Die von Bundeskanzler Olaf Scholz als „Zeitenwende“ benannte Erkenntnis, dass entgegen allen Hoffnungen Deutschland und das freie Europa wieder durch militärischen Druck und konkrete Drohungen Russlands gegen Nachbarstaaten in eine Zeit des kalten Krieges zurückgeworfen wurde, ist noch immer unvollständig verarbeitet. Jetzt könnte eine frustrierte und wütende amerikanische Bevölkerung eine Politik unterstützen, die das bisherige Konzept des Schutzes der freien Welt und ganz besonders auch des Schutzes Deutschlands in diesen Zeiten der Bedrohung sogar aus den eigenen Reihen ins Wanken bringt. Das sind fröhliche Zeiten für Herrn Putin.

Die neue Lage ist nicht mit als Sondervermögen deklarierten Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro beantwortet. Die Antworten sind fundamentaler, einschneidender und belastender. Das wird unbequem für die Politik, und es erfordert schnelle Veränderungen.

Der Grund zur Verteidigung

Wir sollten mit den prinzipiellen Fragen beginnen: Warum das alles? Was eigentlich ist der Kern der Drohung und der Grund für die Verteidigung? Ein Teil der Antworten ist zeitlos, wie ein Blick in die Regierungserklärung von Ludwig Erhard bei seinem Amtsantritt als Bundeskanzler im Jahr 1963 zeigt: „Deutschland kann sich nicht allein verteidigen, aber ohne Deutschland kann auch Europa nicht verteidigt werden. Europa kann seine Freiheit nicht ohne Amerika bewahren, aber auch Amerikas Freiheit ist im letzten von der Verteidigung Europas abhängig. Aber täuschen wir uns nicht; Abrüstung allein ist kein Allheilmittel gegen die Unruhe der Völker, gegen Spannungen und Konflikte, die die Welt erschüttern. Solange Unterdrückung und Aggression in ihren verschiedensten Ausprägungen, wie vor allem auch die Anwendung von Gewalt nicht aus dieser Welt getilgt sind, müssen die freiheitlich gesinnten Staaten imstande sein, sich wirksam zu verteidigen.“

Leider hat ganz Europa, haben alle Parteien in Deutschland bei ihrer Politik der letzten Jahrzehnte auf die Friedfertigkeit unseres autokratischen Nachbarn Russland gesetzt. Diese Politik hat Deutschlands Armee vernachlässigt und damit ausgehöhlt. Wir haben zu wenig Soldaten, uns fehlen wichtige Waffensysteme und wir haben praktisch keine Munition. Der Schutz der USA ist fragwürdig geworden, egal wer im Herbst Präsident wird.

Verteidigungs-Wirtschaft

Diese Situation erfordert auch wirtschaftliche Entscheidungen bezüglich der lange ungeliebten Rüstungsindustrie. Dazu gehören:

  • Die Benachteiligung der Finanzierung von Rüstungsunternehmen durch die Taxonomie des Green Deal in Europa muss sofort beendet werden. Hier zeigt sich, wie aberwitzig die ideologische Ausrichtung der gesamten privaten Finanzierung auf den einen Punkt der Nachhaltigkeit ist. Es ist jedenfalls absurd, dass der Staat jetzt Rüstungsunternehmen braucht, die ihre schnelle Expansion mit Hilfe von Banken finanzieren müssen, die Banken aber für genau diese Finanzierung wirtschaftlich bestraft werden, weil Rüstungsinvestitionen nicht „grün“ sind. Bisher ist deshalb noch nichts geändert worden.
  • Wir haben glücklicherweise in der Rüstungsindustrie keine Staatswirtschaft. Es ist wichtig, dass auch in diesem Feld marktwirtschaftlicher Wettbewerb um die besten und günstigsten Lösungen möglichst weitgehend erhalten wird. Andererseits braucht diese Industrie eine Berechenbarkeit des monopolistischen Kunden Staat. Wer will, dass wir unseren Munitionsbestand auf ein verteidigungsfähiges Niveau bringen und halten, muss langfristige Abnahmeverträge schließen. Die helfen zugleich, schnell die Kapazität zur Unterstützung der Ukraine zu verbessern. Bisher ist das nicht geschehen.
  • Eigentlich brauchen wir schnell eine Flexibilisierung der Arbeitsgesetze in allen Bereichen. Jedenfalls in der Industrie, die in den nächsten Monaten über die Freiheit und Sicherheit der Ukraine entscheiden wird, müssen Hürden aus dem Weg. Arbeitsregulierung, wie Stundenbegrenzungen für die tägliche Arbeit oder die Verteilung der Arbeit müssen auf Grund von Betriebsvereinbarungen oder speziellen Tarifverträgen auch in Abweichung zu den ausschweifenden Vorschriften geregelt werden können. Die Rüstungsunternehmen müssen auch privilegiert beliefert werden, sie brauchen Vorrang in der Logistik. Auch das geschieht bis heute nicht.
  • Für Privatunternehmen muss die Möglichkeit der Priorisierung von Lieferungen für die Ukraine vor anderen Kundenbestellungen genutzt werden. Bei der Luftabwehr müsste eine ägyptische Bestellung hinter einer ukrainischen zurücktreten. Bei der Munition geschieht das bis heute nicht.

Diese Aufzählung zeigt: Die ökonomischen Auswirkungen der Zeitenwende sind noch nicht verarbeitet, obwohl die Zeit drängt.

Auch für überzeugte Marktwirtschaftler und Anhänger einer strengen Fiskalpolitik wird es Herausforderungen geben. Dass die notwendige Herstellung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands ohne deutliche Erweiterung des sogenannten Sondervermögens zu Gunsten der Bundeswehr möglich ist, darf man für ausgeschlossen halten, ob es nun weitere 300 oder 400 Milliarden sein werden. Über das gesellschaftspolitische Thema Wehrpflicht will ich heute gar nicht schreiben.

Ludwig Erhards Grundsätze bestehen fort

Ich würde gern auf Ludwig Erhards Regierungserklärung zurückkommen. Seine Weitsicht kann demütig machen, sein Blick auf schmerzende Herausforderungen seiner Zeit, die uns im geeinten Deutschland nun erneut betreffen, lässt mich auch erschaudern. Aber er spricht über das wohl unvermeidliche Pendant zur Freiheit, die unbedingte Wehrhaftigkeit. Er äußert sich folgendermaßen:

„Das Nordatlantische Bündnis hat sich bewährt. Die große militärische Macht unserer Allianz hat Westeuropa geschützt und schützt es weiterhin. Die NATO bildet die Grundlage unserer Verteidigungspolitik. […] Angesichts der waffentechnischen Entwicklungen kann die NATO ihre Aufgabe jedoch nur erfüllen, wenn sie bereits im Frieden so organisiert ist, dass sie jeden Gegner davon abhält, einen Angriff zu wagen oder Erpressungen zu versuchen. Die Funktion der Waffen als Mittel der Politik hat sich in unseren Vorstellungen gewandelt. Sie sind für uns und alle friedliebenden Völker nicht mehr dazu bestimmt, einen Krieg zu führen, sondern ihn durch ihre Abschreckungskraft zu verhindern. Immer mehr werden sie ein Instrument politischer Strategie, die auf friedlichen Ausgleich gerichtet ist.

Insbesondere müssen jene Probleme gelöst werden, die sich aus der Tatsache ergeben, dass nunmehr einige Mitglieder der Allianz über eigene Kernwaffen verfügen, andere aber nicht. An der nuklearen Verteidigung müssen indessen die Bundesgenossen nach dem Grad ihrer Bedrohung und dem Grad ihrer Lasten beteiligt werden. Wir denken dabei an Formen einer gemeinsamen nuklearen Organisation und beteiligen uns an den Beratungen mit den verbündeten Mächten. Wir haben wiederholt bekundet, dass wir keine nationale Kontrolle über Kernwaffen anstreben. Wir sollten aber nicht von jeder nuklearen Beteiligung deshalb ferngehalten werden, weil wir ein geteiltes Land sind. Die Spaltung Deutschlands ist ein Unrecht. Dem darf nicht ein zweites dadurch hinzugefügt werden, dass man uns, die wir Wesentliches für das westliche Bündnis tun, die Verteidigung gegen die offene Bedrohung aus dem Osten erschwert. Solche Ansichten schwächen die Allianz, gleichzeitig bestärken sie die Sowjets, auf der Spaltung unseres Kontinents zu beharren.“

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