Vor 75 Jahren begann im völlig zerstörten Nachkriegsdeutschland das Experiment der Sozialen Marktwirtschaft. Ludwig Erhard gab den Startschuss für eine Ordnung des Wettbewerbs, die den damaligen Mangel rasch beseitigte.

Als Ludwig Erhard mit seinem Projekt Soziale Marktwirtschaft begann, musste er gegen den Zeitgeist handeln. Zusätzlich zur bereits durch die Alliierten vorgesehenen Währungsreform schob er eine Wirtschaftsreform an: die freie Preisbildung zu ermöglichen und von der Warenbewirtschaftung, der staatlichen Preisfestsetzung, wegzukommen. Viele dachten, dass der Staat besser geeignet sei, die Verwaltung des Mangels, die richtige Verteilung knapper Güter in der Not nach dem Zweiten Weltkrieg, zu organisieren.

Erhards Überzeugung war, dass die Preisbildung freigegeben werden muss, damit die Initiative, der Fleiß, die Ideen der Menschen sich wieder in einer besseren Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen auswirken können. Das war eine Art kompromissloser, früher Bürokratieabbau und notwendig, um einer freiheitlichen Ordnungspolitik den Weg zu bereiten. Nicht Division, sondern Multiplikation des Sozialproduktes, nicht Zuteilungs- und Mangelwirtschaft, sondern Wohlstand durch Wachstum war die Formel seines Erfolges. Also Wohlstandsmehrung durch Expansion statt unfruchtbaren Streits über eine andere Verteilung des Sozialproduktes.

Wettbewerb und Leistungswille sind soziale Kategorien. „Wohlstand für Alle“ und Wohlstand durch Wettbewerb gehören untrennbar zusammen. Das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg. Zuerst kommt die private Leistung und die Belohnung der Marktteilnehmer für ihre erbrachte Leistung und danach der soziale Ausgleich. Das ermöglicht, die Innovation, den Erfindergeist, die Anstrengungs- und Risikobereitschaft der Menschen zur Wohlfahrt aller bestmöglich zu nutzen.

Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass das „sozial“ vor Marktwirtschaft nicht Attribut, sondern Einschränkung sei. Oft wird auch einfach „Marktwirtschaft“ oder „Kapitalismus“ gesagt, aber doch auch die Soziale Marktwirtschaft damit gemeint. Dabei ist nach der Überzeugung Ludwig Erhards und anderer Vordenker die Marktwirtschaft auch an sich sozial. Denn sie kommt dem Ziel, Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen und zugleich die Solidarität aller Menschen bestmöglich zu verwirklichen, am nächsten. Dadurch, dass der Markt und einzelne Unternehmen ihre gesellschaftliche Aufgabe dann wahrnehmen, wenn sie eine vielfältige, preiswerte und innovative Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sicherstellen. Genau das leistet die Marktwirtschaft im Gegensatz zur Plan- und Staatswirtschaft.

Die Soziale Marktwirtschaft und damit unser aller Wohlstand gründet sich also auf die Initiative jedes einzelnen Menschen. Sie ist sozial als eine Art Demokratie der Verbraucher: Der Unternehmer kann nicht einfach seine entstandenen Kosten plus einen selbst definierten Gewinn zum Preis machen. Vielmehr muss er sich ständig am Markt beweisen, ist gezwungen, seine Angebote zu optimieren, sodass sie preiswert und gut genug sind, dass die Verbraucher sie kaufen möchten. Diese Erfolgsformel hat Deutschland einen beispiellosen sozialen Frieden gebracht, um den uns viele unserer Nachbarn und andere in der Welt beneiden. Die junge Bundesrepublik versöhnte sich eine Zeit lang mit der Marktwirtschaft.

Was bedeutet, um es hier nur beispielhaft zu skizzieren, die Soziale Marktwirtschaft als „offenes Ordnungssystem“, als „der Ausgestaltung harrender, progressiver Stilgedanke“ (Müller-Armack) für aktuelle Herausforderungen? So wenig der Aufschwung damals etwas Wundersames war, so wenig führt die Transformation hin zur Klimaneutralität per se zu einem neuen „Wirtschaftswunder“. Das bloße Ersetzen des Kapitalstocks und das zu höheren Kosten ist kein Ersatz für effiziente Wertschöpfung. Damals wie heute braucht es Wertschöpfung durch Arbeit, Investitionen und Innovationen in einem Rahmen konstanter Ordnungspolitik. Knappheiten und externe Effekte wie Emissionen anzuzeigen ist Aufgabe des Preises, nicht von Politik und Verwaltung wie in einer Planwirtschaft. Wenn Energie knapp und zu teuer ist, gilt es das Angebot auszuweiten z.B. durch Nutzung aller Erzeugungsoptionen einschließlich der Kernkraft. Ein Industriestrompreis ist ein ebenso untauglicher wie unsozialer Ersatz für eine marktwirtschaftliche und technologieoffene Energiepolitik. Die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und ein Klima der Wertschätzung für Leistungsfreude und Unternehmergeist gehören auf die Agenda. Auch heute kommt der Sicherung der Geldwertstabilität eine Schlüsselrolle zu. Eine angebotspolitische Wende tut not.

Die Systemfrage wurde 1989 eindeutig beantwortet von den Menschen im Osten unseres Landes und in Ost- und Mitteleuropa. 1989 war indes nicht das Ende der Geschichte, sondern eher ihr Neubeginn. Wir sind deshalb herausgefordert, die Vorzüge der Sozialen Marktwirtschaft immer wieder neu zu beweisen und zu erklären. An diese Tage vor 75 Jahren zu erinnern ist kein romantischer Spleen, sondern hochaktuell. Mut zur Freiheit und Aufbruchsgeist bräuchten wir heute wieder. Die Soziale Marktwirtschaft ist die bessere Marktwirtschaft, aber sie muss die bessere Markt-Wirtschaft bleiben!

Linda Teuteberg MdB ist Stellvertretende Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V. und Mitglied des Bundesvorstandes der Freien Demokraten.

Der Artikel erschien am 21. Juni 2023 in der WirtschaftsWoche.

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