Die schwere Krise in Griechenland offenbart zahlreiche Probleme in der Europäischen Union insgesamt – die EU, ein Scherbenhaufen? Ob Ludwig Erhard Hinweise zur Bewältigung der verfahrenen Situation geben kann?

Momentan steht in Europa nicht alles zum Besten…
Ein bürokratisch manipuliertes Europa, das mehr gegenseitiges Misstrauen als Gemeinsamkeit atmet und in seiner ganzen Anlage materialistisch anmutet, bringt mehr Gefahren als Nutzen mit sich.

Also müssten mehr Bereiche den nationalen Regierungen entzogen werden?
Die Vorstellungen, dass fortschreitend einzelne Sachbereiche der nationalen Souveränität entzogen und supranationaler Verwaltung übergeben werden sollten und dass dann von einem bestimmten Augenblick an das Gewicht des supranationalen Einflusses automatisch zu einer totalen Überwindung nationaler Zuständigkeiten führen würde, erscheint mir wenig realistisch.

Dann stecken wir europapolitisch in einer Sackgasse?
An sich erscheint der derzeitige Zustand Europas gar nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt, wie zerrissen dieses Europa gewesen ist und es auch heute noch ist. Wie viel an Dogmatik hat sich doch in den einzelnen europäischen Volkswirtschaften ausgetobt, wie unterschiedliche Vorstellungen von wirtschafts- und finanzpolitischen Möglichkeiten sind doch lebendig, und wie viele Theorien bewegen die Geister!

Das einheitliche Europa – ein Trugbild?
Ich habe immer den Standpunkt vertreten, dass man von einem Europa erst dann sprechen könne, wenn jeder Bürger in jedem anderen Lande freie und gleiche Betätigungsmöglichkeiten findet. Solange dies nicht der Fall ist, ist unser Bekenntnis letztlich nicht ehrlich. Solange wir nicht den Mut haben, an diese neuralgischen Punkte heranzugehen, scheint mir ein allgemeines Integrationsgerede oder ein perfektionistischer Mechanismus rein ökonomischer Verfahrensregeln wenig geeignet zu sein, das politische, ökonomische und soziale Ziel gleichermaßen zu erreichen. Soweit alle Bemühungen, zur Integration Europas zu gelangen, überhaupt auf einen Nenner gebracht werden können, so auf den: Verwirklicht die Freiheit in allen Lebensbereichen!

Eine eher grundsätzliche Frage: Was hat in Ihren Augen Vorrang – Politik oder Wirtschaft?
Politik und Wirtschaft können nicht als isolierte und voneinander unabhängige Bereiche gesehen werden. In einem freiheitlichen Gemeinwesen darf weder die Wirtschaft der Politik untergeordnet noch die Politik primär wirtschaftlichen Erwägungen unterworfen werden. Die im Bereich des Politischen geltenden Freiheitsrechte des Einzelnen müssen ihre Anwendung auch im Bereich des Wirtschaftlichen finden.

Forderungen nach staatlich organisierter, umfassender sozialer Sicherheit werden immer mit dem Hinweis auf die Pflicht zur Solidarität rechtfertigt. Passt diese Argumentation zur Sozialen Marktwirtschaft, wie Sie sie verstehen?
Staatlicher Zwangsschutz hat dort haltzumachen, wo der Einzelne und seine Familie noch in der Lage sind, selbstverantwortlich und individuell Vorsorge zu treffen. Jeder staatliche Eingriff bedeutet eine Einschränkung der menschlichen Grundfreiheit, eine Aushöhlung des Rechts auf freie Entfaltung. Das heißt nicht, dass die Wirtschaft sich selbst und damit dem Recht des Stärkeren überlassen bleiben soll. Unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung muss durch staatliche Autorität gesichert werden.

Sie wollen also keinen schwachen Staat?
Gerade die Industriegesellschaft braucht einen starken Staat. Je größer der Druck der Verbände und Gruppen auf den Gang der Politik, umso entschiedener ist es allen verantwortlichen Kräften – und in besonderem Maß der Bundesregierung – aufgegeben, für die Respektierung des Gemeinwohls Sorge zu tragen.

Wie beurteilen Sie eine Wirtschaftspolitik, die vermeintliche Wohlfahrt durch Schulden finanziert?
Auch Schulden müssen einmal zurückgezahlt werden. Dann haben wieder die Bürger für begangene Fehler zu büßen. Zu einer guten Wirtschaftspolitik gehört deshalb auch der Mut zum Widerstand und auch zur Unpopularität.

Unpopuläre Wahrheiten erfordern aber politische Standfestigkeit. Wo sehen Sie die größten Mängel?
„Weniger arbeiten“, „besser leben“, „mehr verdienen“, „schneller zu Reichtum gelangen“, über Steuern klagen, aber dem Staat höhere Leistungen abverlangen – das alles kennzeichnet zusammen eine geistige Verirrung und Verwirrung, die kaum noch zu überbieten ist. Auf die Spitze getrieben kann sie die Grundfesten unserer gesellschaftlichen Ordnung zerstören.

Sie verstehen Ihre Soziale Marktwirtschaft als freiheitliche Ordnung. Gehört das von Ihnen Kritisierte nicht zur Freiheit des Einzelnen?
Wir laufen Gefahr, in einem beziehungslosen Individualismus zu ersticken. Und zwar deshalb, weil wir den Begriff der Freiheit falsch verstehen. Wir reden uns gegen besseres Wissen – und wohl auch gegen unser Gewissen – aus reinem Egoismus ein, dass mit der Freiheit auch das Recht verbunden sei, ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft und den Staat das zu tun oder zu lassen, was dem Einzelnen oder der Interessengruppe gerade passt. Das ist für mich falsch verstandene Freiheit.

Und was ist mit dem Sozialen in Ihrer Marktwirtschaft?
Eine moderne Sozialpolitik hat danach zu trachten, dass sich jeder als freier selbstverantwortlicher Staatsbürger in der Gemeinschaft bewegen kann. Das setzt aber eine leistungsfähige und krisenfeste Wirtschaft voraus. Diese an sich so einfache, aber im politischen Bereich doch immer wieder missachtete Wahrheit kann nicht oft und deutlich genug herausgestellt werden. Darüber sollte so wenig zu streiten sein wie über das kleine Einmaleins.

Europa, Globalisierung der Märkte, technischer Fortschritt und mehr – welcher Einfluss bleibt dem Einzelnen denn auf wirtschaftliche Entwicklungen noch?
Die Entwicklung der Wirtschaft ist und bleibt – trotz aller technischen und ökonomischen Zwangsläufigkeit – letztlich abhängig von den freien Entscheidungen der Menschen. Nicht irgendein dumpfes Schicksal, sondern das Verhalten der wirtschaftenden Menschen und die Entscheidungen der politischen Instanzen bestimmen Richtung und Ordnung der Wirtschaft.

Eine letzte Frage: Tragen Politiker eine besondere Verantwortung?
Das Vertrauen in unseren Rechtsstaat ist nur so lange gesichert, wie die politisch Verantwortlichen durch ihr eigenes Verhalten das gute Beispiel vorleben.

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