Der Versuch, den Begriff des Neoliberalismus zum „Laisser-faire-Kapitalismus“ zu deformieren, zeugt von erschreckender Unkenntnis über die Idee und die Intention der Freiburger Schule, meinen Ulrich Blum und Werner Gleißner. Ein Staat wird stark und robust, wenn er einen wettbewerblichen Ordnungsrahmen setzt, in dem private Akteure die Leistungsfähigkeit schaffen.

Im ntv-Beitrag „Märkte und Staat in Corona-Krise: DIW sieht Sargnagel für Neoliberalismus“ wird Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftswachstum (DIW), wie folgt zitiert: „Ich würde schon sagen, dass die Corona-Krise so etwas wie der letzte Sargnagel für den Neoliberalismus ist.“ Und: „Nun sehen wir: Der Staat ist die letzte Instanz, wenn es darauf ankommt.“ Sowie: „Der Markt kann in entscheidenden Bereichen nicht mehr alleine funktionieren.“ Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) fordert flankierend die Ausweitung der Staatsausgaben zur Stützung der Nachfrage.

Solche Aussagen zeigen zum einen erschreckendes Unwissen darüber, was mit dem Begriff Neoliberalismus im Sinne der Wirtschaftsordnung tatsächlich ausgedrückt wird, und zum anderen Fehler in der ökonomischen Analyse der Ursachen und der Entwicklung der aktuellen Lage. Wissenschaftler sollten sich zudem des Versuchs enthalten, den Begriff des Neoliberalismus zu deformieren und im Sinne eines antikapitalistischen Kampfbegriffs zu verwenden. Hier sprechen wir deshalb vom historisch weitgehend identisch belegten Begriff des Ordoliberalismus. Eine verworrene Sprache und eine falsche Anamnese können keine sinnvolle und wirksame Wirtschaftspolitik entfalten, wie wir im Folgenden zeigen wollen:

(1) Zunächst war der Ordoliberalismus eine Antwort auf die totalitären Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeptionen des Nationalsozialismus und des Sowjetsozialismus. In jedem Fall ist er kein die individuellen Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten begrenzender Kapitalismus – sondern ganz im Gegenteil: Kein ordoliberaler Ökonom wird bestreiten, dass ein effizienter und gut funktionierender Staat mit einem klaren Ordnungsrahmen eine starke Antwort auf den Laisser-faire-Kapitalismus ist. Auch für einen sogenannten „Minimalstaat“ wird das Bereitstellen des öffentlichen Gutes „Sicherheit“ durch private Anbieter als nicht effizient angesehen und damit auch das Gewaltmonopol des Staats betont. Die ordoliberale Position sieht ganz klar die Aufgabe des Staates darin, die knappen Ressourcen, damit vor allem die Steuermittel, für die Schaffung von Sicherheit – also einen robusten Staat – einzusetzen. Es ist ganz selbstverständlich, dass der Staat sich damit speziell mit Krisenprävention und Krisenbekämpfung zu befassen hat – was in keinster Weise gegen ordoliberale Positionen spricht.

(2) Zentrales Element eines robusten Staates, der gegen eine Vielzahl bestehender Extremrisiken und daraus möglicher Katastrophen absichert, ist seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Sie ergibt sich aus „guten“ Institutionen und einer wohlstandsfördernden technologischen Basis, welche das mögliche Angebot an Sicherheit bestimmt. Im globalen Wettbewerb ist diese hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nur gegeben, wenn Gesellschaftsordnung und wirtschaftlicher Rahmen einen hohen Grad an Attraktivität besitzen – es ist ein zentraler Ausweis von sogenannter soft power. Hier geben die Prinzipien des Begründers der Freiburger Schule, Walter Eucken, Hinweise auf wichtige Rahmenbedingungen: ein klar gesichertes Eigentums- und Vertragsrecht sowie nachhaltige Anreize für wirtschaftliches Handeln (und damit das Vermeiden einer unangemessen hohen Belastung durch öffentliche Abgaben). Die „Vorräte“ eines solchen robusten Staats finden sich im finanziellen Spielraum, also einer niedrigen Verschuldung – was die Probleme von Staaten wie Italien in der Corona-Krise demonstriert. So erfordert die wichtige Hilfe bei Kurzarbeit und Liquiditätssicherung der Unternehmen Bonität und Finanzierungsspielraum.

(3) Ein robuster Staat ist nicht nur durch seinen Ordnungsrahmen und seine Finanzausstattung auf Extremereignisse vorbereitet. Er betreibt auch Krisenvorbereitung durch Risikoanalyse und eine darauf aufbauende Präventionspolitik. Gerade die Corona-Krise zeigt, dass dieses mögliche Extremereignis seit rund zehn Jahren bekannt, in einem Fall sogar von der Bundesregierung durchgerechnet wurde, die Empfehlungen aber nicht politisch umgesetzt wurden. Die Folgen reichen von fehlender Schutzkleidung und Gesichtsmasken bis hin zu einer widersprüchlichen Krisenkommunikation. Der Glücksfall einer großzügigen Krankenhausausstattung zeigt, dass möglicherweise die Frage, in welchem Umfang nicht nur Gesundheit ein öffentliches Gut ist, sondern auch die mit ihr verbundene öffentliche Sicherheit, neu diskutiert werden müssen.

(4) Ein robuster Staat kann sich eine adäquate Krisenprävention und schließlich Krisenbewältigung leisten, er ist keiner, der nun einfach „Staatsausgaben“ erhöht und „Nachfrage ankurbelt“. Es geht nicht um höhere Staatsausgaben, sondern um Maßnahmen im Sinne der klassischen Wirtschaftspolitik: erstens ursachengerechtes Handeln, also Aufrechterhaltung und Stärken der Robustheit des Staates, also weitgehend Krisenprävention und Krisenbewältigung – was einer Aufgabe der öffentlichen und privaten Investitionen ist; zweitens kompensatorisches Handeln, im Sinne der Lieferketten vor allem das Aufrechterhalten der betrieblichen Stammbelegschaften durch Kurzarbeitergeld. Da die gegenwärtige Krise eher als Angebotsschock aufzufassen ist, der sich durch die Lieferketten frisst, und der Nachfrageausfall vor allem auf die fehlende Möglichkeit der Bürger zum Einkauf zurückzuführen ist, kann ein „Ankurbeln der Nachfrage“ allenfalls temporär und nach der Lockerung der Schutzmaßnahmen hilfreich sein und findet seine Grenze am parallel zur Krise ablaufenden Strukturwandel, der im Sinne attraktiver neuer Güter nur angebotsseitig zu bewältigen ist. Nicht zu unterschätzen ist eine Krisenkommunikation, die Erwartungen stabilisiert – was sie gegenwärtig nicht leistet. In jedem Fall besteht bei gegenwärtiger Staatsquote und Abgabenlast, bei der Deutschland eine Spitzenstellung unter den OECD-Ländern einnimmt, kein Bedarf an zusätzlicher staatlicher Nachfrage. Vielmehr ist ein Umschichten angesagt: 30 Prozent Ausgaben im Sozialsektor stehen nur 10 Prozent für Katastrophenschutz, Militär, Polizei und Risikoprävention gegenüber. Der Staat ist damit eher ein Umverteiler und nicht ein Anbieter von Sicherheit; seine Prioritäten sind falsch gesetzt.

(5) Der Staat ist nicht unbegrenzt eine Institution, die als letzte Instanz positiv wirkt. Nicht umsonst weisen in Deutschland Gerichte seine Krisenpolitik zunehmend in die Schranken, hat er doch spontan Entscheidungsgremien geschaffen, die von ehemaligen Verfassungsrichtern, die sich möglicherweise freier als im Amt befindliche äußern können, als nicht verfassungskonform eingeschätzt werden; in manchen Nachbarländern ist die Krise eine willkommene Möglichkeit, die Demokratie auszuhöhlen. In jedem Fall ist der Staat kein Reparaturbetrieb fehlerhafter Unternehmensentscheidungen, die auch auf ein unterentwickeltes Risikomanagement zurückgehen – die Dieselkrise lässt hier grüßen.

Zweifelsohne kommt dem Staat, wie in der aktuellen Pandemie, eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung auf und dem Vermeiden oder dem Bewältigen von existenzbedrohenden Krisen zu. Aber blindes bzw. gutgläubiges Staatsvertrauen ist fehl am Platz, wenn man die massiven Fehler in der Krisenprävention oder der anschließenden Krisenkommunikation sieht. Der starke Staat muss im Sinne der Nachhaltigkeit kurzfristige Sozialbedarfe gegen langfristige Sicherheitserfordernisse abwägen – hier liegt aktuell ein Versagenstatbestand vor. Es geht also nicht darum, dass der Staat, wie Marcel Fratzscher und Sebastian Dullien fordern, als Ganzes (noch) mehr ausgibt, sondern vor allem darum, eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, deren Leistungsfähigkeit bei den Privaten durch internationale Wettbewerbsfähigkeit und staatlicherseits durch Krisenvorsorge für die erforderliche Robustheit sorgt.

Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Blum ist Gründungsdirektor des Center for Economics of Materials, Martin-Luther-Universität Universität Halle-Wittenberg und Fraunhofer Gesellschaft, sowie stellvertretender Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Prof. Dr. Werner Gleißner ist Vorstand der FutureValue Group AG sowie Honorarprofessor an der TU Dresden (BWL, insb. Risikomanagement).

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