Am 14. Oktober 2020 stellte die Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, im Berliner Atrium der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Neuauflage von Ludwig Erhards Klassiker „Wohlstand für Alle“ vor. Wir dokumentieren nachfolgend ihre Rede.

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlich willkommen und vielen Dank an Herrn Professor Blum für die Einführung. Wenn nicht schon die Tatsache, dass Playmobil eine Ludwig-Erhard-Figur mit dem Buch „Wohlstand für Alle“ produziert hat, in einer Marktwirtschaft Beweis genug wäre für die Aktualität und Relevanz der Ideen Erhards, dann soll diese Buchvorstellung heute dazu beitragen zu zeigen, wie richtig und gut es ist, diesen Klassiker neu aufzulegen.

„Wohlstand für Alle“ wurde schnell zum geflügelten Wort und zum Bestseller: 380 Seiten stark, gegliedert in 17 übersichtliche Kapitel – und ein populäres Werk, kein wissenschaftliches. Es war nach zehn Jahren schon praktizierter Sozialer Marktwirtschaft auch eine Art Rechenschaftsbericht des Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, so hat er es selbst bezeichnet. Und zwar ein durchaus temperamentvoller und humorvoller Rechenschaftsbericht, wenn man beispielsweise an die Karikaturen denkt.

Zugleich war dieses Buch 1957 bei seinem ersten Erscheinen durchaus populär, setzte aber mit diesen Ideen auf einen Zeitgeist auf, der urspünglich gar nicht so wettbewerbs- und freiheitsfreundlich war. Denn als Ludwig Erhard mit seinem Projekt Soziale Marktwirtschaft begann – insbesondere dadurch, dass er zusätzlich zu der bereits durch die Alliierten gewollten Währungsreform eine Wirtschaftsreform anschob, nämlich die freie Preisbildung zu ermöglichen und von der Warenbewirtschaftung wegzukommen, der staatlichen Preisfestsetzung –, da musste er erstmal gegen den Zeitgeist handeln. Damals dachten viele, dass der Staat besser geeignet sei, die Verwaltung des Mangels, die richtige Verteilung der knappen Güter in der Not nach dem Zweiten Weltkrieg zu organisieren.

Es war Ludwig Erhards Überzeugung, dass die Preisbildung freigegeben werden muss, damit die Initiative, der Fleiß, die Ideen der Menschen sich wieder in einer besseren Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen auswirken können. Das war eine Art kompromissloser früher Bürokratieabbau, die zahlreichen Vorschriften abzuschaffen, mit denen damals das wirtschaftliche Leben in der Bundesrepublik organisiert war. Das war zugleich ein wichtiges Vorhaben, um dem Schwarzmarkt den Boden zu entziehen und einer freiheitlichen Ordnungspolitik den Weg zu bereiten.

Noch in ihrem Ahlener Programm misstraute damals übrigens auch die Union der Freiheit und dem Wettbewerb als den leitenden Ordnungsprinzipien und als dem ordnungspolitischen Modell für Deutschland. Spurenelemente dieses Zeitgeistes können wir in Artikel 15 Grundgesetz (Vergesellschaftung) wiederfinden, den manche in seiner Bedeutung in aktuellen Debatten über unsere Eigentumsordnung deutlich überinterpretieren.

Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft hat sozialen Frieden gebracht

Ludwig Erhard selbst überschrieb den Abschnitt zu diesem Thema, als er mit seiner Idee begann, mit „Die große Chance“. Und die hat er genutzt. Nicht Division, sondern Multiplikation des Sozialproduktes, nicht Zuteilungs- und Mangelwirtschaft, sondern Wohlstand durch Wachstum war die Formel seines Erfolges und des Erfolges der Sozialen Marktwirtschaft. Also Wohlstandsmehrung durch Expansion statt unfruchtbaren Streits über eine andere Verteilung des Sozialproduktes. Das war die Basis für den erfolgreichen Wiederaufstieg Deutschlands nach Krieg und Diktatur. Zwar wurde oft das Ende der Sozialen Marktwirtschaft ausgerufen, aber allen Unkenrufen zum Trotz hat sich die Idee dann als überlegen erwiesen. Und sie ist auch mehr als eine Wirtschaftsordnung, sie ist Teil unserer Identität geworden.

Nun ist sicherlich manches von dem, was Erhard in diesem Buch schreibt, heute nur noch für Zeithistoriker interessant. Und manche Karikaturen bedürfen der Erklärung, die aber ja in der Neuauflage dankenswerterweise vorgenommen worden ist. Aber vieles liest sich erstaunlich aktuell. Viele Passagen lesen sich wie Kommentare auf aktuelle Lagen und Herausforderungen. Vor allem Erhards zentrale Botschaft, die ist aktuell wie damals, wie eh und je: Dass an Aufschwung und wirtschaftlichem Wachstum alle teilhaben können und die Politik die Pflicht hat, dafür zu sorgen, dass dem auch so ist. Daran ist Politik auch heute zu messen.

Eine weitere wichtige Botschaft ist: Wettbewerb und Leistungswille sind soziale Kategorien. „Wohlstand für Alle“ und Wohlstand durch Wettbewerb, das gehört untrennbar zusammen für Ludwig Erhard. Das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt. So formulierte es Ludwig Erhard selbst. Schon die Väter der Sozialen Marktwirtschaft – auch über Ludwig Erhard hinaus – wussten, dass zuerst die private Leistung kommt und die Belohnung der Marktteilnehmer für ihre erbrachte Leistung und danach der soziale Ausgleich. Das ist wirtschaftlich vernünftig und führt dazu, die Innovation, den Erfindergeist, die Anstrengungsbereitschaft, die Risikobereitschaft der Menschen zum Wohlstand, zur Wohlfahrt aller bestmöglich zu nutzen.

Dieses Modell hat Deutschland einen beispiellosen sozialen Frieden gebracht, um den uns viele unserer Nachbarn und andere in der Welt beneiden.

Zugleich gilt, dass oft verkannt wird, welche Leistungen die Soziale Marktwirtschaft vollbringt, dass sie zu schnellen Anpassungen fähig ist, aber auch zu sozial verträglichen. Sie ist ein „offenes Ordnungssystem“, so betonte es 1976 Professor Alfred Müller-Armack, der viele Jahre Staatssekretär im Wirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard war, als „ein der Ausgestaltung harrender, progressiver Stilgedanke“. Das sollte, finde ich, Anlass sein, auch unter heutigen Bedingungen für aktuelle Probleme diesen progressiven Stilgedanken auszugestalten.

Eine Mentalität, die Gemeinwesen und Wohlstand gefährdet

Ludwig Erhard selbst hat geahnt, man kann es im Buch nachlesen, woher dem Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft die größte Gefahr droht. Zu den stärksten und beunruhigend aktuellen Passagen dieses Werkes gehören Erhards Warnungen vor den Folgen eines übermächtig werdenden Rufes nach kollektiver Sicherheit bei gleichzeitiger Individualisierung und gesellschaftlicher Entsolidarisierung. Die bisherige und voraussichtlich weitere Entwicklung der Pflegeversicherung ist ein anschauliches Beispiel dafür. Im Jahr 1995 als beitragsfinanzierte Umlageversicherung, die eine Teilabsicherung bieten soll, eingeführt, ist ein Bundeszuschuss hinzugekommen aus dem Bundeshaushalt und damit immer mehr Steuerbelastungen für die jüngere Generation. Statt Reformen in Form eines höheren Renteneintrittsalters und kapitalgedeckter Vorsorge hat hier immer mehr Leistungsausweitung stattgefunden.

Ludwig Erhard hat schon davor gewarnt: Unpersönliche Umverteilungsbürokratien machen eine Gesellschaft nicht menschlicher, nicht wärmer, nicht sozialer; sie stiften auch keinen sozialen Zusammenhalt. Sie rauben einer Volkswirtschaft die Luft zum Atmen und das, was sie braucht, um wettbewerbsfähig zu bleiben. In den letzten Jahren ist dieser Zusammenhang offenbar verlorengegangen. Denn wie das „Handelsblatt“ im Juli meldete, haben die Sozialausgaben in der Bundesrepublik 2019 erstmals die Eine-Billion-Euro-Schranke überschritten. Und die Sozialausgaben sind stärker gewachsen als die Wirtschaftsleistung, auch in diesen sehr starken Jahren, die wir gerade hinter uns haben, in denen eine außerordentlich hohe Wirtschaftsleistung erreicht wurde.

Das klingt danach, wovor Ludwig Erhard immer gewarnt hat: nämlich einer Mentalität Vorschub zu leisten, die in letzter Konsequenz unser Gemeinwesen und unseren Wohlstand gefährdet. Erhard sagte, wenn die Bemühungen der Sozialpolitik darauf abzielen, dem Menschen schon von der Stunde seiner Geburt an volle Sicherheit gegen alle Widrigkeiten des Lebens zu geben, „dann kann man von solchen Menschen einfach nicht mehr verlangen, dass sie das Maß an Kraft, Leistung, Initiative und anderen besten menschlichen Werten entfalten, das für das Leben und die Zukunft [der Nation] schicksalhaft ist“.

Markt und Moral

Die Soziale Marktwirtschaft und damit unser aller Wohlstand gründet sich also auf die Initiative der Persönlichkeit, auf die Initiative jedes einzelnen Menschen. Zunehmend drohen ihr weitere neue Herausforderungen und Gefahren. Deshalb lohnt es sich, nochmal zu rekapitulieren: Warum sollte „Wohlstand für Alle“ nicht nur neu aufgelegt werden, was wir heute konstatieren können, sondern auch wieder gelesen werden? Weshalb lohnt sich diese Neuauflage?

Ganz allgemein, weil es eine breite Unkenntnis gibt über wirtschaftliche Zusammenhänge. Vor allem über den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichem Wohlstand, also zwischen einer starken Wirtschaft auf der einen Seite und umfangreichen Sozial- und Solidarleistungen auf der anderen. Darüber hinaus gibt es einige fortdauernde und auch einige neue Missverständnisse, Versuchungen und Herausforderungen, die ich kurz anreißen will und die wir vielleicht gleich im Gespräch vertiefen können.

Zum einen gibt es eine allfällige moralische Kritik an der Sozialen Marktwirtschaft. Oft wird auch einfach „Marktwirtschaft“ oder „Kapitalismus“ gesagt, aber doch auch die Soziale Marktwirtschaft damit gemeint. Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass das „sozial“ vor Marktwirtschaft nicht Attribut, sondern Einschränkung sei. Dabei ist nach der Überzeugung Ludwig Erhards und anderer Schöpfer der Sozialen Marktwirtschaft die Marktwirtschaft auch an sich sozial. Und zwar dadurch, dass sie dem Ziel, Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen und zugleich die Solidarität aller Menschen bestmöglich zu verwirklichen, am nächsten kommt. Und dadurch, dass der Markt und einzelne Unternehmen ihre gesellschaftliche Aufgabe dann wahrnehmen, wenn sie eine gute Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sicherstellen, und zwar in großer Vielfalt, zu guten Preisen, in guter Qualität und innovativ. Und genau das leistet die Marktwirtschaft im Gegensatz zur Plan- und Staatswirtschaft.

Trotzdem wird diese moralische Qualität der Marktwirtschaft an sich häufig infrage gestellt, und es ist wichtig, hierüber intensiver zu diskutieren. Zugleich hat schon Erhard selbst klargemacht, dass Wirtschaft und Wohlstand kein Selbstzweck sind. Er hat in einem Schreiben an Abiturienten 1961 vor den Schattenseiten des Wohlstandes gewarnt. Und er verwies auf eine deutlich übergeordnete, ganzheitliche Orientierung, die jeder sich verschaffen müsse: „Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild für die Lebensgestaltung.“ Dass für ihn individuelles wirtschaftliches Handeln und Erfolgsstreben nicht absolut waren, dass als Parameter für sein eigenes Handeln auch eigene religiöse und moralische Überzeugungen maßgeblich waren, das bezeugen seine Aussagen zu Freiheit und Verantwortung.

Bezeichnend dafür sind beispielsweise die Kapitelüberschriften „Wirtschaftsminister, nicht Interessenvertreter“ oder „Kartelle, Feinde des Verbrauchers“. Das sind ein paar Formulierungen, die gut umreißen, inwiefern nämlich die Soziale Marktwirtschaft sozial ist, eine Art Demokratie der Verbraucher, in der der Verbraucher eine enorme Macht hat: Der Unternehmer kann nicht einfach seine entstandenen Kosten plus einen selbst definierten Gewinn zum Preis machen, sondern er muss sich ständig am Markt beweisen, ist gezwungen, seine Angebote zu optimieren, sodass sie preiswert und gut genug sind, damit die Verbraucher sie kaufen möchten.

Das verweist auch schon auf einen anderen sehr wichtigen Gedanken der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, nämlich die sogenannte Interdependenz der Ordnungen, oder konkreter gesagt: Die Marktwirtschaft dient gerade auch immateriellen Zielen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit hängen zusammen und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dass die Gedanken zur Sozialen Marktwirtschaft in kleinen Kreisen von einigen Wissenschaftlern während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur entwickelt wurden, verweist bereits darauf, dass es durchaus Zusammenhänge gibt zwischen ihren Überlegungen zu Staatswirtschaft, Kartellen, staatlicher Verwaltungswirtschaft einerseits und Diktatur und Unterdrückung von Menschen andererseits.

Die Systemfrage wurde 1989 eindeutig beantwortet

Das verweist wiederum auf ein ganz aktuelles Thema, das Professor Blum gerade mit seinen Erfahrungen aus China schon angesprochen hat, nämlich den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Freiheit. Er ist auch für den heutigen Systemwettbewerb wichtig, wenn wir an unsere Auseinandersetzung mit Staaten wie China beispielsweise denken. Es ist kein Zufall, dass es eine sehr politische Entscheidung ist, ob zum Beispiel „Wohlstand für Alle“ übersetzt wird und ob die Karikaturen im Buch zu finden sind oder nicht. Wir sollten auch bei unseren Überlegungen zum Thema Systemwettbewerb genau diesen Zusammenhang nie vergessen.

Es gab schon vor Corona eine verstärkte Lust daran, Systemfragen zu stellen und unser System – das ist sowohl die Soziale Marktwirtschaft als auch die freiheitlich demokratische Grundordnung unseres Grundgesetztes – infrage zu stellen. Ernste Kampfansagen an das Privateigentum gab es schon vor Corona. Ich denke daran, dass einige sich dahingehend geäußert haben, dass man nicht mehr als die Wohnung besitzen dürfe, in der man selbst lebt, oder dass man BMW verstaatlichen solle.

Dazu will ich nur sagen: Die Systemfrage wurde 1989 sehr eindeutig beantwortet von den Menschen im Osten unseres Landes und auch von den Menschen in Ost- und Mitteleuropa. Weil wir aber wissen, dass 1989 nicht das Ende der Geschichte war, wie es Francis Fukuyama einst prognostizierte, sind wir herausgefordert, die Leistungen, die Vorzüge der Sozialen Marktwirtschaft immer wieder neu zu beweisen und zu erläutern. Im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vor 30 Jahren war ein ganz klares Bekenntnis zur Marktwirtschaft enthalten. Im Vertragstext war auch sehr viel konkreter umschrieben, dass Privateigentum, dass Leistungswettbewerb, dass grundsätzlich volle Freizügigkeit für Arbeit, Kapital, Güter und Dienstleistungen Teil unserer Wirtschaftsordnung sind. Dazu bekannte man sich in diesem Vertrag. Offenbar hat damals die direkte Anschauung der real existierenden Planwirtschaft, die auch ich als Kind mitbekommen durfte, noch gewirkt.

Im Zuge von Corona und auch manch anderen wichtigen Herausforderungen, zum Beispiel beim Klimaschutz, gibt es allerdings noch einmal einen verstärkten Flirt mit dem Ausnahmezustand, mit der Staatswirtschaft sowie mit dem Protektionismus, die sich schon vor Corona angedeutet haben. Das Virus gibt einigen ein zusätzliches Argument. Das fordert die Verteidiger der Sozialen Marktwirtschaft besonders heraus. Winston Churchill hat einmal gesagt: „Never let a good crisis go to waste.“ Diese Devise sollten wir nicht den Feinden der Sozialen Marktwirtschaft überlassen, sondern ich finde, das sollten auch die Verteidiger der Sozialen Marktwirtschaft als Ansporn verstehen.

Es genügt also nicht, einen Saal im Bundeswirtschaftsministerium nach Ludwig Erhard zu benennen. Man muss auch eine Politik in seinem Geiste machen. Der Publizist Johannes Gross hat mal sinngemäß gesagt, das Schlimme an Opportunisten sei ihr mangelnder Sinn für Opportunität. Ich finde, das sollten sich die Verteidiger der Sozialen Marktwirtschaft in einer Zeit ernster Herausforderungen nicht nachsagen lassen. Deshalb gilt: Die Soziale Marktwirtschaft, sie ist die bessere Marktwirtschaft, aber sie muss die bessere Markt-Wirtschaft bleiben!

Deshalb ist dem Buch zu wünschen, dass es erneut und wiederholt zum Bestseller wird. Ich hoffe, dass es viele Menschen dazu inspiriert, leidenschaftliche Verteidiger der Sozialen Marktwirtschaft zu bleiben oder auch zu werden. Vielen Dank!

Zur Dokumentation der Buchvorstellung mit Redebeiträgen, Fotos und Videos.

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