügen lässt oder aber nur Abweichungen von Regelverfahren protokolliert werden müssen. So kann mehr als die Hälfte der Arbeit gespart werden, ohne den Patienten zu schaden. Allerdings muss dieses Verfahren gesetzlich festgelegt werden, sonst kann es mit Hilfe von Gerichten wieder zur Verfolgung von Nachlässigkeiten in der Dokumentation kommen.
  • Behörden können das Recht erhalten, alle für die Bearbeitung von Bürgeranträgen und Genehmigungen notwendigen Informationen aus anderen öffentlichen Registern zusammenzutragen, ohne dass dies ein Verstoß gegen den Datenschutz ist. In Estland, aber auch bei unseren Nachbarn in Österreich ist das schon lange so. Aber man muss es eben als zulässige Ausnahme in das Datenschutzgesetz aufnehmen. Den ganzen Aufwand und Bürgerzorn beim Anlegen der Daten für die Grundsteuer hätte es dann nie gegeben.
  • Die einfache gesetzliche Festlegung, dass aus der Ukraine geflüchtete Menschen als deutsche Arbeitnehmer im Sinne der Gesetze gelten, hätte endlose Prüfungsverfahren verhindert und uns ermöglicht, auf dem Niveau von Dänemark mindestens die dreifache Zahl von Arbeitskräften zu gewinnen.
  • Die gesetzliche Entscheidung, dass Gebäude, die älter als 50 Jahre sind und noch nicht unter Denkmalschutz stehen, nur noch auf Antrag der Eigentümer zum Denkmal erklärt werden können, würde viel Ärger vermeiden. Aber ohne gesetzliche Regelung muss die Behörde handeln.
  • Eine besondere gesetzliche Regelung und eigenständige Behörde für die Zuwanderung von Fachkräften unter Anwendung moderner digitaler Techniken würde Arbeitskräften schnell Visa verschaffen und die völlig überforderten Ausländerbehörden entlasten. Die amerikanischen Behörden wissen ja schließlich auch nach einigen Computer-Fragen, ob unsere Einreise im Interesse der USA ist oder nicht. Aber auch dieser Schnellzug ist eine Ungleichbehandlung und erfordert daher ein Gesetz.
  • Wenn die Wohnungsnot groß ist, müssen Prioritäten gesetzt werden. Der Gesetzgeber kann einer Gemeinde mit nachgewiesenem Wohnungsmangel erlauben, neue Wohngebiete sofort zu realisieren und umweltrechtliche Ausgleichsmaßnahmen erst in einigen Jahren vorzunehmen. Man kann auch in diesen Gemeinden für eine gewisse Zeit zulassen, dass die Bauherren von Mehrfamilienhäusern von allen baurechtlichen Vorschriften, die nicht dem Schutz der Bewohner dienen, freigestellt werden dürfen. Auch hier ist wieder der Gesetzgeber gefordert.

Keine dieser Maßnahmen, für sich gesehen, löst unser Problem. Aber keine dieser Maßnahmen würde Schaden stiften und alleine die Diskussion, auf Normen, die ja immer irgendetwas Gutes schützen sollen, zu verzichten, wäre eine Botschaft für den „Mindset“. „Einfach mal machen“ hat CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann das genannt. Es könnte dann abfärben auf viele von uns, die sich aus Angst, gegen irgendeine Regel zu verstoßen, keine unkonventionellen Entscheidungen mehr zutrauen.

Weniger Gesetze sind auch eine Lösung

Bleibt zu sagen, dass man auch oft einfach auf ganze Regelungen verzichten könnte. Das Lieferkettensorgfaltspflichten-Gesetz ist ein gutes Beispiel. Es verteuert und verhindert, aber es wird nicht zwingend gebraucht. Auch müssen wir die EU-Regeln zur nicht-finanziellen Berichterstattung der Unternehmen in den Blick nehmen: Da entstehen gerade tausende von Seiten neuer Regeln von Institutionen, die keiner kennt und produzieren Kosten, die wir wirklich nicht gebrauchen können. Es geht auch einfacher – mit größerem Erfolg!

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