Am 15. Oktober 2014 wurde Prof. Dr. Werner Plumpe, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, in Berlin mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. In seiner Ansprache macht er deutlich, dass erfolgreiche Reformen stets auf dem Boden wirtschaftlicher Vernunft stattfanden. Die preußischen Reformen im frühen 19. Jahrhundert und die Reformen Ludwig Erhards sind Belege dafür.

„Nach eingetretenem Frieden hat Uns die Vorsorge für den gesunkenen Wohlstand unserer getreuen Unterthanen, dessen baldigste Wiederherstellung und möglichste Erhöhung vor Allem beschäftigt. Wir haben hierbei erwogen, daß es, bei der allgemeinen Not, die Uns zu Gebote stehenden Mittel übersteige, jedem Einzelnen Hilfe zu verschaffen, ohne den Zweck erfüllen zu können, und daß es eben sowohl den unerläßlichen Forderungen der Gerechtigkeit, als den Grundsätzen einer wohlgeordneten Staatswirthschaft gemäß sey, Alles zu entfernen, was den Einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maaß seiner Kräfte zu erreichen fähig war.“

Diese bemerkenswerten Sätze fielen 1807 – sie leiten das berühmte Oktoberedikt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. ein, mit dem dieser die Erbuntertänigkeit in seinen Landen aufhob und zugleich die Verfügung über Land endgültig „privatisierte“. Die bislang maßgeblichen Formen gebundenen Eigentums wurden weitgehend beseitigt, die auf dem Land liegenden Verpflichtungen in den kommenden Jahren durch Geldleistungen oder Bodenabgaben abgelöst.

Die preußische Regierung unter Staatskanzler Karl August von Hardenberg beließ es nicht bei der Aufhebung der Erbuntertänigkeit; zugleich wurde die Gewerbefreiheit verkündet und mit der Steinschen Städtereform ein bis heute funktionierendes Modell kommunaler Selbstverwaltung etabliert. Künftig war es in Preußen nicht mehr möglich, Eigentumsrechte an einem Menschen zu haben; dafür aber konnte man fürderhin mit Grund und Boden tun, was man wollte, sofern man die Gesetze respektierte. Auch konnte man jetzt nach eigenem Gutdünken ein Gewerbe betreiben. Weder bedurfte es staatlicher Erlaubnis noch lief ein Adeliger länger Gefahr, seine Standesrechte zu verlieren, wenn er einem bürgerlichen Broterwerb nachging. Und die Bürger verwalteten sich selbst. Zwar war die Staatsverfassung weit davon entfernt, nach unseren heutigen Maßstäben demokratisch zu sein, aber Preußen wurde ein funktionierender Rechtsstaat und das Bürgertum zumindest in der Verfolgung seiner wirtschaftlichen Zwecke frei.

Die Stein-Hardenbergschen Reformen nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon gelten bis heute als gelungene Anpassung staatlicher Strukturen nicht nur an die Zwänge einer Nachkriegssituation, sondern als Beispiel staatlicher Modernisierung schlechthin. Dem preußischen Staat, äußerer Machtmittel weitgehend beraubt, sei gar nichts anderes übrig geblieben, der König sagte es ja selbst, als auf die Selbsttätigkeit der Bürger zu setzen; man sei also mehr der Not als einem klaren Gestaltungswillen gefolgt, betonte die Geschichtswissenschaft lange und ließ nicht nur unterschwellig Kritik spüren an der vermeintlichen Halbherzigkeit der preußischen Reformen. Eigentümlich fasziniert von der anti-aristokratischen Gewaltorgie, die sich nach 1789 im westlichen Nachbarland abgespielt hatte, machten die Reformen einer Geschichtsschreibung, die in Deutschland eine Revolution schmerzlich vermisste, offensichtlich zu wenig her. Nur entscheiden nicht die Motive der Politiker (und auch nicht die späteren Urteile von Historikern, die ohnehin stets mit der Zeit gehen) über den Erfolg politischer Maßnahmen; ginge es danach, dürfte es Fehl- oder Rückschläge nie gegeben haben, ja wäre die Französische Revolution auch in ihren gesellschaftlichen Folgen ein Erfolg gewesen.

Wie die Motive der beteiligten preußischen Staatspolitiker auch gewesen sein mögen: Der Erfolg jedenfalls gibt ihnen Recht. Das Bemerkenswerte an den Preußischen Reformen ist ja auch nicht das kurzfristige Ziel einer angemessenen Reaktion auf die Existenzkrise des Staates nach der Niederlage von Jena und Auerstädt, sondern vielmehr die hierdurch ausgelöste langfristige Transformation von Staat und Wirtschaft sowie die Verankerung bestimmter, konstituierender Regeln für staatliches Handeln. Und das geschah keineswegs zufällig. Die Universität Königsberg – der preußische Hof war vor Napoleon von Potsdam/Berlin in die ostpreußischen Städte Königsberg und Memel ausgewichen – galt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Einfallstor der Ideen von Adam Smith. Hier erschien eine der ersten Smith-Übertragungen ins Deutsche, die die preußische Reformbürokratie, wie Reinhart Koselleck vor langer Zeit bereits betonte, nicht unwesentlich beeinflusst hat.

Liberale Reformen durch aufgeklärte Beamte

Die ältere Tradition eines eudämonischen, merkantilistischen Staatshandelns war eben nicht allein durch ihre Misserfolge und Widersprüche delegitimiert; sie überzeugte schlicht nicht mehr, da die Vorstellung staatlicher Präpotenz in Fragen des ökonomischen Alltagshandelns nach Smith schlicht unvernünftig war. Die Vorstellung, der Staat wisse besser, was dem Bürger wirtschaftlich fromme, als dieser selbst, fand Smith dabei weniger lächerlich als gefährlich. Es waren in diesem Sinne aufgeklärte Beamte, die hinter den preußischen Reformen standen. Es ging ihnen auch keineswegs um irgendein ideologisch fixiertes liberales Programm; es war ihnen schlicht darum zu tun, den Bürgern das Recht zu geben, nach ihren eigenen Vorstellungen zu handeln und dadurch zugleich in wirtschaftlicher Hinsicht den Regeln der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Denn genau hiergegen verstieß ein durch Herkunft und Sitte bestenfalls camoufliertes Privilegienregime, dessen Institutionen nicht einmal mehr denen wirklich nützten, die sie zu schützen vorgaben. Die Französische Revolution war dabei das Menetekel: Sollte es nicht gelingen, Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend zu reformieren, drohte der Umsturz.

Denn Frankreich war keineswegs ein Land, in dem es vor der Revolution keine klugen Reformversuche gegeben hatte – im Gegenteil. Nur waren die führenden Köpfe dieser Reformen, vor allem Anne Robert Jacques Turgot, letztlich am Status quo gescheitert, an den beharrenden Kräften, die aus den gegebenen Verhältnissen noch Vorteil zogen, obwohl der schwierige Zustand von Wirtschaft und Finanzen in Frankreich offensichtlich war. Das Buch von Alexis de Tocqueville über den alten Staat und die Revolution ist bis in unsere Tage ein Lehrbuch darüber, was passiert, wenn Reformen verweigert werden oder halbherzig bleiben, wenn der Status quo sich trotz aller Kritik weiter durchsetzt, vielleicht und gerade auch deshalb, weil man sich nicht vorstellen kann, dass Alternativen möglich sind. Und das französische Beispiel zeigt: Ausgebliebene Reformen können zum Ausbruch von Revolutionen beitragen. Doch sind Revolutionen keineswegs sprunghaft nachgeholte Reformen. Sie haben ein zerstörerisches Potential, das weit über das hinausgeht, was Reformen beabsichtigten, die von den Revolutionären auch zumeist als eben halbherzig verlacht werden. Man lese nur Edmund Burkes englische Sicht auf den revolutionären Gang der Dinge südlich des Kanals, die eben keineswegs den Regeln wirtschaftlicher Vernunft folgten.

In dieser Hinsicht waren die Bedingungen für die preußischen Reformen besser, da die alte friderizianische Welt von Verwaltung und Militär, die letztlich nur noch vom Ruhm der Taten Friedrichs des Großen gelebt hatte, mit der Niederlage gegen Napoleon ihre Stimme verlor. Zumindest insofern profitierte man in Preußen von den Folgen der Revolution. Der Einflussverlust der herkömmlichen Adelsposition in Preußen sollte zwar nicht ewig, aber lang genug dauern, um entscheidende Änderungen in der Wirtschaftsverfassung durchzusetzen. Das Schicksal des Friedrich August Ludwig von der Marwitz, eines der Anführer der landständischen Adelsopposition gegen die Aufhebung des alten Rechts in Preußen, ist bezeichnend. 1811 ließ ihn der preußische Kanzler von Hardenberg zusammen mit weiteren „Frondeuren“ kurzerhand in der Spandauer Zitadelle festsetzen. Marwitz, der lieber ehrenhaft als untertänig war, ein Liebling Theodor Fontanes nebenher, kam nach Intervention des Kronprinzen, des späteren Königs Friedrich-Wilhelm IV., bald wieder frei.

Doch änderten alle Verzögerungsversuche und alle Verhandlungserfolge der Adelsopposition in der späteren Regulierungsgesetzgebung nicht, dass sich in Preußen seit 1807/11 als Folge der Reformen eine „institutionelle Revolution“ vollzog, wie Clemens Wischermann und Anne Nieberding das ausgedrückt haben, von der zumindest bis 1914 die gesamte staatliche Wirtschaftspolitik geprägt blieb. Es entstand eine liberale, bürgerliche Marktgesellschaft, gestützt auf einen starken, normsetzenden Staat, der sich gerade in der Krise durch seine Reformbereitschaft neu erfand. Dieses Selbstverständnis, auch eine Folge der von der Reformbürokratie beabsichtigten Verbindung der Ideen von Adam Smith und Georg Friedrich Wilhelm Hegel, wenn man so will, bestimmte den Rahmen einer wirtschaftspolitischen Pragmatik, die sich auch weiterhin als überaus reformfähig erwies. Es ging geradezu in das Selbstverständnis des preußischen Staates über, letztlich aus konservativen Motiven heraus zum permanenten Reformzentrum zu werden, sicher auch, um Revolutionen wie die in Frankreich zu vermeiden.

Maßstab des Handelns blieb dabei stets die wirtschaftliche Vernunft, sicher stets nach den Kriterien der Zeit verstanden, doch welch andere hätte man wählen können. Die liberale Zollpolitik, die Bestimmungen des Zollvereins, das Handelsgesetzbuch, die Gewerbeordnung für den norddeutschen Bund und schließlich die lange Weigerung, ein umfassendes Patentrecht zu erlassen, sind nur in dieser Tradition zu begreifen. Noch die Bismarcksche Sozialpolitik, der man zu Unrecht viel von dem ankreidet, was erst Bismarcks Nachfolger zu verantworten haben, hatte Elemente dieser Tradition. Doch ließ spätestens im Kaiserreich die Reformdynamik nach, die es nebenher im Bereich der politischen Verfassung nicht gab.

Erfolgreiche Reformprojekte und ihre Voraussetzungen

Wann kommt es also zu und wann gelingen Reformen? Dieser durchaus aktuellen Frage kann mit Hinweisen auf das später 18. und das frühe 19. Jahrhundert nicht einfach als beantwortet gelten, aber Hinweise gibt es schon. Offenkundig ist es hilfreich, wenn die am Status quo interessierten Kräfte delegitimiert und zumindest teilweise entmachtet sind. Offensichtlich ist es zweitens hilfreich, wenn die Reformprojekte von einer klaren Kritik der bisherigen Strukturen ausgehen, also nicht „irgendwie“ „die“ Gesellschaft verändern wollen, die zukünftigen Entwicklungen aber pragmatisch sehen, die Reformen mithin nicht, wie man heute sagt, ideologisch überhöhen. Und drittens scheint zumindest für das 19. Jahrhundert der Tatbestand evident zu sein, dass jene staatliche Reformen erfolgreich waren, die auf die Etablierung einfacher, klarer und liberaler Handlungsregeln zielten, nicht aber dieses Handeln materiell selbst (in der Regel durch großen Aufwand) zu beeinflussen suchten. Insofern waren erfolgreiche Reformen durchweg preiswert zu haben; ja überhaupt war der Staatsaufwand im 19. Jahrhundert niedrig – im Übrigen nicht nur in Deutschland, wo die entsprechende Ziffer (Staatsanteil am BIP) je nach Schätzung zwischen 14 und 16 Prozent liegt. Großbritannien hatte vor 1914 eine noch geringere Staatsquote, von den USA ganz zu schweigen.

Das 20. Jahrhundert kannte viele große Reformprojekte (hier allein für Deutschland betrachtet): nach 1918, nach 1948, noch einmal 1969 und schließlich auch die mit Namen Peter Hartz verknüpften Gesetze der Jahre 2003 bis 2005. Das Schicksal dieser Projekte ist bemerkenswert. Erfolgreich waren im Grunde nur die Reformen Erhards und der rot-grünen Bundesregierung, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht. Ein Blick auf Ludwig Erhard ist hier und heute vielleicht nicht fehl am Platze. Erhards Reformen begannen mit einer monetären Komplett-Enteignung der Bevölkerung, der Währungsreform vom Juni 1948. Der revolutionäre Akt Erhards war allerdings nicht die Währungsreform selbst, die hatte die US-Besatzungsmacht konzipiert und zu verantworten, sondern die Nutzung der Chance, mit der Tradition der politischen Wirtschaftssteuerung radikal brechen zu können, und das, obwohl die Mehrzahl der Auguren schon aus Kriegsfolgenbewältigungsgründen glaubte, unbedingt an der staatlich gelenkten Wirtschaft festhalten zu müssen. Erhard scherte das alles nicht und er nutzte die Gunst der Stunde, in der er gestützt auf die Autorität der Besatzungsmächte geradezu einen Überraschungscoup landen konnte – mit dem er wider alle Erwartung erfolgreich war.

Von Ludwig Erhard zur Politik der Gesellschaftsgestaltung

Betrachtet man Erhards Weichenstellungen näher, erkennt man in ihnen wieder diese Mischung aus unmittelbarer Problemlösung und mittel- bis langfristigem Konzept. Was dabei lange übersehen wurde, obwohl Erhard eigentlich erst in dieser Perspektive verständlich wird, ist die Ähnlichkeit zu den zuvor geschilderten Reformprojekten: Im Grunde kehrte Erhard in das liberale 19. Jahrhundert zurück, wenn jetzt auch mit besseren theoretischen Argumenten, die er aus der Freiburger Schule erhielt: Der Staat garantiert die Ordnung und hält sich aus dem wirtschaftlichen Alltag aber heraus.

Ganz so neu war das freilich nicht; schon der Wirtschaftshistoriker, Smith-Kommentator und Goethe-Freund Friedrich Georg Sartorius hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewarnt, dass die Marktteilnehmer durchaus nicht an funktionierenden Märkten, sondern an ihren eigenen Vorteilen orientiert seien. Erhards Konzept funktionierte, und vor allem: es war preiswert, zumindest für den Staat. Die Reformen 1948/49 kosteten nicht nur kein Geld, sie sparten sogar zahlreiche Bürokratieausgaben einfach ein. Entsprechend war der Staatsanteil am BIP in den 1950er Jahren zwar höher als vor 1914, aber er nahm nicht zu. Und auch die mit der Währungsreform verbundene Entschuldung des Staates bescherte ihm zwei Jahrzehnte weitgehend schuldenfreier Existenz.

Erhard lag an der Freisetzung des ökonomischen Potentials; er betrieb keine Gesellschaftsreform oder ein explizites Programm zur Besserung der Menschheit. So etwas wollte erst die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, die freilich eine funktionierende Wirtschaft als gegeben unterstellte, deren Belastbarkeit es vielmehr zu testen galt. Es war nebenher einer der großen Irrtümer der 1960er Jahre, zu glauben, die Wirtschaft sei auf einem stabilen Weg, der letztlich dahin führte, dass selbst die Unterschiede zwischen großen Systemen technokratisch eingeebnet würden.

Diese Geringschätzung der Bedingungen des wirtschaftlichen Erfolges sollte Folgen haben. Denn die Kräfte, die man so entfesselte, waren kaum zu bändigen. Das sich zuzutrauen, war der große Irrtum des Karl Schiller. Seine Konzertierte Aktion scheiterte. Stattdessen liefen der sozialliberalen „Verschuldungskoalition“, wie es der Kölner Historiker Hans-Peter Ullmann nennt, die Ausgaben aus dem Ruder. Die regulären Einnahmen des Staates reichten, trotz ihres fortlaufenden Anstieges, nicht mehr aus, um das ambitionierte Reformprogramm zu finanzieren. Die Staatsschulden, zu Anfang bewusst in Kauf genommen, nahmen deutlich zu; die wirtschaftlich schwierigen 1970er Jahre taten das Ihre dazu, dass sich bald Nüchternheit breit machte: Offensichtlich war die Wirtschaft doch nicht so belastbar, wie Jochen Steffen geglaubt hatte.

Aber die einmal gerufenen Geister wurde man in Form dauerhafter Zahlungsverpflichtungen nicht mehr los, auch wenn die Regierung Kohl, die bemerkenswerter Weise trotz großer Ankündigungen einer „geistig-moralischen Wende“ und einiger Privatisierungen kein wirkliches Reformprojekt zustande brachte, das alles mehr schlecht als recht zu deckeln versuchte. Spätestens mit der Wiedervereinigung setzte die Politik der Gesellschaftsgestaltung durch Staatsverschuldung erneut ein. Da das alles den Status quo nicht zu gefährden schien, im Gegenteil die Regierung sogar im Amt hielt, schien es kein Problem zu geben: „Die Rente ist sicher“, sagte Norbert Blüm. Wirtschaftlich vernünftig war das nicht, und das war auch den meisten Beobachtern klar.

In dieser Hinsicht war die Regierung Schröder aus anderem Holz geschnitzt. Sie brachte das Kunststück einer an den Regeln wirtschaftlicher Vernunft orientierten Arbeitsmarktreform zustande, obwohl ein Weitermachen wie bisher politisch wahrscheinlich ratsamer gewesen wäre. Erstaunlich ist die Reformpolitik der Regierung Schröder eben genau darum: Ihr standen – im Gegensatz zu den Nachkriegsreformen nach 1807 und 1948, die auch der Not der Stunde gehorchten – viel bequemere Alternativen offen. Aber die Regierung Schröder war offensichtlich bereit, den Preis für harte Reformen zu bezahlen, die nicht auf Wohltaten, sondern auf klare Regeln setzen. Das gibt insofern Anlass zur Hoffnung: Es bedarf offensichtlich nicht erst verlorener Kriege, um durchgreifende, an der wirtschaftlichen Vernunft orientierte Reformen zu ermöglichen.

Vernunft als Basis der Wirtschaftspolitik

Nun mag man einwenden, dass auch das Beschwören der „wirtschaftlichen Vernunft“ ideologisch sei, dass eine derartige Erhebung der Vernunft in der Paradoxie ende, dass es ja keineswegs immer vernünftig sein müsse, vernünftig zu handeln. Schließlich würden die dümmsten Bauern die dicksten Kartoffeln ernten. Das ist alles richtig: Aus der „Vernunft“ ein umfassendes Programm zu machen, wie es die Aufklärung tat, endet in der Romantik. Aber worum es hier geht, ist im Grunde viel einfacher. Ökonomie ist im Kern immer Problemlösung – sie hat in ihrer materiellen Performanz eine unhintergehbare praktische Referenz, die zu berücksichtigen und von der auszugehen eben die Vernunft ökonomischen Handelns bestimmt. Das ist nicht immer einfach und schon gar nicht immer eindeutig.

Wirtschaftspolitik ist im Kern „Politik“ – „Staatskunst“ hätte man früher gesagt – und insofern ist sie von politischen Mehrheiten abhängig. Doch sind diese nur Rahmenbedingungen, keine inhaltlichen Bestimmungen. Wahlergebnisse sind eben keine sinnvolle Referenz für wirtschaftspolitisches Handeln, sondern nur dessen Voraussetzung. Man kann es auch so formulieren: Reformprojekte, welche mit Blick auf andere Zwecke die Ökonomie entweder unterschätzen nach dem Motto: „Das läuft schon“, oder sie überschätzen, indem sie der Wirtschaft eine zu bändigende, ja geradezu dämonische Bedeutung beimessen, scheitern zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht. Denn das eine führt zu Nachlässigkeit, das andere zu ideologischem Reformeifer – beides keine klugen Ratgeber einer vernünftigen Wirtschaftspolitik. Und beides ist sehr teuer! Die Ergebnisse der wirtschaftshistorischen Forschung sind in dieser Hinsicht ganz eindeutig, beziehen sich freilich auf die Vergangenheit. Rezepte für die Gegenwart liefern sie nicht, können aber die Sensibilität für die Horizonte des Möglichen und des Sinnvollen schärfen und insofern vielleicht vor Irrtümern schützen.

Wenn meine publizistischen Texte, die sich ja stets an der keineswegs einfachen, und vor allem nicht eindeutigen Bruchkante von Wissenschaft und Zeitdiagnostik bewegen, zu einer derartigen Sensibilisierung beitrügen, wäre ihr Zweck erreicht. Insofern sehe ich in dem Preis, der mir heute verliehen wird, eine Ermutigung, mit der ich gar nicht gerechnet hatte. Mein Dank ist deshalb nicht geringer, der Dank an die Stiftung und insbesondere an die Jury, meinen Arbeiten eine so große Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, aber auch der Dank an die Leser und die Öffentlichkeit, deren zumeist wohlwollendes Interesse an der Wirtschaftsgeschichte im weiteren Sinne dies alles erst möglich gemacht hat. Ihnen allen gelten mein Dank und meine Verbundenheit!

Neben Prof. Dr. Werner Plumpe wurde Wolfgang Clement, Ministerpräsident a.D. und Bundesminister a.D., mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik 2014 ausgezeichnet.

Fotos von der Preisverleihung finden Sie hier.

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