Ein Kurswechsel in der von der EZB betriebenen Geldpolitik ist dringend nötig, meint Dietrich Schönwitz. Er warnt davor, Preisniveaustabilität vor dem Hintergrund fiskalpolitisch motivierter Einflüsse und Begehrlichkeiten zu relativieren.

Oberziel Preisniveaustabilität nicht infrage stellen

In der letzten Dekade war die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) durchgängig expansiv ausgerichtet, um vor allem durch Staatsanleihekäufe im Euroraum deflationären Tendenzen und damit einer Spirale aus fallenden Preisen und sinkendem wirtschaftlichem Wachstum entgegenzuwirken. Mit dem den Kreditinstituten durch die Anleihekäufe zur Verfügung gestellten Zentralbankgeld und Senkungen des EZB-Leitzinses zur Nulllinie sollten die Finanzierungsbedingungen der Realwirtschaft verbessert, Kreditnachfrage- sowie Wachstumsimpulse ausgelöst und die Steigerungsraten des Preisniveaus dem Zielwert angenähert werden. Geldpolitik sollte, so die offizielle Lesart, die auch bei in den letzten Jahren nicht mehr bestehenden Deflationsgefahren durchgehalten wurde, inflationär und wachstumsstimulierend wirken.

Expansive Ausrichtung hält an

Die so begründete expansive Ausrichtung der Geldpolitik bei weiter festgelegtem Leitzins von Null hält an, mit dem Ergebnis, dass die EZB Anfang November 2021 im Wochenausweis für das Eurosystem einen Bestand an Wertpapieren für geldpolitische Zwecke von 4.586.612 Millionen Euro auswies; nur zur Verdeutlichung der Größenordnung: das entspricht dem Neunfachen des aktuellen Bundeshaushalts. Die EZB wurde damit zu einem der wichtigsten Kreditgeber der Eurostaaten. Lediglich für das Corona Notfallprogramm (Pandemic Emergency Programme „PEPP“) wurde in einer Pressemitteilung vom 28. Oktober 2021 bekanntgegeben, dass der Umfang ab dem vierten Quartal erstmalig „moderat“ reduziert werden kann. Darin ist jedoch keine nennenswerte Änderung des geldpolitischen Kurses zu sehen, sondern eher eine Kalibrierung des Volumens mit dem Vorbehalt, dass „günstige Finanzierungsbedingungen“ erhalten bleiben. Der weiter expansive Kurs wird auch durch eine Äußerung von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, bestätigt, nach der eine Erhöhung des Leitzinses im Jahr 2022 unwahrscheinlich sei.

Monetäre Staatsfinanzierung

Die Preisniveausteigerungsrate im Euroraum lag im Oktober 2021 gegenüber dem Vorjahr mit über vier Prozent deutlich über dem im Rahmen der jüngsten Strategieüberprüfung festgelegten Zielwert von mittelfristig zwei Prozent. Auch die Preisniveauentwicklung der letzten Jahre ist selbst bei pandemiebedingten Einflüssen nicht durch deflationäre Anzeichen gekennzeichnet. Durch das Festhalten an der expansiven Ausrichtung der Geldpolitik wird eine kritische Stellungnahme von Oktober 2019 bestätigt, in der Otmar Issing und Jürgen Stark, beide ehemalige Mitglieder des Direktoriums der EZB, sowie Helmut Schlesinger, früherer Präsident der Deutschen Bundesbank, zu folgenden Schlussfolgerungen gelangten:

(1) Wenn, wie festzustellen ist, keine Deflationsgefahr besteht, wird die der expansiven Geldpolitik zugrundeliegende Logik, höhere Inflationsraten anzustreben, infrage gestellt.

(2) Der Verdacht, dass hinter den fortgesetzten Anleihekäufen die Intention steht, hoch verschuldete Staaten vor höheren Zinssätzen zu schützen, ist daher gut begründet, zumal nach Jahren lockerer Geldpolitik kaum positive Effekte auf das wirtschaftliche Wachstum zu erwarten seien.

(3) Die EZB habe damit aus ökonomischer Sicht den Bereich monetärer Staatsfinanzierung betreten, was nach dem Vertrag von Maastricht verboten ist.

Zweitrundeneffekte vermeiden

Zur Rechtfertigung des expansiven Kurses wird seitens der EZB der transitorische Charakter der Preissteigerungen infolge von Lieferkettenstörungen, nachholendem Konsum und anziehenden Energiepreisen betont. Bert Rürup stellt dazu fest, dass die EZB auf sich selbst verstärkende Zweitrundeneffekte (Lohn-Preis-Spiralen) achten müsste, weil in einigen europäischen Staaten die Gehälter im öffentlichen Dienst an die Inflation gekoppelt sind. Und „…überall im Euroraum haben die Gewerkschaften gute Gründe, mit Verweis auf den Preisanstieg kräftige Lohnerhöhungen zu fordern.“

Es ist deshalb – auch weil monetäre Impulse ein bis zwei Jahre brauchen, bis sie sich in der Realwirtschaft auswirken – an der Zeit, einer Verfestigung der inflationären Entwicklung entgegenzutreten, eine moderate Rücknahme der geldpolitischen Expansion vorzubereiten und der Öffentlichkeit kommunikativ zu signalisieren. Ansonsten würde sich die ebenfalls von Rürup aufgestellte Vermutung bestätigen, dass „…der Zusammenhalt der Währungsgemeinschaft zum impliziten Oberziel der EZB geworden (wäre) – ‚whatever it takes‘.“ – Und damit fiskalische Rücksichtnahme zu Lasten der Zielvorgabe Preisniveaustabilität gehen könnte.

Fed stellt Wertpapierkäufe ein

In den USA wurde von der Federal Reserve Bank (Fed) bei einer Preisniveausteigerung um 6,2 Prozent im Oktober 2021 gegenüber dem Vorjahr eine Kursänderung bereits eingeleitet. Jerome Powell, Präsident der Fed, kündigte an, das monatlich 120 Milliarden Dollar umfassende Ankaufsprogramm von Wertpapieren ab November 2021 um 15 Milliarden monatlich zu reduzieren, so dass diese monetären Impulse in acht Monaten auslaufen würden. Eine Erhöhung des Leitzinssatzes ist danach im Jahr 2022 zu erwarten.

Mit dieser Vorgehensweise steigt angesichts der internationalen Abhängigkeiten von Zinssatzrelationen, Wechselkursbewegungen und Kapitalströmen der Druck auf die Verantwortlichen in der EZB, ihre bisherige Haltung zu überdenken. Möglicherweise trägt auch der kürzlich erfolgte Rücktritt von Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank, dazu bei, für den es an der Zeit ist, bei geldpolitischen Kursbestimmungen nicht nur auf Deflationsgefahren zu schauen.

Great Moderation endet

Das gilt aller Voraussicht nach auch für die künftige geldpolitische Ausrichtung, weil statt deflationärer Entwicklungen längerfristig wirkende preistreibende Einflüsse und damit eine Wiederkehr inflationärer Tendenzen zu erwarten sind. Während die sich seit den 1980er Jahren verstärkt auswirkende Globalisierung die Inflationsraten drückte (Great Moderation), dürften Deglobalisierungstendenzen infolge der Corona-Pandemie mit der Verlagerung von Produktionsprozessen ins Inland, um Lieferkettenstörungen zu vermeiden, zu Preiserhöhungen insbesondere bei Vorprodukten führen. Darüber hinaus wird sich der anstehende Umbau der Volkswirtschaften zur Klimaneutralität preistreibend auswirken. Diesbezüglich kommt eine Modellrechnung des von Notenbanken und Bankenaufsichtsbehörden gegründeten „Network for Greening the Financial System“ (NGFS) zu dem Ergebnis, dass die dadurch entstehenden Kosten in den nächsten 15 Jahren mit einem Prozent pro Jahr zur Inflationsrate beitragen. In einer bei Zentralbanken viel diskutierten Studie haben zudem Charles Goodhart und Manoj Pradhan aufgezeigt, dass der demographische Wandel mit einem Anstieg des Anteils von über 65Jährigen an der Bevölkerung sich inflationär auswirkt: „…too many mouths chasing too little food.“

Aus diesen preistreibenden Tendenzen lässt sich für die künftige Geldpolitik die Schlussfolgerung ableiten, dass die Oberzielsetzung Preisniveaustabilität nicht vor dem Hintergrund fiskalpolitisch motivierter Einflüsse und Begehrlichkeiten relativiert werden sollte. Die vertraglich garantierte Unabhängigkeit der EZB ist in parlamentarischen Demokratien in ordnungspolitischer Sicht auf Dauer nur zu rechtfertigen, wenn sie sich auf ihre klar begrenzte Aufgabenzuweisung, Preisniveaustabilität zu gewährleisten, hält.

Literatur

Goodhart, C., Pradhan, M.: The Great Demographic Reversal – Ageing Societies, Waning Inequality and Inflation Revival, Cham 2020

Issing, O., Schlesinger, H., Stark, J., u.a.: Memorandum on the ECB‘s Monetary Policy, October 4th, 2019, in: www.hanswernersinn.de

Network for Greening the Financial System: NGFS Climate Scenarios for Central Banks and Supervisors, June 2021, in: www.ngfs.net

Powell, J.: Transcript of Chair Powell‘s Press Conference, November 3, 2021, in: www.federalreserve.gov

Rürup, B.: Veränderter Blickwinkel der EZB, in: Der Handelsblatt Chefökonom, 12. November 2021, in: www.handelsblatt.com

Weidmann, J.: Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik in der Währungsunion  nicht vorgesehen, Interview, in: Wohlstand für alle – Vorteil Marktwirtschaft, Sonderveröffentlichung der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn 2021


Prof. Dr. Dietrich Schönwitz ist Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank im Ruhestand.

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