Friedrich Heinemann beschreibt in seinem Gastbeitrag, wie die Weichen in Richtung einer europäischen Finanzverfassung gestellt werden können, die zwei wichtige Bedingungen erfüllt: demokratische Legitimität und ökonomische Funktionsfähigkeit.

Auf den ersten Blick ist Europas Finanzverfassung im Vergleich zu entwickelten Föderalstaaten in einem embryonalen Stadium. So stehen der EU für ihren Kernhaushalt Ressourcen im Umfang von einem Prozent der Wirtschaftsleistung zur Verfügung. In Deutschland verfügt der Bund ohne Einbezug der Sozialversicherungen über ein Volumen von etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die EU hat damit nicht nur geringe Mittel für die Bereitstellung öffentlicher Güter. Auch bleiben die aus dem Budget finanzierbaren Transfers zwischen Mitgliedsstaaten überschaubar, zumal ein Drittel des Haushalts für den Agrarsektor reserviert ist. All dies beschrankt überdies die Möglichkeiten zur Absicherung von Mitgliedsstaaten gegen asymmetrische konjunkturelle Schocks.

Allerdings ist die europäische Finanzverfassung durch den Blick auf den EU-Kernhaushalt nicht genau beschrieben. Schon immer hat es mit Institutionen wie der Europäischen Investitionsbank oder dem Europäischen Entwicklungsfonds Instrumente außerhalb des Budgets gegeben. In den vergangenen zehn Jahren ist es darüber hinaus zu Innovationen gekommen, die Europas Finanzverfassung in quantitativer und qualitativer Hinsicht umgestaltet haben. Die neuen Instrumente sind nicht alle eindeutig der fiskalischen Ebene zuzurechnen, haben dennoch Bedeutung für die Finanzierbarkeit nationaler Haushalte gerade in hoch verschuldeten Eurostaaten.

Erstens wurde mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in der Euro-Schuldenkrise ein Notfall-Kreditgeber etabliert, dessen Kreditgewährung für einzelne Länder eine erhebliche Größenordnung erreicht hat. So wurden Griechenland aus Mitteln des ESM und anderen Instrumenten des „Rettungsschirms“ Kredite im Umfang von knapp 290 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dies entspricht gut 150 Prozent der aktuellen Wirtschaftsleistung des Landes. Die Kredite sind mit Vorzugskonditionen weit unter dem risikoadäquaten Zins ausgestattet und haben ungewöhnlich lange Laufzeiten.

Zweitens hat die EZB mit ihrem groß angelegten Staatsanleihenkaufprogramm von 2015 bis 2018 zur indirekten Finanzierung der Euro-Mitgliedstaaten beigetragen. Der aktuelle Bestand an Euro-Staatsanleihen in der Bilanz der EZB beträgt zum (vorläufigen) Abschluss des Kaufprogramms am Jahresende 2018 rund 2,17 Billionen Euro. Die höchsten Bestände gemessen am jeweiligen BIP entfallen auf Spanien (21,3 Prozent) und Italien (20,9 Prozent).

Drittens stabilisiert das Target-System, über das der Liquiditätsausgleich unter den Zentralbanken der Eurozone erfolgt, die Fähigkeit der südeuropäischen Banken zur Kreditgewährung an den eigenen Fiskus. Die Refinanzierung dieser Kredite erfolgt zu einem guten Teil durch die über Target fließenden Kredite des Eurosystems. Die Verbindlichkeiten der Banca d’Italia zum Beispiel gegenüber dem Target-System beliefen sich zum Jahresende 2018 auf gut 480 Milliarden Euro. Hinzu kommen Verbindlichkeiten der Zentralbanken Portugals, Spaniens und Griechenlands von zusammen gut 510 Milliarden Euro. Dem stehen Forderungen der Deutschen Bundesbank in Höhe von knapp 970 Milliarden Euro gegenüber; weitere Forderungen liegen bei den Zentralbanken Luxemburgs, der Niederlande und Finnlands.

Hohe De-facto-Transfers

Der alleinige Blick auf das geringe Volumen des EU-Haushalts erweckt den Eindruck, als ob die EU-Staaten eigenverantwortlich für ihre nationale Fiskalpolitik seien und ohne Transfer- und Versicherungselemente auskommen müssen. Tatsächlich verfügt die Eurozone jedoch mit den genannten Mechanismen über Stabilisierungsinstrumente, die in Einzelfällen mit dauerhaften Transferleistungen in beträchtlicher Größenordnung einhergehen. Beispiel Griechenland: Angesichts der langen Kreditlaufzeiten und des fehlenden Risikoaufschlags durch Vorzugszinsen erreicht der verdeckte Transfer an Griechenland eine Größenordnung von gut 50 Prozent des Nominalwerts der ausstehenden Forderungen und damit einen Betrag von deutlich über 100 Milliarden Euro. Die Stabilisierung des Landes haben sich die staatlichen Kreditgeber einen De-facto-Transfer kosten lassen, der etwa der Größenordnung eines jährlichen EU-Budgets entspricht.

Im Fall der EZB-Staatsanleihekäufe und des Target-Systems ist die Transferkomponente nicht so leicht zu beziffern. In den Eigenkapitalvorschriften der europäischen Banken fehlt eine risikoadäquate Behandlung von Staatsanleihen; in der Eurozone gilt die Fiktion, dass Forderungen an Eurostaaten risikofrei sind. Dies begünstigt eine Risiko-Klumpung in den Bilanzen. Die EZB wird für das Risiko, das sie in ihrer Kreditgewährung an Banken eingeht, nicht ausreichend kompensiert. Dies gilt abgemildert auch für die unmittelbaren Anleihekäufe des Eurosystems am Markt. Die Ankaufpreise der Staatsanleihen sind durch die Finanzierungszusage der EZB und das Fehlen von Risikoerwägungen in der Anleiheauswahl verzerrt, sodass die Zentralbanken im Ankauf einen zu hohen Preis zahlen.

Es zeigt sich somit: Die Finanzverfassung der EU ist zumindest für die Länder der Eurozone längst durch umfangreiche Versicherungssysteme gekennzeichnet. Außerdem ermöglicht sie Transfers an Mitgliedsstaaten in einer Größenordnung, die an das Transfervolumen innerhalb entwickelter Föderalstaaten heranreichen oder darüber hinausgehen.

„Die große Herausforderung für die Fortentwicklung der EU-Finanzverfassung ist, die intransparenten Versicherungs- und Transfersysteme in transparente und demokratisch kontrollierte Mechanismen umzuwandeln.“

Nun lässt sich argumentieren, dass das gut für die Funktionsfähigkeit der Währungsunion ist. Auch implizit errichtete Versicherungs- und Transfersysteme können eine sinnvolle ökonomische Funktion erfüllen. Tatsächlich ist es dem Zusammenspiel von ESM und EZB zu verdanken, dass die Eurokrise eingedämmt und Europa vor unabsehbaren ökonomischen und sozialen Kosten bewahrt werden konnte. Die Hilfsleistungen an Krisenstaaten waren mitnichten „Geld in ein Fass ohne Boden“, sondern haben die Eurozone vor einer Abwärtsspirale bewahrt und im Fall von Ländern wie Irland auch wieder zu einer sich selbst tragenden Erholung geführt. Diese Sichtweise dürfte jedoch mit Recht als einseitig ökonomisch und als undemokratisch kritisiert werden. Eine Finanzverfassung für Europa kann nur demokratische Legitimität beanspruchen, wenn sie ein Mindestmaß an Transparenz aufweist. Versicherungsleistungen und Transfers sind legitime Bestandteile einer das Solidaritätsprinzip bejahenden Union, wenn diese Elemente von den Wählern bejaht werden.

Transparenz ist auch ökonomisch hilfreich: Wenn solidarische Ausgleichsinstrumente sichtbar und demokratisch kontrolliert bleiben, schmälert dies die Risiken von Fehlanreizen und „Moral Hazard“. Steuerzahler können den verantwortungsvollen Umgang mit Hilfsleistungen an andere Eurostaaten nur überprüfen, wenn sie diese Leistungen auch wahrnehmen.

Die große Herausforderung für die Fortentwicklung der EU-Finanzverfassung ist, die intransparenten Versicherungs- und Transfersysteme in transparente und demokratisch kontrollierte Mechanismen umzuwandeln. Dabei ist die Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik wieder deutlicher zu markieren. Die zu starke Rolle der EZB für die Haushaltsfinanzierung wird nur zurückgedrängt werden können, wenn der fiskalische Instrumentenkasten der Eurozone fortentwickelt wird.

Es ist richtig, über Instrumente wie eine Europäische Arbeitslosenversicherung oder ein Eurozonen-Budget nachzudenken. Diese Innovationen sollten allerdings in einem Paket mit einer Insolvenzordnung für Eurostaaten und Entprivilegierung von Staatsanleihen in der Bankenregulierung kommen. Ein solches Paket könnte die Weichen stellen in Richtung einer europäischen Finanzverfassung, die zwei zentrale Bedingungen erfüllt: demokratische Legitimität und ökonomische Funktionsfähigkeit.

Prof. Dr. Friedrich Heinemann leitet den Forschungsbereich „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ am Leibniz­ Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim und lehrt Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg.

Dieser Beitrag ist zuerst im Sonderheft „Wohlstand für Alle – 70 Jahre Grundgesetz“ aus dem Jahr 2019 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

DRUCKEN
DRUCKEN