Der diesjährige Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ging an Prof. Dr. Wolfgang Reitzle, Chairman of the Board of Directors, Linde plc. Wir dokumentieren die Ansprache des Preisträgers anlässlich der Preisverleihung am 24. Juni 2021 in Berlin.


Eine Video-Aufzeichnung der Rede von Wolfgang Reitzle finden Sie hier.


Vor einigen Jahren, meine Damen und Herren, hat der niederländische Verkehrsexperte Hans Monderman ein interessantes Experiment durchgeführt. Er wollte einfach wissen, wie man Unfälle am wirkungsvollsten verhindert. Sein Versuchsobjekt war ein Kreisverkehr, in dem es recht häufig Unfälle gab. Aber Monderman reagierte darauf nicht mit neuen Schildern oder Vorschriften – im Gegenteil: Er ließ fast alle Schilder und Ampeln entfernen. Das Ergebnis war verblüffend. Die Zahl der Unfälle ging fast auf Null zurück, und obwohl die Autos langsam fuhren, passierten sie die Kreuzung auf einmal schneller. Die durchschnittliche Wartezeit sank von 50 auf 20 Sekunden.

Sehr geehrter Herr Koch, sehr geehrter Herr Mayer, sehr geehrter Herr Schäffler, dear Mister McCrum, lieber Friedrich Merz, herzlichen Dank für diese viel zu schmeichelhafte Laudatio. Guten Tag, meine Damen und Herren.

Hätten Sie das gedacht, dass wir von den Niederländern einmal etwas übers Autofahren lernen? Darüber, wie man Eigenverantwortung stärkt und gemeinnütziges Handeln am besten fördert. Ich jedenfalls muss sagen: Ich war verblüfft, als ich zum ersten Mal von diesem Experiment hörte. Und es ist natürlich kein Zufall, dass ich gerade heute wieder daran denken muss, bei der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik. Einen Preis zu erhalten, der diesen Namen trägt, bedeutet mir sehr viel, und ich danke der Jury, die diese Entscheidung getroffen hat.

Ich bin mir sicher, auch Ludwig Erhard hätte das holländische Experiment sehr interessant gefunden, sozusagen als ordnungspolitische Metapher. Denn es ist ja eben nicht so, wie man es den sogenannten Neoliberalen gerne nachsagt, dass sie alles und jedes dem Markt überlassen und möglichst überhaupt keine Regeln aufstellen möchten. Das wäre so, als würde man sagen, die Autofahrer sollen halt mal keine Unfälle verursachen, und wie sie das dann anstellen, überlassen wir komplett ihnen. Also eigentlich Anarchie. Nichts hätte den Neoliberalen ferner gelegen, aus deren Schule auch Ludwig Erhard hervorgegangen ist.

Vor einigen Jahren erst hat der kanadische Historiker Quinn Slobodian in seiner großen Geschichte des Neoliberalismus gezeigt, dass es ja gerade die Sorge um stabile Rahmenbedingungen war, von denen Neoliberale wie Wilhelm Röpke oder Walter Eucken getrieben waren. Sie wollten durchaus, dass ein Kreisverkehr, also eine bestimmte Ordnung, eingerichtet wird, die möglichst unfallfrei und möglichst effizient funktioniert. Und dass alles Nötige getan wird, um diese Ordnung zu schützen. Was sie aber nicht wollten, dass war eine Überregulierung durch Ampeln, Schilder und Verbote, weil sie wussten, das schafft am Ende weder mehr Sicherheit noch sorgt es für bessere Leistungen.

Nun ist es heute ein Menschenalter nach diesen Erkenntnissen um die historischen Kenntnisse nicht immer gut bestellt. Manch eine Bewerberin um das höchste Regierungsamt hält ja sogar die SPD für die Erfinderin der Sozialen Marktwirtschaft. Es ist deshalb vielleicht heute wichtiger denn je, daran zu erinnern, wie und warum diese Ideen in die Welt kamen und was ihren Kern ausmacht. Auch deshalb, weil wir heute mit Herausforderungen konfrontiert sind, die existenziellen Charakter haben. Und weil sich in den kommenden Monaten weit mehr entscheiden wird als nur eine Bundestagswahl. Weil wir zu wählen haben werden: zwischen einer Gesellschaft der Freiheit und der Sozialen Marktwirtschaft einerseits und einer Gesellschaft der patronalistischen Bevormundung und staatlichen Steuerungen andererseits.

Denn – ob Pandemie oder Klimakrise – im Angesicht lebensbedrohender Risiken neigen viele Menschen ganz offenbar dazu, dem offenen Markt weniger zu vertrauen als der vermeintlich starken Hand des Staates. Das Bild vom Vater Staat der sich wie ein Pater Familias um die Seinen sorgt und sie mit strenger Hand vor Unheil bewahrt, scheint sich immer stärker durchzusetzen. Nur noch rund 50 Prozent der Deutschen vertrauen laut Umfrage der Marktwirtschaft. Man könnte auch sagen, ihnen fehlt das, was Ludwig Erhard auszeichnete. Ihnen fehlt der Mut zur Freiheit.

Sie alle kennen wahrscheinlich die Anekdote über die Freigabe der Preise im Jahre 1948. Erhard hatte sich dazu über geltende Bestimmungen der Amerikaner hinweggesetzt, und als General Clay ihn fragte: „Wie kommen Sie dazu, unsere Vorschriften zu ignorieren?“ Da antwortete Erhard: „Ich habe sie nicht ignoriert, ich habe sie aufgehoben.“ Natürlich war das damals ein Wagnis. So wie es ein Wagnis ist, Ampeln und Schilder am Kreisverkehr zu entfernen. Aber Erhard war sich seiner Sache sicher: der Sache des Marktes. Er wusste, wenn die Preisbindung fällt, dann kommt der Markt in Schwung. Und wenn der Markt in Schwung kommt, dann bringt das Wohlstand für alle.

Aber dieses Wissen allein hätte nichts bewegt. Bewegt hat Erhard die Geschichte durch seinen Mut. Den Mut, den entscheidenden Schritt zu gehen, den Mut loszulassen. Und genau das, meine Damen und Herren, ist auch jetzt wieder wichtig, wenn wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen wollen. Den Klimawandel zum Beispiel: Im Moment geben jene den Ton an, die dafür neue Schilder und noch mehr Ampeln im Kreisverkehr aufstellen wollen. Aber ich meine, nichts könnte falscher sein, eben weil es um so grundlegende Probleme geht.

Nehmen Sie die Elektromobilität, die will ich natürlich auch. Aber ich frage mich, warum drückt man sie jetzt so schnell und mit aller Gewalt in den Markt? Obwohl die Technologie noch nicht massentauglich ist, obwohl man damit der Industrie die Zeit nimmt, sich umzustellen, und obwohl das dann Tausende von Arbeitsplätzen kosten wird. Parallel entstehen skurrile Marktverwerfungen, wie das Beispiel Tesla zeigt. Das Unternehmen kann jetzt in diesem Jahr für circa zwei Milliarden Dollar Zertifikate an traditionelle Wettbewerber verkaufen und damit seine operativen Verluste in einen Gewinn bringen. Während die ohnehin schon gebeutelten Autohersteller an Tesla zwei Milliarden Dollar für Zertifikate überweisen müssen.

Das hat nicht nur mit Marktwirtschaft nichts zu tun, es nutzt auch dem Klima so gut wie nichts. Denn: Beim gegenwärtigen Strommix in Deutschland verursacht ein Elektro-Pkw mehr CO2-Emissionen und nicht weniger. Und sobald die Produktion von Batterien im großen Stil hochgefahren wird, schaffen wir uns dadurch neue Rohstoff-, Recycling- und Abfallprobleme. Kurzum: Der batterieelektrische Hype, ich meine nicht den Trend hin zum Elektroauto, den sehe ich und unterstütze ihn auch, aber dieser Hype, der gerade läuft, gibt somit weder ökologisch Sinn noch ökonomisch.

Es handelt sich um eine Form von staatlichem Dirigismus, der auch diesmal zu massiven Verwerfungen führen wird. Eine Konsequenz die man nach aller historischen Erfahrung mit planwirtschaftlichen Methoden eigentlich absehen könnte. Obwohl man sich ja eigentlich fragen könnte: Wo genau ist da eigentlich der Plan? Wenn im Vorgriff auf den Wahlkampf ohne inhaltliche Not plötzlich Klimaziele verschärft werden, wenn aber zugleich niemand eine Ahnung hat, wie diese Ziele realistisch zu erreichen sein werden. Und wenn auch hier klar ist, der zu zahlende Preis wird horrend sein.

Alternativlos sind solche planwirtschaftlichen Ideen ohne Plan nur dann, wenn man die Alternativen quasi mutwillig übersieht. Alternative Kraftstoffe zum Beispiel: Mit ihrer Hilfe könnte man sogar den weltweiten Fuhrpark in Zukunft von circa 1,4 Milliarden Altautos mit Verbrennungsmotor CO2-frei bekommen, was ja ein riesiger Vorteil für die nächsten Jahrzehnte wäre. Besonders übrigens in den Entwicklungs- und Schwellenländern, wo Hunderte Millionen Autos mit uralten Motoren das Klima in ganz besonderer Weise belasten. Aber ganz offensichtlich hat die Politik den Verbrennungsmotor an sich zum Staats- und Klimafeind erklärt. Selbst dann, wenn er gar kein CO2 mehr ausstoßen sollte.

Ähnlich beim Einsatz von Brennstoffzellen und Wasserstoff, den man stärker forcieren könnte. Zum Beispiel durch den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur, inklusive Wasserstoffspeicher und der dazugehörigen regenerativen Energiequellen, um ihn eben auf grüne Weise zu produzieren. Und auch die viel gescholtene Kernkraft könnte in erneuerter Form und als Übergangstechnologie – wie ich meine – einen wichtigen Beitrag dazu leisten, unsere CO2-Emissionen zu senken, ohne unsere Versorgungssicherheit zu gefährden. Man könnte mit einem Wort technologieoffen vorgehen und findige Ingenieurinnen und Ingenieure im Wettbewerb der besten Ideen und die Kunden entscheiden zu lassen, welche Lösung am Ende die beste ist.

Und natürlich gibt es auch politische Alternativen. Es ist nämlich nicht wahr, dass der Kampf gegen den Klimawandel automatisch bedeutet, auf Wachstum und Wohlstand verzichten zu müssen. Es ist nicht wahr, dass wir die Klimaziele nur dann erreichen, wenn wir den Menschen vorschreiben, welches Verkehrsmittel sie nutzen, welche Lebensmittel sie essen oder welche Produkte sie kaufen sollen. Was wir stattdessen brauchen, ist eine – ich nenne es mal – Freigabe der Preise 2.0. Nur dass es dieses Mal nicht die Preise für Waren und Dienstleistungen sind, sondern die Preise für CO2.

Es ist ja richtig, dass wir es bisher versäumt haben, ein Gemeingut wie das Klima zu bepreisen. Und dass es deshalb vom Markt auch ignoriert wurde. Aber dann lassen Sie uns doch genau das ändern. Ja, wir brauchen einen CO2-Preis. Aber den legen nicht die Grünen fest, sondern den ermittelt der Markt. So wie bei allen anderen Preisen auch. Der Staat kann und soll definieren, welches Klimabudget uns bis 2050 beziehungsweise 2045 noch zur Verfügung steht. Er kann und soll dementsprechend die Menge der Zertifikate festlegen, mit denen wir dann frei handeln können. Alles andere aber entscheidet sich durch den Wettbewerb um die besten Ideen. Wer mit seinen Technologien am Markt den größten Erfolg hat, wer die meisten Kunden überzeugt und wer CO2 am nachdrücklichsten reduziert, der wird sich dann eben durchsetzen. Und niemand kann heute schon sagen, welche Technologie das in welchem Bereich sein wird.

Fest steht aus meiner Sicht nur: Wir werden dieses Problem entweder im globalen Maßstab lösen oder wir werden es überhaupt nicht lösen. Ein Beispiel dazu: 600 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner haben derzeit keine Steckdose. Sie wollen aber Steckdosen haben. Und sie werden – und ich denke sie sollen sie – auch bekommen. Der Strom aus diesen Steckdosen wird dabei aber heute schon absehbar zu einem beträchtlichen Teil aus Kohlekraftwerken kommen. Denn diese Kraftwerke kaufen die Afrikaner derzeit bei den Chinesen ein. Die wiederum zeichnen ihrerseits für rund 28 Prozent – Tendenz steigend – der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich, und wir wissen es, die Amerikaner für fast 15 Prozent.

Und jeder weiß, Deutschland hingegen hat einen Anteil von weniger als zwei Prozent. Das bedeutet nicht, um das ganz klar zu sagen, dass wir das Recht hätten, daraus abgeleitet, einfach abzuwarten. Ganz im Gegenteil: Wir haben sogar die Pflicht, dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen, weil wir die intellektuellen und auch die materiellen Mittel dazu haben. Aber dann sollten wir diese Mittel doch bitte auch nutzen. Gerade wir hier in Deutschland helfen dem weltweiten Klimaschutz am wirkungsvollsten, wenn wir dafür sorgen, dass die besten Technologien von den besten Köpfen hier bei uns entwickelt werden und wenn wir sie möglichst auch hier bei uns zur Marktreife bringen und wenn wir sie dann weltweit vertreiben.

Was wir dazu brauchen, ist freilich das Gegenteil dessen, was derzeit auf der politischen Agenda steht: nämlich nicht die Verwaltung des Mangels durch Politik der Umverteilung, sondern die Entfesselung von Wachstum und Dynamik durch Wettbewerb und weniger Bürokratie. Nicht Politik als Verwaltungsmanagement, sondern Politik als kraftvolle Bewegung für visionäre Ziele. Echte Modernisierungsimpulse und nicht die Nivellierung unseres Bildungssystems nach dem Maßstab des kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern die gezielte Förderung und Entfaltung von Talenten, von Exzellenz und Leistungswillen auf breiter Front.

Wir brauchen nicht die Ausbremsung digitaler Technologien unter dem Vorwand des Datenschutzes, sondern die zügige Digitalisierung sowohl der Wirtschaft als auch der öffentlichen Verwaltung. Wir brauchen nicht ein Erneuerbare-Energien-Gesetz und eine Umlage, die unseren Strom fast zum teuersten der Welt macht, sondern wir brauchen einen Strompreis für grüne Energie von weniger als drei, ja besser zwei Cent pro Kilowattstunde. Dann wird er nämlich im großen Stil auch industriell wirtschaftlich eingesetzt werden können. Wir brauchen nicht Verbote für Nano-, Gen- und Biotechnologien, sondern wir brauchen technische Lösungen, die unsere Zukunft sicher machen und umweltfreundlich.

Aber meine Damen und Herren, was wir auch nicht brauchen können, das ist der Weg nach gestern. Der Weg in Nationalismus und Engstirnigkeit, in Technologiefeindlichkeit und Ausgrenzung, sondern den Weg zu Multilateralismus, zu internationalen Verträgen in den Außenbeziehungen und zur Vielfalt nach innen. Wer die besten Lösungen will, der kann es sich gar nicht leisten, weniger als alle Menschen um ihre Beiträge zu bitten – genau das hat Herr Koch vorhin gesagt. Und schon gar nicht wird er die Probleme dadurch lösen, dass er vor ihnen die Augen verschließt oder dubiose Verschwörungen dafür verantwortlich macht.

In einem Interview gegen Ende seines Lebens hat Ludwig Erhard einmal gesagt, 80 Prozent seiner Zeit habe er damit zugebracht, gegen Unfug anzukämpfen. Ich fürchte, an dieser Statistik hat sich bis heute leider wenig geändert. Unfug gibt es weiterhin reichlich, aber es gibt ihn in allen politischen Spielarten. Ein Preis der nach Ludwig Erhard benannt ist, darf daher immer auch als eine Ermutigung im Kampf gegen solchen Unfug verstanden werden. Ich jedenfalls verstehe ihn so und verspreche, mich auch weiterhin in diesem Kampf nach Kräften zu engagieren.

Ganz im Sinne übrigens von Hans Monderman, dem niederländischen Verkehrsexperten. Er hat seine Idee zuerst an einem Kreisverkehr in seinem Heimatort ausprobiert, danach folgten mehr als 100 weitere Umgestaltungen. Und am Ende amortisierte der deregulierte Kreisverkehr sogar zu einer Art Exportschlager. Auf der Kensington High Street in London zum Beispiel haben die Verantwortlichen alle Ampeln und Schilder entfernt – mit dem Ergebnis, dass die Zahl der Unfälle mit Fußgängern auch dort um 60 Prozent gesunken ist. Auf den Mut also kommt es an, den Mut zur Freiheit. Vielen Dank!


Die digital übertragene Preisverleihung fand am 24. Juni 2021 in der Hessischen Landesvertretung in Berlin statt. Hier geht es zur Dokumentation der Preisverleihung mit Fotos, Videos und Redebeiträgen.

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