Dr. Horst Friedrich Wünsche
Ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter von Ludwig Erhard, Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung von 1991 bis 2007

Im nachfolgenden Beitrag setzt sich Horst Friedrich Wünsche mit dem Buch von Uwe Fuhrmann „Die Entstehung der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘ 1948/49 – Eine historische Dispositivanalyse“ auseinander.

Die nachfolgend besprochene Arbeit hat eine Reihe seriöser Förderer gefunden: Sie wurde im Januar 2016 als Dissertation beim Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin im Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften eingereicht und 2017 mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung und der Ernst-Reuter-Gesellschaft im Verlag UVK gedruckt. Die Arbeit verdient schon deshalb Beachtung, weil in ihr Behauptungen aufgestellt werden, die vielen bisher gehörten politökonomischen und ordnungspolitischen Urteilen über die Soziale Marktwirtschaft widersprechen. Auch wenn viele dieser Behauptungen einer kritischen Prüfung kaum standhalten können: Sie werden in einer Weise präsentiert und begründet, die überzeugend klingt, sodass sie vermutlich bald in Wissenschaft und Politik als Ergebnisse neuester Forschung zitiert und propagiert werden.

Zur Relevanz

Bei einem Buch, das im Jahr 2017 verspricht, einen Begriff zu erläutern, der vor siebzig Jahren geprägt wurde, liegt es nahe, zunächst nach dessen aktueller Bedeutung zu fragen. Uwe Fuhrmann rechtfertigt seine Retrospektive damit, dass der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft in Verbindung mit der unerwartet günstigen wirtschaftlichen Entwicklung Westdeutschlands nach 1948, dem sogenannten deutschen Wirtschaftswunder, stehe. Er stimmt Angela Merkel darin zu, dass die Deutschen aufgrund der Erfolgsgeschichte, die mit der Sozialen Marktwirtschaft 1948 eingeleitet wurde, heute in der „erfolgreichsten und menschenwürdigsten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ leben, die es je gegeben habe. Er merkt jedoch an, dass die Entstehungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft niemals wissenschaftlich gründlich durchleuchtet wurde, und er nimmt sich vor: „Ich werde den Beginn der öffentlichen Verwendung des Begriffs ,Soziale Marktwirtschaft‘ untersuchen, um festzustellen, wann sich daraus ein wirksamer Diskurs entwickelt hat“ (Seite 30).

Mit dieser Absicht könnte ein anspruchsvolles Forschungsprogramm zur Aufklärung von zwei Unbekannten beschrieben sein: Man könnte erwarten, dass Uwe Fuhrmann zum einen die inzwischen vergessenen politischen Motive klärt, die mit dem Begriff der Sozialen Marktwirtschaft ursprünglich verbunden waren, und dass er zum anderen die unterschiedlichen interessenpolitischen Zwecksetzungen, den „wirksamen Diskurs“, „das massive Hantieren mit dem Schlagwort Soziale Marktwirtschaft“1Vgl. Rudolf Hickel, Soziale Marktwirtschaft, in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit, Bonn 1980, Seiten 447 f. – Rudolf Hickel behauptet in diesem Beitrag, die Soziale Marktwirtschaft sei nach ihrer „machtvollen Realisierung als wirtschaftspolitische Konzeption durch Ludwig Erhard … immer wieder geänderten Interpretationen unterzogen worden“. Er fordert eine vorurteilsfreie Betrachtung der „analytisch bedeutsamen und politisch folgenreichen Alternativhypothesen“ zur Sozialen Marktwirtschaft. schildert. Uwe Fuhrmann lehnt es jedoch ab, sich mit der Ideengeschichte der Sozialen Marktwirtschaft zu befassen. Er erklärt kategorisch, dass die Suche nach einem „vermeintlichen Ursprung“ oder das Studium der verschiedenen Herkunftslinien dieser Idee nicht Gegenstand seiner Forschung seien.2Fuhrmann begründet diese Haltung mit dem Hinweis, dass sich auch Michel Foucault „gegen jegliche Suche nach einem Ursprung aussprach und der gut begründeten Meinung war, so etwas könne es nicht geben“; vgl. Seite 30, Fußnote 78. Ihm gehe es ausschließlich um „die Analyse der Entstehung des Begriffs“.

Angesichts solcher Gleichgültigkeit gegenüber dem Begriffsinhalt besteht die Gefahr, dass Fuhrmanns Untersuchung als irrelevant angesehen wird, denn: Wenn es gleichgültig ist, was mit Sozialer Marktwirtschaft bezeichnet wird, kann es auch nicht wichtig sein zu ermitteln, wann von ihr (jemals oder erstmals) gesprochen wurde. Uwe Fuhrmann begegnet diesem Einwand mit der Behauptung, dass Soziale Marktwirtschaft ein „Leerer Signifikant“ – ein Symbol für ein Ideal, beispielsweise für eine „perfekte Wirtschaftsordnung“ sei und dass sich Ideale ändern können (vgl. Seiten 333An dieser Stelle nennt er einen „Leeren Signifikanten“ auch einen „Platzhalter für das Allgemeine“. und 296 ff.). Soziale Marktwirtschaft dürfe deshalb weder als Propagandafloskel abgetan werden, weil damit „viele ihrer Dimensionen verloren gehen“, noch dürfe man sie als ein festgefügtes Programm ansehen und beispielsweise die „tausendfach reproduzierte Sicht“ vertreten, die „mit Ludwig Erhard einen genialen Schöpfer konstruiert, der ein scheinbar fertiges Konzept durchgesetzt habe“ (Seiten 16 ff.): Jegliche „Wandlung“ werde aus der Betrachtung ausgeschlossen, wenn nur der eine, der Erhard’sche Weg zu „Wohlstand für alle“ und sozialer Zufriedenheit als der richtige angesehen wird.

Mit diesen Hinweisen wird deutlich, dass es Uwe Fuhrmann keineswegs nur darum geht, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem ein „wirksamer Diskurs“ über den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft begann. Er will vielmehr nachweisen, dass der Begriff schon bei seiner Einführung 1948/49 anders ausgeprägt, vielleicht auch von anderen politischen Kräften okkupiert wurde, als bisher angenommen wird. Angesichts der vielen ordnungspolitischen Experimente, die in Deutschland in den vergangenen sieben Jahrzehnten unter dem Titel der Sozialen Marktwirtschaft durchgeführt wurden, und der ordnungstheoretischen und ordnungspolitischen Unsicherheiten, die damit entstanden sind, dürfte es nicht nur historisch interessant, sondern auch für die aktuelle Politik bedeutsam sein, sich auf die Kräfte zu besinnen und akkurat zu bestimmen, was und wer der Wirtschaftspolitik 1948/49 den Weg zum „deutschen Wirtschaftswunder“ gewiesen hat. – Wie also lautet der Befund von Uwe Fuhrmann?

Der Inhalt

Uwe Fuhrmann teilt die von ihm gewählte Untersuchungsperiode 1948/49 in zwei Zeitabschnitte, die durch die Währungs- und Wirtschaftsreform am 20. Juni 1948 getrennt werden. In beiden Abschnitten protokolliert er die in der Bizone bestehenden „Notstände“:

  • Im ersten Abschnitt beschreibt er die zunehmenden Versorgungsschwierigkeiten: den Hunger, den Mangel an Kohlen und die Wohnungsnot, die erbärmlich funktionierende Bewirtschaftung und den blühenden Schwarzmarkt sowie die Spannungen und Konflikte, die dadurch verursacht wurden und die sich seit 1947 in Massenprotesten niedergeschlagen haben.

Er stellt fest: „Nicht die schlechte Gesamtsituation an sich erregte die Gemüter, sondern die trotz Bezugsscheinen oft ungleiche Verteilung der vorhandenen Lebensmittel und die Inkompetenz oder Unwilligkeit der deutschen Behörden und der alliierten Stellen, die Lage im Rahmen des Möglichen zu verbessern. Ernährungskonflikte standen … stellvertretend für ,Positionskämpfe um die zukünftige gesamtgesellschaftliche Aufteilung der Lohn- und Einkommensanteile‘ und für Kämpfe um ,innerbetriebliche Machtbeziehungen‘“ (Seiten 86 f.). Dementsprechend ausführlich beschreibt er die antikapitalistische Grundstimmung, die sich in der Bevölkerung entwickelt hat, und den Kampf um schonungslose Entnazifizierung sowie die vergeblichen Bemühungen um Sozialisierung bzw. Demokratisierung der Wirtschaft und um Mitbestimmung. Er stimmt denen zu, die „das Bild einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft zeichnen, die sich zunehmend in Konflikt mit der staatlichen Ordnung und dem von der Militärregierung verordnetem System befinden“ (Seite 118).

  • Im zweiten Abschnitt befasst er sich fast ausschließlich mit den Preissteigerungen für Güter des täglichen Bedarfs, die nach der Währungsreform eingetreten sind, sowie mit dem Lohnstopp, der erst viereinhalb Monate nach der Währungsreform, am 3. November 1948, aufgehoben wurde. Er beschreibt, wie sich die zunächst „spontan und wütend“ vorgetragenen Proteste von lokalen zu flächendeckenden Streiks und Demonstrationen ausgeweitet haben und wie Resolutionen verfasst wurden, die von Ludwig Erhard verlangten, „eine planvolle Bewirtschaftung der wichtigsten Bedarfsgüter“ durchzuführen.

Anders als in nahezu allen anderen, bisher vorgelegten Kommentaren und Berichten sieht Fuhrmann in dem am 12. November 1948 in der Bizone durchgeführten Generalstreik nicht den Kulminationspunkt der Unmutsbekundungen, Proteste, Kundgebungen und Demonstrationen, die nach der Währungsreform gegen die hohen und steigenden Preise und die zu geringen Löhne geführt wurden. Er weist vielmehr darauf hin, dass der damalige Streikaufruf des DGB „eine planwirtschaftliche und wirtschaftsdemokratische Umgestaltung der westdeutschen Wirtschaft“ gefordert habe: Im Ernährungssektor sollte die volle Erfassung und Bewirtschaftung wiederhergestellt werden. Die Grundstoffindustrien und die Kreditinstitute sollten in Gemeineigentum überführt und im gewerblich-industriellen Sektor sollte Planung und Lenkung eingeführt werden. Darüber hinaus wurde „pauschal die Demokratisierung der Wirtschaft und die gleichberechtigte Mitwirkung der Gewerkschaften verlangt“ (Seite 216). Der Streik am 12. November 1948 sei mithin ein politischer Streik gewesen. Die Militärregierung habe ihn nur deshalb genehmigt, weil sie nach Gesprächen mit Hans Böckler4Dass es diesbezüglich auch Aussprachen und Verabredungen zwischen Ludwig Erhard und Hans Böckler gab, die sich gut kannten und geschätzt haben (beide waren in Fürth aufgewachsen), deutet Fuhrmann nur an (vgl. Seite 221). zur irrtümlichen Ansicht gekommen war, dass dieser Streik gewerkschaftlichen und keinen politischen Charakter habe und damit als „eine deutsche Angelegenheit“ zu behandeln sei (Seite 221).

Fuhrmann behauptet, die Politik habe auf die beiden Notstände, die er beschreibt, zwei unterschiedliche Antworten gegeben:5In den Kapiteln 6 und 8 (Seiten 121 ff. und 231 ff.), in denen diese Antworten beschrieben werden, wird deutlich, dass Uwe Fuhrmann unter „Dispositiven“ Konzepte, Konzeptionen und Programme versteht, mit denen politische Herausforderungen bewältigt werden sollen. Im Anschluss an Michel Foucault betont er, dass in diesen Dispositiven möglichst alle erkennbaren Details als unterschiedslos wichtig angesehen werden sollten und dass dabei nicht nur „diskursive“, sondern auch „nicht diskursive“ Elemente berücksichtigt werden müssten.

  • Im Hinblick auf die akuten Versorgungsprobleme habe sich – zunächst in der „akademischen Fachdiskussion“ und den politischen Diskussionszirkeln, alsbald aber auch in den maßgebenden alliierten und deutschen Entscheidungsgremien – die Auffassung durchgesetzt, dass das überkommene Bewirtschaftungssystem gescheitert sei und durch einen neuen politischen Ansatz ersetzt werden müsse. Inspiriert durch den Ordoliberalen Leonhard Miksch habe sich Ludwig Erhard dieser Ansicht angeschlossen. Er habe – schreibt Fuhrmann – das von Leonhard Miksch verfasste Leitsätzegesetz6Leonhard Miksch war seit Juli 1946 im Zentralamt für Wirtschaft der britischen Besatzungszone, später im bizonalen Verwaltungsamt in Minden tätig. Nachdem sich Erhard bei der alliierten Militärverwaltung mit der Forderung durchgesetzt hatte, dass die bizonale Wirtschaftsverwaltung nicht in der britischen, sondern in der amerikanischen Zone angesiedelt werden müsse, wurde Miksch in die Frankfurter Behörde übernommen. Nach Erhards Aussage war Miksch seit Februar 1948 Erhards „enger Mitarbeiter“ (Erhard war allerdings erst am 2. März 1948 zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft gewählt worden). Als Leiter des Referats II B 1: „Preiswirtschaftliche Grundsatzfragen und Betriebswirtschaft“ der Verwaltung für Wirtschaft hat Miksch an der Formulierung des Leitsätzegesetzes mitgewirkt. Bei der Erarbeitung dieses Gesetzes wurde auf Formulierungen zurückgegriffen, die Erhard bereits 1942 verwendet hat, beispielsweise auf die Aussage, dass in der zukünftigen Wirtschaftsordnung der „freien Preisbildung gegenüber einer starren Preisbindung grundsätzlich der Vorzug gebührt“. Im Gesetz über die Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform heißt das zentrale Postulat fast wortgleich: „Der Freigabe der Preise ist vor der behördlichen Festsetzung der Vorzug zu geben.“ benutzt, um am Tage der Währungsreform die Preise freizugeben. Mit dieser Freigabe habe Erhard am 20. Juni 1948 in der Bizone die „freie Marktwirtschaft“ eingeführt.

Fuhrmann zufolge war der Erfolg der Erhard’schen Wirtschaftsreform – der viel gerühmte Schaufenster-Effekt – in sozialer Hinsicht höchst fragwürdig. Er schreibt: „Im Juni 1948 wurde nicht nur eine Währungsreform durchgeführt, sondern auch versucht, das Wirtschaftssystem auf eine Marktwirtschaft umzustellen. Dieser Versuch gelang zunächst im Wesentlichen, indem parallel zur Währungsreform durch das Leitsätzegesetz und weitere Maßnahmen der rechtliche Rahmen geschaffen wurde, wichtige Preisfixierungen und die dazugehörige Bewirtschaftung aufzuheben. Das in diesen Maßnahmen enthaltene Versprechen an die Wirtschaftsakteure aus Produktion und Handel, durch ihre Rückkehr auf den legalen Markt gutes Geld zu verdienen, wurde in ausreichendem Maße geglaubt, um einen verhältnismäßig erfolgreichen Start der neuen Währung zu ermöglichen“ (Seite 143).

  • Angesichts der massiven Proteste gegen die Preissteigerungen, die unmittelbar nach der Währungsreform auftraten, musste Erhards Entscheidung für die freie Marktwirtschaft revidiert – Fuhrmann sagt: „modifiziert“ – werden. Fuhrmann sieht in Erhards erstmaliger Verwendung des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft am 17. August 1948 ein Indiz für Erhards Wende von der „freien“ zur „sozialen“ Marktwirtschaft, und er hält diese Wende für schwer korrigierbar, denn Erhard habe „durch die Erwähnung der ,sozialen Marktwirtschaft‘ Geister angerufen, die er fortan nicht wieder los wurde“ (Seite 307).7An dieser Stelle erwähnt Uwe Fuhrmann die beiden Synonyme, die Erhard 1948 zur Bezeichnung seiner ordnungspolitischen Vorstellung verwendet hat: „Marktwirtschaft moderner Prägung“ und „sozial verpflichtete Marktwirtschaft“. Seine Maßnahmen – vor allem das Gesetz gegen Preistreiberei und das Jedermann-Programm – seien zwar wirkungsvoll gewesen; sie haben den Preisauftrieb gestoppt, aber gerade das und der Umstand, dass sich diese Maßnahmen nicht mit dem Begriff der freien Marktwirtschaft vereinbaren ließen, hat weiteren interventionistischen Forderungen den Weg geebnet.

Fuhrmann schreibt: Nach Erhards Abwendung von der freien und seiner Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft konnte die freie Marktwirtschaft nicht mehr als sozial, sondern nur noch als effizient angesehen werden, und die Tätigkeit des Staates konnte nicht mehr darauf beschränkt werden, Wettbewerb zu ermöglichen; vielmehr galt es hinfort als Staatsaufgabe, das marktwirtschaftliche Geschehen sozial abzufedern.

Das Fazit

Nach Fuhrmanns Darstellung wurde die im Juni 1948 von Ludwig Erhard eingeführte freie Marktwirtschaft schon im August 1948 – und das wiederum durch Ludwig Erhard – zur Sozialen Marktwirtschaft umgewandelt. Uwe Fuhrmann behauptet, die im Rahmen dieser Umwandlung durchgeführten, erst preispolitischen, später (mit dem Jedermann-Programm) produktionspolitischen Interventionen hätten auf keinerlei systematisch bedachter ordnungspolitischer Konzeption beruht; sie seien ein pragmatischer Kompromiss gewesen – man muss wohl präziser sagen: ein populistischer Kompromiss, denn dieser Sichtweise entsprechend ist es damals in erster Linie darum gegangen, eine zu Millionen protestierende, aufrührerische Bevölkerung zu beschwichtigen. Fuhrmann beschreibt die Schwere dieser Aufgabe, indem er die halbherzige, gelegentlich auch verzagte Haltung der Gewerkschaften und die Hilflosigkeit der Militärgouverneure an Beispielen illustriert.

Dieses Ergebnis aufgreifend, schreibt Uwe Fuhrmann in einem Epilog, dass es bis heute bei diesem, damals gefundenem Kompromiss geblieben sei: Bei der Sozialen Marktwirtschaft handle es sich noch immer um einen „Leeren Signifikanten“ – um ein Symbol, in dem „zwei konträre Überzeugungen Platz haben, denn mit diesem Begriff können sich einerseits diejenigen identifizieren, die davon ausgehen, dass eine ,Marktwirtschaft‘ neben vielen Vorteilen auch immer unsoziale Folgen habe, diese aber in einer so bezeichneten Wirtschafts- und Sozialordnung ,sozial‘ abgefedert würden. Andererseits ermögliche sie auch denjenigen ein Bekenntnis, die meinen, ,Soziale Marktwirtschaft‘ bringe lediglich zum Ausdruck, dass eine ,Marktwirtschaft‘ als solche bereits ,sozial‘ wirken würde (und die Ergänzung ,sozial‘ strenggenommen überflüssig sei)“ (Seite 330).

Aus Sicht der praktischen Politik ist dieses Ergebnis empörend dürftig, denn es hilft nicht, die grundsätzlichen Fragen zu lösen, die in der Politik gelöst werden müssen: Wie kann mit einer Formel, die „zwei konträre Überzeugungen“ umfasst, konkrete Politik gestaltet werden? Wie kann ein janusköpfiges Symbol in ein eindeutiges politisches Postulat umgeprägt werden? Und wenn der Begriff Soziale Marktwirtschaft nicht als politisches Programm operativ eingesetzt, also nur plakativ verwendet werden kann: Wie lässt sich erreichen, dass angesichts der damit begründeten nur vagen Bekundungen, der Halbheiten, Hinhaltungen und Vertröstungen, denen keine politischen Entscheidungen folgen, die Enttäuschung der Bevölkerung nicht wächst und kein massenhafter Unmut, Verdrossenheit und Empörung entstehen? – Ludwig Erhard und Leonhard Miksch haben sich im Sommer 1948 diese Fragen stellen und sie beantworten müssen. Offensichtlich kann Uwe Fuhrmann mit dem Werkzeug, mit dem er arbeitet, mit seiner „historischen Dispositivanalyse“, keine überzeugenden Antworten finden.

Die Methode

Fuhrmann schreibt, seine Untersuchungsmethode, die „historische Dispositivanalyse“, sei von Michel Foucault8Michel Foucault war ein Soziologe, der Erhards Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mit großem Verständnis interpretiert und unter anderem darauf hingewiesen hat, dass Erhard mit seiner Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, insbesondere mit seiner Betonung der Zusammengehörigkeit von Freiheit und Verantwortung, auf die engen Grenzen von staatlichen Interventionen und auf die Notwendigkeit hingewiesen habe, dass in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung jede bürokratische Maßnahme gründlich legitimiert werden müsse. Vgl. Michel Foucault, Neoliberale Gouvernementalität I: Die soziale Marktwirtschaft, Vorlesung am 31. Januar 1979, abgedruckt in: Michel Foucault, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Berlin 2010, Seiten 146 ff. begründet und von vielen bedeutenden Wissenschaftlern, darunter Giorgio Agamben, Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas, fortentwickelt worden. Er sieht in ihr eine moderne, allerdings „noch nicht vollständig etablierte Methode“, die gegenüber den üblichen wirtschaftshistorischen Untersuchungsmethoden einige Vorteile habe. Beispielsweise würden in ihr Sachverhalte generell nicht als logische, zwangsläufige oder alternativlose Entwicklungen beschrieben, sondern als offene Prozesse dargestellt. Den Akteuren würde kein „vermeintlich großer Einfluss“ unterstellt. Ihnen werde auch kein unbegrenzter Handlungsspielraum zugeordnet, und ihre Handlungen würden nicht „mythisch verdichtet, wie dies insbesondere an der Person Ludwig Erhards festzustellen“ sei. Vor allem aber werde „die historische Kontingenz“ von Situationen und Programmen, das heißt: deren Unbeständigkeit und die Möglichkeit von plötzlichen, unvorhersehbaren Wandlungen berücksichtigt (Seite 15). – Wie werden diese Vorzüge in der vorliegenden Studie genutzt?

Fuhrmann geht sicherlich zurecht davon aus, dass die Methode der Dispositivanalyse nur wenigen Lesern „geläufig sein dürfte“, zumal sie „eine wenig erprobte Handlungsweise“ und „auch in den einschlägigen Wissenschaften keinesfalls kanonisiert“ sei. Er bemüht sich, die Theorie zu erläutern, auf der seine Analysemethode beruht. Doch seine Darlegungen, vor allem die vagen Begriffsbestimmungen,9Ein gravierendes Beispiel hierfür ist die von Uwe Fuhrmann auf Seite 14 vorgetragene Definition „zum zentralen Begriff ,Dispositiv‘: „Ein Dispositiv kann als Gesamtheit verschiedener Elemente gelten, die einem bestimmten Themenbereich zugeordnet werden. Foucault spricht von einem ,Netz‘, das zwischen ihnen besteht. Als einige solcher Elemente sind Aussagen, Diskurse, Lehrsätze, Architekturen, Praxen oder Gesetze zu nennen.“ die er vorträgt, sind wenig erhellend, und dies auch deshalb, weil sein Buch irritierende methodologische Aussagen enthält. Uwe Fuhrmann entschuldigt sich beispielsweise zu Beginn seiner Ausführungen dafür, dass er mit seiner Untersuchung „einen gewissen Methodeneklektizismus nutze, um ein dem Gegenstand angemessenes, schlüssiges und anwendbares Konzept zu entwickeln“ (Seite 13). Möglicherweise irrt er sich: Die Methode, die er nutzt und die er „historische Dispositivanalyse“ nennt, scheint nicht aus verschiedenen, zusammengewürfelten Methoden zu bestehen. Sie ist kein Methodeneklektizismus, sondern allenfalls eine Erweiterung der in der neoklassischen Ökonomie üblicherweise angewendeten deduktiven Methode.10Die von Uwe Fuhrmann gewählte Bezeichnung „historische“ Dispositivanalyse wäre damit unzutreffend.

Fuhrmann meint – und er meint auch das zweifellos zurecht –, dass sich wirtschaftshistorische Sachverhalte gründlicher verstehen lassen, wenn sie genauer und in mehr Einzelheiten erfasst und analysiert werden. So gesehen ist sein Versuch, sich von Forschungsansätzen abzusetzen, die nur einzelne ausgewählte Hypothesen untersuchen und alles in der Wirklichkeit darüber hinaus Beobachtbare als Störfaktoren aus ihren modelltheoretischen Konstruktionen ausblenden, verständlich und lobenswert.11Sicherlich „lobenswert“ ist diese Haltung aus Sicht von Ludwig Erhard: Erhard hat sich lebenslang zur Historischen Schule der Nationalökonomie bekannt, und er stand damit der neoklassischen Ökonomie grundsätzlich skeptisch und kritisch gegenüber. Vgl. Horst Friedrich Wünsche, Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft: Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen, Reinbek 2015. Doch die sorglose Verwendung von leicht erkennbar nebensächlichen Sachverhalten zur Erklärung von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen sowie Fuhrmanns Neigung, möglichst viele bislang unberücksichtigt gelassene Sachverhalte und Akteure in seine Überlegungen einzubeziehen, können nicht als hinreichende Grundlage seriöser Forschung akzeptiert werden, zumal dann nicht, wenn die ausschweifende Betrachtung von Nebensächlichem dazu führt, dass Wichtiges unbeachtet bleibt.

Fuhrmann will mit seinen Forschungen keine neuen Erkenntnisse gewinnen und auch keine vorhandenen Forschungsergebnisse ergänzen, um den Erkenntnisstand in Sachen Sozialer Marktwirtschaft voranzubringen. Sein Anliegen ist, seine Sicht der Dinge – seine Meinungen, Vermutungen und Spekulationen – in ein schlüssiges Konzept einzubetten. Erkenntnistheoretisch gesagt: Er will Hypothesen rechtfertigen, und hierzu bietet die Dispositivanalyse viel Raum, den er ungeniert nutzt: Er verweist auf bislang noch kaum bedachte Umstände und erklärt sie zu schlüsselhaft wichtigen Geschehnissen, und er referiert die Ansichten von gewiss honorablen, letztlich aber gescheiterten und ungehört verblichenen Persönlichkeiten.12Fuhrmann stellt beispielsweise den Unternehmer Hermann Reusch vor (Seiten 112 ff.), der sich – ähnlich wie es Hugo Stinnes und Carl Legien im November 1918 getan haben – für ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Arbeitgebern und Gewerkschaften eingesetzt hat, um eine Entwicklung zum Klassenkampf zu vermeiden. Oder Maria Sevenich (Seiten 128 f.), die eine konsequente Verwirklichung des Ahlener Programms der CDU verlangt hat und im Mai 1948 aus der Partei austrat, weil sie Konrad Adenauer zur Fraktionsdisziplin aufgefordert hatte. Oder den Polizeipräsidenten z.D. Nölle, der angesichts der „steigenden Kurve der Demonstrationen, Streiks, Versammlungsstörungen, unsachlichen Pressefehden und Verhetzungsreden“ eine bessere Ausrüstung der deutschen Polizeiverbände gefordert hat. Derartige Verzettelungen könnten hingenommen werden, wenn sie als kurzweilige Zugaben ausgestaltet wären. Aber Fuhrmann nutzt sie einseitig, um seine Interpretationen zu illuminieren und ihr entgegen stehende Ansichten zu überblenden.

In dieser Weise behandelt er auch Leonhard Miksch und Ludwig Erhard: Erhard wird die Rolle eines dogmatischen Vertreters einer freien Marktwirtschaft zugewiesen; Miksch erscheint als bedeutende, bislang unterschätzte Leitfigur in der deutschen Wiederaufbaupolitik. Er wird zunächst als „Inspirator“ von Erhards Dogmatismus und als „,Masterbrain‘ der Verwaltung für Wirtschaft“ (Seite 144), später als „treibende Kraft“ sowie als „Repräsentant des ordoliberalen Kurses innerhalb der Verwaltung für Wirtschaft“ (Seiten 162 und 291) vorgestellt. Miksch habe jedoch frühzeitig die Verwerfungen erkannt, die in einer freien Marktwirtschaft entstehen, und soziale Korrekturen gefordert. Er sei damit in Widerspruch zu Erhard geraten, doch Erhard sei schließlich den Weisungen von Miksch gefolgt.

Fuhrmann erklärt hierzu: „Zwischen Ludwig Erhards Neoliberalismus und dem ordoliberalen Kurs, wie er innerhalb der Verwaltung für Wirtschaft vor allem von Leonhard Miksch repräsentiert wurde, deuteten sich … schon kurz vor der Währungsreform Diskrepanzen an. Die Interventionen von Miksch, der entgegen der Politik Erhards eher die möglichen Folgen der Preisfreigabe berücksichtigen wollte, verfingen zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht. Während Erhard den Markt als ,sozial an sich‘ deklarierte, war sich Miksch durchaus bewusst, dass zu einer neuartigen Wirtschaftspolitik mehr gehörte als Freiheit für den Warentausch, namentlich ein wirtschafts- und sozialpolitisch reflektiertes Handeln des Staates. Das Leitsätzegesetz war von Miksch als Baustein für eine sozial verantwortliche, staatlich gerahmte Marktwirtschaft gedacht, wurde aber von Erhard als ,freie Marktwirtschaft‘ umgesetzt“ (Seite 163).

Blinde Flecken

Ein besonders auffälliger Mangel in Fuhrmanns Arbeit ist, dass er stark abstrahiert und seine Aussagen nicht kritisch reflektiert bzw. sie im Hinblick auf die wirtschaftspolitische Praxis nicht konkretisiert. Er spricht beispielsweise in der soeben zitierten Passage von „Freiheit für den Warentausch“, die ein Merkmal der „neuartigen Wirtschaftspolitik“ sei. An zahlreichen Stellen seiner Arbeit identifiziert er die im Juni 1948 erfolgte Preisfreigabe noch deutlicher als Maßnahme zur „Einführung der freien Marktwirtschaft“. Doch weder Erhard noch Miksch haben in der Freigabe der Preise die Einführung eines neuen Wirtschaftssystems gesehen. Ihnen ging es bei der Freigabe der Preise in erster Linie darum, die rein technische Marktfunktion zu reaktivieren, die mit den Preisbindungen nach 1936 ausgeschaltet wurde: Sie wollten erreichen, dass auf möglichst vielen Märkten „ganz ohne Zutun einer übergeordneten Instanz“ Marktgleichgewichte geschaffen werden. Und die Maßnahmen, die nach der Währungsreform mit dem Gesetz gegen Preistreiberei und dem Jedermann-Programm getroffen wurden, zielten in die gleiche Richtung.

Erhard hat in seiner 1943/44 geschriebenen Denkschrift „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“ und als Leiter der „Sonderstelle Geld und Kredit“ Art und Umfang der durch den Preisstopp und die nationalsozialistische Kriegsfinanzierung entstandenen Ungleichgewichte gründlich ausgeleuchtet. Und Miksch hat in einem im Dezember 1947 geschriebenen Artikel festgehalten: „Die Herstellung eines Marktgleichgewichts ist eine unbedingte Notwendigkeit, deren Anerkennung unabhängig ist von den wirtschaftspolitischen Vorstellungen über die künftige Marktverfassung.“13Leonhard Miksch, Preispolitik und Währung, in: Der Wirtschaftsspiegel, 15. Dezember 1947, Seite 480. Ein Gegensatz in den wirtschaftspolitischen Anschauungen von Erhard und Miksch, wie ihn Fuhrmann konstruiert, lässt sich nicht feststellen: Beide haben den Marktmechanismus rekonstruieren wollen. Auch der Ansicht von Fuhrmann, dass Erhard ein „dogmatischer Neoliberaler“ gewesen sei, während Miksch eine sozial verantwortliche Wirtschaftspolitik angestrebt habe, kann nicht zugestimmt werden: Miksch hat eine behutsame Preisfreigabe als sozial erforderlich angesehen, aber auch Erhard hat in den Auseinandersetzungen, die er 1948/49 mit den Anhängern von Planwirtschaft und Wirtschaftslenkung geführt hat, fortgesetzt betont, dass seine Wirtschaftspolitik sozialer sei als alle anderen damals vertretenen Konzepte und Programme, weil sie sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Verbraucher orientiert.

Überdies ist schon im ersten Entwurf des Leitsätzegesetzes die Bedeutung des Sozialen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung deutlich hervorgehoben: „Ökonomische und soziale Notwendigkeiten gehen Hand in Hand, da eine bessere Versorgung der breiten Masse nicht ohne Anspannung aller produktiven Kräfte, eine vollständige Ausnutzung aller produktiven Kräfte nicht ohne bessere Versorgung der breiten Masse möglich ist.“14Vgl. Grundsätze der Wirtschaftspolitik für die der Währungsreform folgende Übergangsperiode (Entwurf ohne Datum), in: Bundesarchiv Koblenz, Z8/223, Blatt 7. Die zitierte Passage wurde unverändert in das am 7. Juli 1948 im Gesetz- und Verordnungsblatt des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes abgedruckte Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform übernommen. Und Erhards Bekenntnis bei seiner erstmaligen Verwendung des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft“ geht in genau diese Richtung. Es lautet: „Ich nehme für mich in Anspruch, nichts anderes zu wollen und nichts anderes zu erstreben, als durch eine soziale Marktwirtschaft ein Maximum an Lebensmöglichkeiten und ein Maximum an Lebenssicherung für unser Volk sicherzustellen. Und keine Verleumdung und keine Intrige können mich davon abhalten, streng an dieser Linie festzuhalten.“15Vgl. Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, Wörtlicher Bericht über die 20. Vollversammlung am 17., 19. und 20. August 1948 in Frankfurt am Main, Seite 799. Womit Erhard gesagt hat: Es ist noch viel zu tun, um die Soziale Marktwirtschaft zu verwirklichen, und ich habe dafür klare konzeptionelle und programmatische Vorstellungen.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, herausgegeben von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, ISSN 2366-021X

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Fussnoten

  • 1
    Vgl. Rudolf Hickel, Soziale Marktwirtschaft, in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit, Bonn 1980, Seiten 447 f. – Rudolf Hickel behauptet in diesem Beitrag, die Soziale Marktwirtschaft sei nach ihrer „machtvollen Realisierung als wirtschaftspolitische Konzeption durch Ludwig Erhard … immer wieder geänderten Interpretationen unterzogen worden“. Er fordert eine vorurteilsfreie Betrachtung der „analytisch bedeutsamen und politisch folgenreichen Alternativhypothesen“ zur Sozialen Marktwirtschaft.
  • 2
    Fuhrmann begründet diese Haltung mit dem Hinweis, dass sich auch Michel Foucault „gegen jegliche Suche nach einem Ursprung aussprach und der gut begründeten Meinung war, so etwas könne es nicht geben“; vgl. Seite 30, Fußnote 78.
  • 3
    An dieser Stelle nennt er einen „Leeren Signifikanten“ auch einen „Platzhalter für das Allgemeine“.
  • 4
    Dass es diesbezüglich auch Aussprachen und Verabredungen zwischen Ludwig Erhard und Hans Böckler gab, die sich gut kannten und geschätzt haben (beide waren in Fürth aufgewachsen), deutet Fuhrmann nur an (vgl. Seite 221).
  • 5
    In den Kapiteln 6 und 8 (Seiten 121 ff. und 231 ff.), in denen diese Antworten beschrieben werden, wird deutlich, dass Uwe Fuhrmann unter „Dispositiven“ Konzepte, Konzeptionen und Programme versteht, mit denen politische Herausforderungen bewältigt werden sollen. Im Anschluss an Michel Foucault betont er, dass in diesen Dispositiven möglichst alle erkennbaren Details als unterschiedslos wichtig angesehen werden sollten und dass dabei nicht nur „diskursive“, sondern auch „nicht diskursive“ Elemente berücksichtigt werden müssten.
  • 6
    Leonhard Miksch war seit Juli 1946 im Zentralamt für Wirtschaft der britischen Besatzungszone, später im bizonalen Verwaltungsamt in Minden tätig. Nachdem sich Erhard bei der alliierten Militärverwaltung mit der Forderung durchgesetzt hatte, dass die bizonale Wirtschaftsverwaltung nicht in der britischen, sondern in der amerikanischen Zone angesiedelt werden müsse, wurde Miksch in die Frankfurter Behörde übernommen. Nach Erhards Aussage war Miksch seit Februar 1948 Erhards „enger Mitarbeiter“ (Erhard war allerdings erst am 2. März 1948 zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft gewählt worden). Als Leiter des Referats II B 1: „Preiswirtschaftliche Grundsatzfragen und Betriebswirtschaft“ der Verwaltung für Wirtschaft hat Miksch an der Formulierung des Leitsätzegesetzes mitgewirkt. Bei der Erarbeitung dieses Gesetzes wurde auf Formulierungen zurückgegriffen, die Erhard bereits 1942 verwendet hat, beispielsweise auf die Aussage, dass in der zukünftigen Wirtschaftsordnung der „freien Preisbildung gegenüber einer starren Preisbindung grundsätzlich der Vorzug gebührt“. Im Gesetz über die Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform heißt das zentrale Postulat fast wortgleich: „Der Freigabe der Preise ist vor der behördlichen Festsetzung der Vorzug zu geben.“
  • 7
    An dieser Stelle erwähnt Uwe Fuhrmann die beiden Synonyme, die Erhard 1948 zur Bezeichnung seiner ordnungspolitischen Vorstellung verwendet hat: „Marktwirtschaft moderner Prägung“ und „sozial verpflichtete Marktwirtschaft“.
  • 8
    Michel Foucault war ein Soziologe, der Erhards Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mit großem Verständnis interpretiert und unter anderem darauf hingewiesen hat, dass Erhard mit seiner Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, insbesondere mit seiner Betonung der Zusammengehörigkeit von Freiheit und Verantwortung, auf die engen Grenzen von staatlichen Interventionen und auf die Notwendigkeit hingewiesen habe, dass in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung jede bürokratische Maßnahme gründlich legitimiert werden müsse. Vgl. Michel Foucault, Neoliberale Gouvernementalität I: Die soziale Marktwirtschaft, Vorlesung am 31. Januar 1979, abgedruckt in: Michel Foucault, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Berlin 2010, Seiten 146 ff.
  • 9
    Ein gravierendes Beispiel hierfür ist die von Uwe Fuhrmann auf Seite 14 vorgetragene Definition „zum zentralen Begriff ,Dispositiv‘: „Ein Dispositiv kann als Gesamtheit verschiedener Elemente gelten, die einem bestimmten Themenbereich zugeordnet werden. Foucault spricht von einem ,Netz‘, das zwischen ihnen besteht. Als einige solcher Elemente sind Aussagen, Diskurse, Lehrsätze, Architekturen, Praxen oder Gesetze zu nennen.“
  • 10
    Die von Uwe Fuhrmann gewählte Bezeichnung „historische“ Dispositivanalyse wäre damit unzutreffend.
  • 11
    Sicherlich „lobenswert“ ist diese Haltung aus Sicht von Ludwig Erhard: Erhard hat sich lebenslang zur Historischen Schule der Nationalökonomie bekannt, und er stand damit der neoklassischen Ökonomie grundsätzlich skeptisch und kritisch gegenüber. Vgl. Horst Friedrich Wünsche, Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft: Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen, Reinbek 2015.
  • 12
    Fuhrmann stellt beispielsweise den Unternehmer Hermann Reusch vor (Seiten 112 ff.), der sich – ähnlich wie es Hugo Stinnes und Carl Legien im November 1918 getan haben – für ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Arbeitgebern und Gewerkschaften eingesetzt hat, um eine Entwicklung zum Klassenkampf zu vermeiden. Oder Maria Sevenich (Seiten 128 f.), die eine konsequente Verwirklichung des Ahlener Programms der CDU verlangt hat und im Mai 1948 aus der Partei austrat, weil sie Konrad Adenauer zur Fraktionsdisziplin aufgefordert hatte. Oder den Polizeipräsidenten z.D. Nölle, der angesichts der „steigenden Kurve der Demonstrationen, Streiks, Versammlungsstörungen, unsachlichen Pressefehden und Verhetzungsreden“ eine bessere Ausrüstung der deutschen Polizeiverbände gefordert hat.
  • 13
    Leonhard Miksch, Preispolitik und Währung, in: Der Wirtschaftsspiegel, 15. Dezember 1947, Seite 480.
  • 14
    Vgl. Grundsätze der Wirtschaftspolitik für die der Währungsreform folgende Übergangsperiode (Entwurf ohne Datum), in: Bundesarchiv Koblenz, Z8/223, Blatt 7. Die zitierte Passage wurde unverändert in das am 7. Juli 1948 im Gesetz- und Verordnungsblatt des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes abgedruckte Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform übernommen.
  • 15
    Vgl. Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, Wörtlicher Bericht über die 20. Vollversammlung am 17., 19. und 20. August 1948 in Frankfurt am Main, Seite 799.
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Fussnoten

  • 1
    Vgl. Rudolf Hickel, Soziale Marktwirtschaft, in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit, Bonn 1980, Seiten 447 f. – Rudolf Hickel behauptet in diesem Beitrag, die Soziale Marktwirtschaft sei nach ihrer „machtvollen Realisierung als wirtschaftspolitische Konzeption durch Ludwig Erhard … immer wieder geänderten Interpretationen unterzogen worden“. Er fordert eine vorurteilsfreie Betrachtung der „analytisch bedeutsamen und politisch folgenreichen Alternativhypothesen“ zur Sozialen Marktwirtschaft.
  • 2
    Fuhrmann begründet diese Haltung mit dem Hinweis, dass sich auch Michel Foucault „gegen jegliche Suche nach einem Ursprung aussprach und der gut begründeten Meinung war, so etwas könne es nicht geben“; vgl. Seite 30, Fußnote 78.
  • 3
    An dieser Stelle nennt er einen „Leeren Signifikanten“ auch einen „Platzhalter für das Allgemeine“.
  • 4
    Dass es diesbezüglich auch Aussprachen und Verabredungen zwischen Ludwig Erhard und Hans Böckler gab, die sich gut kannten und geschätzt haben (beide waren in Fürth aufgewachsen), deutet Fuhrmann nur an (vgl. Seite 221).
  • 5
    In den Kapiteln 6 und 8 (Seiten 121 ff. und 231 ff.), in denen diese Antworten beschrieben werden, wird deutlich, dass Uwe Fuhrmann unter „Dispositiven“ Konzepte, Konzeptionen und Programme versteht, mit denen politische Herausforderungen bewältigt werden sollen. Im Anschluss an Michel Foucault betont er, dass in diesen Dispositiven möglichst alle erkennbaren Details als unterschiedslos wichtig angesehen werden sollten und dass dabei nicht nur „diskursive“, sondern auch „nicht diskursive“ Elemente berücksichtigt werden müssten.
  • 6
    Leonhard Miksch war seit Juli 1946 im Zentralamt für Wirtschaft der britischen Besatzungszone, später im bizonalen Verwaltungsamt in Minden tätig. Nachdem sich Erhard bei der alliierten Militärverwaltung mit der Forderung durchgesetzt hatte, dass die bizonale Wirtschaftsverwaltung nicht in der britischen, sondern in der amerikanischen Zone angesiedelt werden müsse, wurde Miksch in die Frankfurter Behörde übernommen. Nach Erhards Aussage war Miksch seit Februar 1948 Erhards „enger Mitarbeiter“ (Erhard war allerdings erst am 2. März 1948 zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft gewählt worden). Als Leiter des Referats II B 1: „Preiswirtschaftliche Grundsatzfragen und Betriebswirtschaft“ der Verwaltung für Wirtschaft hat Miksch an der Formulierung des Leitsätzegesetzes mitgewirkt. Bei der Erarbeitung dieses Gesetzes wurde auf Formulierungen zurückgegriffen, die Erhard bereits 1942 verwendet hat, beispielsweise auf die Aussage, dass in der zukünftigen Wirtschaftsordnung der „freien Preisbildung gegenüber einer starren Preisbindung grundsätzlich der Vorzug gebührt“. Im Gesetz über die Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform heißt das zentrale Postulat fast wortgleich: „Der Freigabe der Preise ist vor der behördlichen Festsetzung der Vorzug zu geben.“
  • 7
    An dieser Stelle erwähnt Uwe Fuhrmann die beiden Synonyme, die Erhard 1948 zur Bezeichnung seiner ordnungspolitischen Vorstellung verwendet hat: „Marktwirtschaft moderner Prägung“ und „sozial verpflichtete Marktwirtschaft“.
  • 8
    Michel Foucault war ein Soziologe, der Erhards Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mit großem Verständnis interpretiert und unter anderem darauf hingewiesen hat, dass Erhard mit seiner Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, insbesondere mit seiner Betonung der Zusammengehörigkeit von Freiheit und Verantwortung, auf die engen Grenzen von staatlichen Interventionen und auf die Notwendigkeit hingewiesen habe, dass in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung jede bürokratische Maßnahme gründlich legitimiert werden müsse. Vgl. Michel Foucault, Neoliberale Gouvernementalität I: Die soziale Marktwirtschaft, Vorlesung am 31. Januar 1979, abgedruckt in: Michel Foucault, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Berlin 2010, Seiten 146 ff.
  • 9
    Ein gravierendes Beispiel hierfür ist die von Uwe Fuhrmann auf Seite 14 vorgetragene Definition „zum zentralen Begriff ,Dispositiv‘: „Ein Dispositiv kann als Gesamtheit verschiedener Elemente gelten, die einem bestimmten Themenbereich zugeordnet werden. Foucault spricht von einem ,Netz‘, das zwischen ihnen besteht. Als einige solcher Elemente sind Aussagen, Diskurse, Lehrsätze, Architekturen, Praxen oder Gesetze zu nennen.“
  • 10
    Die von Uwe Fuhrmann gewählte Bezeichnung „historische“ Dispositivanalyse wäre damit unzutreffend.
  • 11
    Sicherlich „lobenswert“ ist diese Haltung aus Sicht von Ludwig Erhard: Erhard hat sich lebenslang zur Historischen Schule der Nationalökonomie bekannt, und er stand damit der neoklassischen Ökonomie grundsätzlich skeptisch und kritisch gegenüber. Vgl. Horst Friedrich Wünsche, Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft: Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen, Reinbek 2015.
  • 12
    Fuhrmann stellt beispielsweise den Unternehmer Hermann Reusch vor (Seiten 112 ff.), der sich – ähnlich wie es Hugo Stinnes und Carl Legien im November 1918 getan haben – für ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Arbeitgebern und Gewerkschaften eingesetzt hat, um eine Entwicklung zum Klassenkampf zu vermeiden. Oder Maria Sevenich (Seiten 128 f.), die eine konsequente Verwirklichung des Ahlener Programms der CDU verlangt hat und im Mai 1948 aus der Partei austrat, weil sie Konrad Adenauer zur Fraktionsdisziplin aufgefordert hatte. Oder den Polizeipräsidenten z.D. Nölle, der angesichts der „steigenden Kurve der Demonstrationen, Streiks, Versammlungsstörungen, unsachlichen Pressefehden und Verhetzungsreden“ eine bessere Ausrüstung der deutschen Polizeiverbände gefordert hat.
  • 13
    Leonhard Miksch, Preispolitik und Währung, in: Der Wirtschaftsspiegel, 15. Dezember 1947, Seite 480.
  • 14
    Vgl. Grundsätze der Wirtschaftspolitik für die der Währungsreform folgende Übergangsperiode (Entwurf ohne Datum), in: Bundesarchiv Koblenz, Z8/223, Blatt 7. Die zitierte Passage wurde unverändert in das am 7. Juli 1948 im Gesetz- und Verordnungsblatt des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes abgedruckte Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform übernommen.
  • 15
    Vgl. Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, Wörtlicher Bericht über die 20. Vollversammlung am 17., 19. und 20. August 1948 in Frankfurt am Main, Seite 799.