Das am 5. Mai 2020 ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank ist im europäischen Gefüge wegweisend. Ordnungspolitisch kann es jedoch nicht zufriedenstellen.

Gegenstand des Urteils war eine Beschwerde gegen das Ankaufsprogramm von Staatsanleihen „Public Sector Purchase Programme (PSPP)“, das mit Beschluss des EZB-Rats vom 4. März 2015 in einer Zeit mit sehr niedriger Preissteigerungsrate von 0,2 Prozent im Euroraum aufgelegt wurde. Mit diesem Programm werden seitdem Staatsanleihen und ähnliche Schuldtitel auf dem Sekundärmarkt, also von Banken, erworben, die von Euro-Mitgliedsländern und ihnen näherstehenden anerkannten Institutionen begeben werden. Ende April 2020 hielten die dem Euroraum angehörenden Zentralbanken (Eurosystem) im Rahmen des PSPP Wertpapiere im Gesamtwert von 2.189.257 Millionen Euro.

Ordnungspolitischer Maßstab

Ordnungspolitisch zentral im Eurosystem ist das Verbot der monetären Staatsfinanzierung, das heißt die direkte Kreditvergabe an öffentliche Haushalte und damit die Trennung von Geldpolitik und Fiskalpolitik. Damit wird die Unabhängigkeit der Zentralbanken im Eurosystem abgesichert und Bestrebungen der Politik ein Riegel vorgeschoben, die Zentralbanken durch Zentralbankgeldschöpfung zulasten der Preisstabilität zur Lösung fiskalpolitischer Probleme zu missbrauchen. Darauf zielend hatten die Beschwerdeführer geltend gemacht, dass das PSPP gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstoße. Vom Verfassungsgericht wird jedoch ausgeführt: Einen Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung konnte der Senat nicht feststellen. In ökonomisch ordnungspolitischer Sicht ist dieser Befund jedoch zu hinterfragen.

Der Senat stellt in der Urteilsbegründung darauf ab, dass bei den Beschlüssen zum PSPP eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, das heißt die erforderliche Abwägung des Einsatzes zur Erreichung einer Inflationsrate von unter, aber nahe 2 Prozent, mit wirtschaftspolitischen Nebenfolgen nicht erkennbar vollzogen wurde. Aus einer Abwägung hätte sich die Berücksichtigung anderer Handlungsoptionen ergeben können. Als mögliche Nebenwirkungen werden unter anderem die Übernahme von risikobehafteten Staatsanleihen in die Bilanzen des Eurosystems, Verlustrisiken für Sparer und Versicherungsnehmer oder Auswirkungen auf Mieter, Aktionäre und Eigentümer von Immobilien genannt.

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet

Die somit „unbedingte“ Verfolgung des mit den Anleihekäufen angestrebten Ziels missachte deshalb den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Europarechtlich brisant – hier jedoch in seinen möglichen Folgen für das Gefüge europäischer Institutionen nicht näher zu erörtern – ist, dass das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass das vorausgegangene billigende Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum PSPP bezüglich der Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips „wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar“ ist. Deshalb ist es, so das Verfassungsgericht, gerechtfertigt, sich von diesem Urteil mit eigenen Überlegungen zu lösen.

Bei den eigenen Überlegungen des Verfassungsgerichts kommt jedoch der ordnungspolitisch relevante Aspekt, ob der unbedingte Einsatz des PSPP ausschließlich der Erreichung des geldpolitischen Primärziels dient, zu kurz. Hierzu wird lediglich festgestellt, dass eine offensichtliche Umgehung des Verbots monetärer Haushaltsfinanzierung vor allem deshalb nicht feststellbar ist, weil das Volumen der Anleihekäufe begrenzt ist, die Käufe nur in aggregierter Form bekanntgegeben werden, Obergrenzen je Wertpapier eingehalten werden müssen, Käufe nach dem Kapitalschlüssel der nationalen Notenbanken getätigt werden und die Anleihen ein Mindestrating haben müssen. Keines dieser Kriterien, ob einzeln oder kumuliert, gewährleistet jedoch, dass mit dem PSPP keine monetäre Staatsfinanzierung auftreten kann beziehungsweise billigend in Kauf genommen wird.

Die EZB rechtfertigte ihre ultralockere Geldpolitik und das PSPP mit einer drohenden Deflation, sodass selbst bei positiven Inflationsraten eine Inflationsrate von nahe 2 Prozent anzustreben sei. Die Entwicklung der Inflationsraten im Euroraum von über 1 Prozent seit 2017 zeigt jedoch, dass die Gefahr einer Deflationsspirale nicht besteht. Selbst für die Corona-Krisenjahre 2020 und 2021 werden Preissteigerungsraten von 1,3 beziehungsweise 1,4 Prozent prognostiziert (Quelle: IWF, EU Kommission, World Economic Outlook, Stand März 2020).

Rechtfertigung des PSPP wird hinterfragt

In einem Memorandum zur EZB-Geldpolitik von Oktober 2019 (www.hanswernersinn.de) aus Anlass der Fortführung der Anleihekäufe, das unter anderen von Otmar Issing und Jürgen Stark, beide ehemalige Mitglieder des Direktoriums der EZB, sowie von Helmut Schlesinger, früherer Präsident der Deutschen Bundesbank, unterzeichnet wurde, kommen die Autoren zu folgenden Schlussfolgerungen:

1) Wenn, wie festzustellen ist, keine Deflationsgefahr besteht, wird die der expansiven Geldpolitik (und damit dem PSPP) zugrundeliegende Logik, höhere Inflationsraten anzustreben, infrage gestellt.

2) Der Verdacht, dass hinter den fortgesetzten Anleihekäufen eine Intention steht, hoch verschuldete Staaten vor höheren Zinssätzen zu schützen, ist daher gut begründet, zumal nach Jahren betriebener lockerer Geldpolitik kaum positive Effekte auf das Wirtschaftswachstum zu erwarten seien.

3) Die EZB habe damit aus ökonomischer Sicht den Bereich monetärer Staatsfinanzierung betreten, was nach dem Vertrag von Maastricht verboten ist.

Im Unterschied zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist danach mit dem PSPP die ordnungspolitisch relevante Verletzung des Verbots der monetären Staatsfinanzierung begründet.

Monetäre Staatsfinanzierung weiter möglich

Es wird nun Aufgabe von Bundesregierung, Deutschem Bundestag und Deutscher Bundesbank sein, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Nach der vom Verfassungsgericht gesetzten Frist von höchstens drei Monaten wäre es der Bundesbank untersagt, an PSPP Programmen mitzuwirken, sofern der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nicht nachvollziehbar darlegt, dass das Programm verhältnismäßig ist.

Gelingt diese Begründung, und das ist das ordnungspolitische Problem, können Käufe unter Mitwirkung der Bundesbank weiterhin vollzogen werden. Damit wäre auch künftig monetäre Staatsfinanzierung möglich, weil das Verfassungsgericht in seinem Urteil eine solche nicht festgestellt hat und demzufolge der vom Gericht aufgezeigte Rahmen der wirtschaftspolitischen Nebenwirkungen zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht auf monetäre Staatsfinanzierung zielt.

Die EZB hat in einer ersten Reaktion auf das Verfassungsgerichtsurteil auf ihre Unabhängigkeit gepocht. Gewiss ist die Unabhängigkeit der EZB und der übrigen Zentralbanken des Eurosystems ein hohes und gut begründetes Gut. Aber zu verantwortungsbewusster Wahrnehmung dieser Sonderstellung als politischer Entscheidungsträger gegenüber Regierungen und Parlamenten gehören auch praktizierte Transparenz und differenzierte, nachvollziehbare Begründung der geldpolitischen Maßnahmen. In großen Teilen wurde das von der EZB auch schon so gehandhabt, ohne sich in der Unabhängigkeit ihrer Entscheidungen gefährdet zu sehen.

Inwiefern sich das Urteil auf das Corona-Hilfsprogramm der EZB auswirken wird, kann jetzt noch nicht beurteilt werden und hängt auch von den weiteren Reaktionen von Europäischem Gerichtshof und Europäischer Zentralbank auf das Urteil ab. Denkbar wäre es, dass die vom Gericht Bundesregierung und Bundestag auferlegte Beobachtungspflicht auch für andere Ankaufsprogramme gelten könnte.

Prof. Dr. Dietrich Schönwitz, Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank i.R., war vormals wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Monopolkommission.

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