Die Reden zum 1. Mai waren an vielen Stellen geprägt von der Forderung nach der Vier-Tage-Woche, selbstverständlich bei vollem Lohnausgleich. Die SPD-Vorsitzende unterstützt die Forderung, ihr Parteifreund und Arbeitsminister ist skeptisch. Was geschieht da gerade?

Bevor man in die Mathematik von Tarif-Verhandlern einsteigt, die eigentlich nur um „Geld pro Stunde“ verhandeln und es für eine gute Idee halten, die Tariferhöhung durch weniger Stunden für das gleiche Geld zu erzielen, muss man sich der Frage grundsätzlicher nähern. Arbeit ist Emanzipation von Abhängigkeit und eine traditionelle Strategie zur Bestimmung des eigenen Platzes in der Gesellschaft. Und: Erfüllte Arbeit macht glücklich.

Arbeit ist Produktionsfaktor und persönliche Erfüllung zugleich

Heute kommt es einem allerdings so vor, als fielen wir in die Denkformen des frühen Feudalismus zurück. Dort war Arbeit eines freien Bürgers unwürdig, sie war den Leibeigenen zugewiesen. Arbeit machte unwürdig und adelte nicht. Erst zu den Zeiten der Reformation änderte sich die Wahrnehmung. Arbeit war Gottes Gebot für alle Menschen ohne Unterschied ihres Standes. Der Puritanismus entwickelte ein strenges Bild des „Berufsethos“, der die Wertschätzung im Hier und Heute, aber auch im ewigen Leben nach der Beschwerlichkeit der Arbeit bewertete. Unter Adam Smith und auch Karl Marx wurde die Arbeit sodann zum Produktionsfaktor, der – neben Kapital und Boden – über den individuellen und gesellschaftlichen Wohlstand entscheidet. Nach der katholischen Soziallehre gilt sogar das Prinzip des Vorranges der Arbeit vor dem Kapital. Kapital „ist nur eine Summe von Dingen. Der Mensch als Subjekt der Arbeit… er allein ist Person.“ (Johannes Paul II: „Laborem exercens“, 1981)

Heute jedoch ist die schon lange gebräuchliche Fragefloskel, ob wir „leben, um zu arbeiten“ oder ob „wir arbeiten, um zu leben“, auf der Tagesordnung. Unter dem Stichwort der „Work-Life-Balance“ scheint der allgemeine Traum von Wohlstand darin zu bestehen, möglichst wenig Zeit in seinen Beruf stecken zu müssen.

Das wird nicht funktionieren. In einer freiheitlichen Gesellschaft, einer Sozialen Marktwirtschaft, ist der Begriff der Arbeit mit dem Begriff der Würde des Menschen verbunden. Arbeit darf nicht unterjochen oder ausbeuten. Arbeit muss den körperlichen und geistigen Fähigkeiten entsprechen. Jedermann steht eine angemessene Ausbildung zu, und der Arbeitsprozess muss Eigenverantwortung und Mitbestimmung respektieren. Aber Arbeit wird gebraucht!

Arbeitszeit ist Wettbewerbsfaktor

Wir sind einer der teuersten Produktionsstandorte der Welt. Wir sind auch eine der am schnellsten alternden Gesellschaften. Die einzige Möglichkeit zur Aufrechterhaltung und Vermehrung des Wohlstandes ist die Arbeit. Bei der Bekämpfung der Altersarmut wird gerade deutlich, dass ohne eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine Lösung undenkbar ist. Die vor wenigen Wochen bekanntgewordene Studie, dass nur eine deutliche Reduzierung der Teilzeitbeschäftigungen bei Lehrern zu einer Verbesserung bei dem Lehrermangel führen kann, ist ein weiterer neuer Stimulus in dieser Diskussion.

Diejenigen, die darauf bauen, dass der Staat ihre reduzierte Arbeitszeit und damit fehlenden Rentenanwartschaften ausgleicht; die meinen der Arbeitskräftemangel könne durch Zuwanderung gelöst werden, und den vollen Lohnausgleich für weniger Arbeit könnten ja die Arbeitgeber von ihren Gewinnen bezahlen, erliegen einem schweren Irrtum. In jedem Fall kommt diese „Milchmädchenrechnung“ bei jedem einzelnen von uns an: Mit steigenden Staatsschulden steigt die Inflation, mit steigenden Produktionspreisen auch. Am Ende ist es ein Verlust an Realeinkommen, gerade für die geringer Verdienenden. Es ist ein allgemeiner Rückgang des Wohlstandes, der durch das „Genießen“ von Freizeit bestenfalls von der Oberklasse unserer Zeit verkraftbar ist.

Vor rund 150 Jahren lag die Wochenarbeitszeit bei etwa 80 Stunden. Da will nun wirklich niemand hin. In Deutschland ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 41,9 Stunden in 2008 auf 40,5 Stunden in 2021 gesunken. Wir arbeiten 1.349 Stunden im Jahr. Die jährliche Arbeitszeit in Großbritannien dagegen beträgt 1.497 Stunden, in den USA 1.791 und in Südkorea 1.915 Stunden. Das müssen wir hierzulande durch schnelleres und besseres Arbeiten (höhere Arbeitsproduktivität) aufholen. Und das hat Grenzen. Der CEO des Stellantis-Konzerns, zu dem heute der Automobilhersteller Opel gehört, hat vor wenigen Tagen Deutschland als das Land bezeichnet, in dem es am teuersten ist, Autos zu bauen. Dieser Realität müssen wir uns stellen.

Unser Leben bleibt von Arbeit geprägt

In diesen Zusammenhang gehört die deutsche Debatte um die Vier-Tage-Woche ebenso wie die französische Diskussion um eine längere Lebensarbeitszeit. Vielleicht wäre es eine Alternative, an vier Tagen jeweils 10 Stunden zu arbeiten, wenn das gewünscht wird. Ärzte leisten nach Tarifvertrag oft auch regelmäßig 12-Stunden-Schichten. Dazu müssten Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen den Rahmen bieten. So könnte Freizeit ausgeglichen werden, und es wäre die Entscheidung der Einzelnen, wie sie das nutzen möchten. Flexibilität wird ganz sicher das Prinzip der Zukunft sein. Aber unser Leben bleibt auch ganz sicher von Arbeit geprägt. Tarifvertragsparteien und jeder einzelne Arbeitgeber haben eine große Verantwortung, Arbeit attraktiv zu machen. Wertschätzung, Zufriedenheit, Stolz, Sinnfindung in der Arbeit; dies alles sind Ziele, die heute zu Recht von allen Arbeitnehmern eingefordert werden.

Tarifvertragsparteien und Politiker sollten nicht der Illusion Vorschub leisten, wir würden in einer Zeit leben, in der mehr Wohlstand weniger Arbeit bedeutet. Wahrscheinlich ist das Gegenteil richtig, und wir Menschen brauchen die Arbeit. Für den Wohlstand aller, aber auch für uns selbst.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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