Dietrich Schönwitz, Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank i.R., bringt erneut eine „zweidimensionale Lohnpolitik“ in die Diskussion: Die Tarifvertragsparteien verständigen sich dabei für die kommende Periode auf eine vorsichtige Lohnpolitik, die nur zumindest den Produktivitätsfortschritt berücksichtigt. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass sonst das Ziel der Reallohnsicherung wegen der Zweitrunden-Effekte verfehlt wird. Der Autor führt an, dass eine solche konfliktreduzierende Lohnpolitik ganz der Idee Ludwig Erhards von einer „Formierten Gesellschaft“ entspricht. Die Europäische Zentralbank kann den Kurs unterstützen, indem sie wieder primär und auftragsgemäß die Sicherung der Preisniveaustabilität in den Blick nimmt.

Angesichts des dynamisch verlaufenden Anstiegs der Verbraucherpreise sowohl in Deutschland als auch im gesamten Euroraum stehen im Herbst dieses Jahres schwierige Tariflohnverhandlungen an. Gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) stieg die Inflationsrate in Deutschland von rund 5 Prozent im Januar auf knapp 8 Prozent im Mai. Eine Verdopplung der Preissteigerungsrate gegenüber Jahresanfang bis Ende 2022 ist nicht auszuschließen, obwohl die Europäische Zentralbank (EZB) – leider recht spät – eine Abkehr von ihrer expansiven Ausrichtung der Geldpolitik angekündigt hat. Recht spät, erstens weil man in der EZB trotz Warnungen aus der Wissenschaft die Preisentwicklung noch bis Ende letzten Jahres als „transitorisch“ einstufte und zweitens, weil die Transmission dämpfender geldpolitische Impulse in der Regel – was empirisch belegt ist – Monate beziehungsweise sogar Jahre braucht, bis sie sich entsprechend auswirkt (vgl. Schönwitz 2021). Richtig ist deshalb, dass den Gewerkschaften, aber auch den Arbeitgebern, in dieser Situation eine besondere Verantwortung zukommt.

Krisenbewältigung zu Lasten der Beschäftigten?

Es mehren sich allerdings die Anzeichen, dass die Gewerkschaften in den für Herbst anstehenden Tariflohnverhandlungen einen deutlichen Ausgleich für inflationsbedingte Kaufkrafteinbußen fordern könnten, die zu Zweitrundeneffekten im Sinne von Lohn-Preis-Spiralen führen. In diesem Tenor verkündete die neugewählte Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Yasmin Fahimi in einer Rede auf dem DGB-Bundeskongress im Mai: „Wer jetzt Lohnzurückhaltung verlangt, der will in Wahrheit nichts anderes, als die Krisenbewältigung allein auf dem Rücken der Beschäftigten abzuladen.“ (Fahimi 2022). Bei derart den Beifall der Delegierten suchenden Äußerungen mag das Bestreben zur Profilierung der soeben ins Amt gekommenen Vorsitzenden den Ausschlag gegeben haben. Losgelöst von solchen Stimmungslagen haben sich die deutschen Gewerkschaften in den letzten Jahren durchaus gesamtwirtschaftlich verantwortungsbewusst verhalten und in der Corona-Pandemie sogar Realeinkommenseinbußen hingenommen.

Funktionslose Verteilungskämpfe vermeiden

Es sollte deshalb möglich sein, im Zusammenwirken der autonomen Tarifvertragsparteien, also Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen, Lösungen zu vereinbaren, die einerseits dauerhafte Realeinkommenseinbußen vermeiden und andererseits die Gefahr von Lohn-Preis-Spiralen abwenden. Ein solches beiderseitig getragenes Bestreben könnte durch die Einsicht gefördert werden, dass Lohn-Preis-Spiralen letztlich, wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schon Anfang der 1970er Jahre formulierte, „funktionslose Verteilungskämpfe“ sind (Sachverständigenrat 1972). Funktionslos deshalb, weil die Zielsetzung der Reallohnsicherung, beziehungsweise Reallohnverbesserung, durch preisliche Zweitrundeneffekte zunichte gemacht werden kann.

Zweidimensionale Lohnpolitik

Als mögliche Kompromisslösung bietet es sich an, einen schon vor längerer Zeit gemachten Vorschlag aufzugreifen und die Lohnpolitik bei den kommenden Tarifvertragsverhandlungen zweidimensional als „Ex-Ante-Lohnpolitik“ und „Ex-Post-Lohnpolitik“ zu betreiben (vgl. Lampert und Schönwitz 1987). Dabei würden sich die Tarifvertragsparteien auf eine relativ vorsichtige Lohnpolitik für die kommende Periode verständigen, die zwar den Produktivitätsfortschritt berücksichtigt, jedoch zusätzlich nicht auf einen vollen Ausgleich der Preissteigerungen setzt. Diese Ex-Ante-Komponente wäre dann mit entsprechenden Öffnungsklauseln durch die Ex-Post-Lohnpolitik zu ergänzen, die für die vorangegangene Periode und gegebenenfalls nachfolgende Perioden den Ausgleich für Realeinkommensminderungen anstrebt. Für die Arbeitgeber würde das bedeuten, dass ihnen Zugeständnisse zu Lasten ihrer Ertragssituation bei gestiegener Planungssicherheit infolge verlässlicher Rechnungslegungsergebnisse für abgelaufene Perioden erleichtert würden.

Formierte Gesellschaft – keine Konzertierte Aktion

Damit würde der Beitrag zur Krisenbewältigung nicht ausschließlich „auf dem Rücken“ der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen. Eine solche konfliktreduzierende Lohnpolitik entspricht Ludwig Erhards Idee einer Formierten Gesellschaft als Gesellschaft des dynamischen Gleichgewichts der gesellschaftlichen Kräfte, die bei unangetasteter Tarifhoheit als ein prägendes Merkmal seiner Sozialen Marktwirtschaft nicht durch kontraproduktive Verteilungskämpfe gekennzeichnet ist (vgl. Altmann 1965 und Heusgen 1981). Erhard – auch das könnte in der zweidimensionalen Lohnpolitik Berücksichtigung finden – verband seine Idee einer Formierten Gesellschaft mit der Förderung individueller Vermögensbildung. Vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wurde das später als Kombination von zurückhaltender Barlohnpolitik und vermögenswirksamen Leistungen den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zur Sicherung einer „verlässlichen lohnpolitischen Grundlinie“ nahegelegt (Sachverständigenrat 1981/82).

Zu unterscheiden ist dieser Ansatz von der gescheiterten, keynesianisch geprägten Konzertierten Aktion der späten 1960er und 1970er Jahre, weil erstens der Interessenausgleich ausschließlich im Bereich der Tarifvertragsparteien bleibt, zweitens die Tarifautonomie nicht eingeschränkt wird und drittens der Ausgleich divergierender Interessen nicht aufgrund von Orientierungsdaten der Bundesregierung zur Erreichung wirtschaftspolitischer Ziele für Gebietskörperschaften, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften im Sinn einer Globalsteuerung erfolgen soll. Diese Erfahrung sollte bedacht werden, wenn aktuell von einer Bekämpfung der inflationären Entwicklung durch Einberufung einer „Konzertierten Aktion“ durch den Bundeskanzler gesprochen wird. Für Ludwig Erhard wären staatliche Globalsteuerungsversuche ein ordnungspolitischer Irrweg gewesen.

Verlässliche geldpolitische Grundlinie

Den Gewerkschaften kann die Verfolgung einer zweidimensionalen Lohnpolitik erleichtert werden, wenn die Ankündigung der EZB zur Abkehr von ihrer bisher expansiven Geldpolitik in eine verlässliche geldpolitische Grundlinie mündet, die konsequent und nachhaltig nicht so sehr die Finanzierungsbedingungen hoch verschuldeter Eurostaaten im Blick hat, sondern auftragsgemäß die Sicherung der Preisniveaustabilität. In diesem Sinn hat Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank, ein Zeichen gesetzt, indem er ankündigte, dass er sich für einen ersten Schritt zur Normalisierung der EZB- Zinssätze im Juli 2022 einsetzen werde (vgl. Nagel 2022). Auf erste Schritte sollten in der Regel weitere folgen.

Literatur

Rüdiger Altmann, Die Formierte Gesellschaft, Stuttgart 1965.

Yasmin Fahimi, Solidarisch und gerecht, Rede auf dem DGB-Bundeskongress 2022, bundeskongress.dgb.de, 2022.

Christoph Heusgen, Ludwig Erhards Lehre von der Sozialen Marktwirtschaft, Bern/Stuttgart 1981.

Heinz Lampert und Dietrich Schönwitz, Lohnpolitik, in: Evangelisches Staatslexikon, hrsg. v. Roman Herzog u.a., Bd. 1, Stuttgart 1987, Sp. 2026 ff.

Joachim Nagel, Auswirkungen der russischen Aggression auf die Inflationsaussichten und Reaktion der Geldpolitik, Abschlussrede beim International Economic Symposium der Deutschen Bundesbank und der National Association for Business Economics (NABE), 10.5.2022, www.bundesbank.de.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1972, Baden-Baden 1972, Textziffer 438.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1981/82, Baden-Baden 1981, Textziffer 416.

Dietrich Schönwitz, Geldpolitik im Euroraum, erschienen bei der Ludwig-Erhard-Stiftung (www.ludwig-erhard.de), Bonn 2021


Prof. Dr. Dietrich Schönwitz ist Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank i.R.

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