In diesen Tagen findet ein Überbietungswettbewerb der Panikszenarien eines vom Gasnotstand gezeichneten Winters statt. Die einen empfehlen das Frieren für die Verteidigung der Ukraine, und andere sehen schon die Zerstörung ganzer Industriebranchen. Im Kreml sitzt ein feixender Putin, dem die deutschen Politiker die Herrschaft über Köpfe und Herzen übertragen.

Eine der wichtigsten Botschaften Ludwig Erhards war, auf die Bedeutung der Psychologie in der Wirtschaftspolitik – er nannte es Seelenmassage – hinzuweisen: „Es handelt sich schlicht und einfach um die Nutzanwendung der Wirtschaftspsychologie: Das wirtschaftliche Geschehen läuft nicht nach mechanischen Gesetzen ab. Die Wirtschaft hat nicht ein Eigenleben im Sinne eines seelenlosen Automatismus, sondern sie wird von Menschen getragen und von Menschen geformt. Wenn dem so ist – und das kann füglich nicht bezweifelt werden –, dann wird sich das Gepräge, d.h. die Struktur und das Bild der Wirtschaft, je nach unserem Handeln und Verhalten deutlich spürbar verändern, ja sogar verändern müssen. Man soll daher die Methode psychologischer Einwirkungen nicht gering schätzen.“ (Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle, Seiten 235 f).

Die Psychologie hat längst gewirkt. Viele Industrien optimieren den Gasverbrauch. Und auch private Haushalte schauen schon wegen der steigenden Preise sehr genau, wieviel Energie sie verbrauchen wollen. In den vergangenen Monaten liegt der Gasverbrauch deutlich unter den langjährigen Werten. Die vier Wirtschaftsforschungsinstitute haben in ihrer Gemeinschaftsprognose vor wenigen Tagen die Gefahr einer Gaslücke wesentlich geringer eingeschätzt als noch im April. Sollte es nach der Wartung der Leitung Nordstream 1 wieder Lieferungen im Umfang der letzten Wochen (40 Prozent der normalen Menge) geben, dann gibt es nach den Simulationen der Wissenschaftler selbst bei ungünstigen Konstellationen keinen Gasengpass. Und auch bei einem mit so viel Horror-Gesang begleiteten Szenario mit vollständigem Ausbleiben russischer Lieferungen entstehen mit großer Wahrscheinlichkeit keine Gasversorgungslücken bis Ende 2023! Der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Auswärtige Beziehungen wies im Übrigen erst gestern zu Recht darauf hin, dass ein vollständiger Stopp der Gaslieferungen für Russland schon technisch praktisch unmöglich ist. Gleichwohl müssen Politiker in einer solchen Situation in internen Krisenstäben auch schlimmere Szenarien bedenken und bewerten – in der Öffentlichkeit haben sie aber die Pflicht, zu beruhigen und den normalen Gang des täglichen Lebens nicht unnötig zu stören. Eine Debatte zwischen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler, ob man im Winter noch warm duschen solle, ist das glatte Gegenteil davon und muss als unverantwortlich bezeichnet werden!

Das ist keineswegs eine Entwarnung. Denn der Preis der Energie wird hoch bleiben und im schlimmsten Fall erheblich steigen. Auch hier allerdings sind wieder Gelassenheit und Klugheit gefragt. Die Preise dürfen nicht gedeckelt werden. Die Preissignale als Anzeiger für Knappheit müssen in den Märkten der Industrie und auch in denen der Verbraucher ankommen. Jede Initiative der Politik, mit Preisdeckeln und ähnlichen Maßnahmen die Lenkungswirkungen zu zerstören, ist fatal. Gleichzeitig muss den Bürgern verlässlich zugesagt werden, dass sie mit der außerordentlichen Herausforderung nicht alleingelassen werden. Die zumindest kurzfristig sehr hohen Kosten für Heizung und Strom dürfen die Mieter nicht in den Ruin treiben. Regelleistungen der sozialen Unterstützung müssen schnell angepasst werden, pauschale Einmalzahlungen bis hin in die mittleren Einkommensschichten sind nötig. Eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung der Arbeitgeber durch Tarifvertrag oder daran angelehnt muss gesetzlich ermöglicht werden. Die deutlich höhere Inanspruchnahme von Wohngeld muss ermöglicht werden, ohne dass die Ämter die Betroffenen monatelang im Unklaren lassen. Bund und Länder müssen ihre Verantwortlichkeiten für die Finanzierung der Leistungen und deren Organisation klären.

Wäre der Satz nicht politisch verbraucht, würde man sich jetzt von der Regierung einfach ein verbindliches „Wir schaffen das“ wünschen. So sympathisch und ehrlich manche Bürger die öffentlich dargestellten Selbstzweifel und Sorgen des Bundeswirtschaftsministers finden mögen, in dieser konkreten Lage sind sie fehl am Platz und unprofessionell. Sie schicken uns alle hilflos in eine unangenehme und unkonkrete Zukunft. Daraus werden viele Bürgerinnen und Bürger gefährliche und falsche Entscheidungen ableiten: Der Konsum wird eingeschränkt und geht zurück, bis dato geplante Investitionen werden gestoppt, Industriebetriebe versuchen den Standort zu verlagern, Arbeitsplätze werden aus Vorsicht abgebaut oder nicht neu besetzt. Das alles sind Folgen einer falschen psychologischen Führung und der Verunsicherung eines Volkes durch eine vielleicht sogar um das Richtige bemühte Regierung.

Nicht zuletzt sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass neben Corona, Lieferkettenstörungen und grüner Inflation ganz besonders der völkerrechtswidrige gewaltsame Angriff auf Freiheit und Leben der Ukrainer zu dieser Lage geführt haben. Selbstverständlich gilt der Angriff Putins auch uns. Auch wir haben etwas zu verlieren: Selbstachtung, Mut und Durchhaltevermögen. „Wir lassen uns von mordenden Diktatoren nicht unterkriegen“, sollte ein Motto lauten. In demokratischen Staaten ist das nicht einfach, und auch deshalb ist die Psychologie, die „Seelenmassage“, so wichtig.

Putin sollte lernen und unsere Regierung sollte es laut und deutlich sagen: Mit dem Gas als Druckmittel wird man Deutschland nicht in die Knie zwingen. Und wir selbst sollten uns klar machen und immer wieder vor Augen führen, dass wir es „geschafft“ haben werden, wenn unser höchstes Gut, nämlich unsere Freiheit, gesichert ist. Panikmache ist dabei ein schädliches Mittel.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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