Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates wird den Menschen nicht nur aufgezwungen, so Norbert Bolz. Sie begehren ihn auch, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Sie empfinden die totale Vorsorge als Wohltat. Politik mutiert so zum Glückszwangsangebot.

Warum ist eine Politikerin wie Margaret Thatcher mit ihrem Kampf gegen den „nanny state“ in den 1980ern gescheitert? Wollen die Bürger von den Betreuern des Staates tatsäch­lich an die Hand genommen werden – von der Wiege bis zur Bahre?

„Nanny state“ ist eine gute polemische Formel für das, was im sozialdemokratischen Deutschland „vorsorgender Sozialstaat“ heißt. Dessen Wohlfahrtspolitik erzeugt Unmündigkeit, also den Geistes­zustand, gegen den jede Aufklärung kämpft. Und so, wie man Mut braucht, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so kann man nur mit Stolz das eigene Leben selbstständig leben. Wie für das Mittelalter ist deshalb auch für den Wohlfahrtsstaat persönlicher Stolz die größte Sünde. Vater Staat will nämlich nicht, dass seine Kinder erwachsen werden.

Mit dem Terror seiner Wohltaten rückt uns der vorsorgende Sozial­staat derart auf den Leib, dass die Distanz der Kritik eingezogen wird. Wir haben es dann mit Bürgern zu tun, die den Politikern zutiefst misstrauen und zugleich alles vom Staat erwarten. Nicht die sogenann­te „Politikverdrossenheit“ ist aber das Problem, sondern die infantile Haltung gegenüber dem Staat. Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates wird den Menschen nämlich nicht nur aufgezwungen, sondern sie begehren ihn auch, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Die verwaltete Welt ist für viele eine Wunscherfüllung.

Demokratischer Despotismus

Der Paternalismus des vorsorgen­den Sozialstaates behandelt die Bürger als Kinder, Patienten oder Heiminsassen und verwandelt sie allmählich in fröhliche Roboter und glückliche Sklaven. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. Der demokratische Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, eine gewaltige, bevormundende Macht, die das Leben der Vielen überwacht, sichert und vergnüglich gestaltet. Die umfassend Betreuten brauchen gar keinen freien Willen mehr und empfinden die totale Vorsorge als Wohltat. Der demokratische Despotismus entlastet sie nämlich vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens.

Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat. Die Überregulierung des Alltags verwandelt die Befolgung des Gesetzes aus einem Sollen in ein Gehorchen.

Paternalistisches Staatshandeln „im Interesse der Bürger“ ignoriert indes das Interesse der Bürger. Jeder Paternalismus behandelt Menschen als Material. Das gilt gerade auch für die wohlmeinenden Reformer, die Belohnungen und Strafen zu einer Technik der Heteronomie organisieren. Ihr Erfolgsprodukt sind die Gutmenschen. Mittlerweile benut­zen sie sogar schon das Glück der Ungeborenen, um uns die Freiheit zu rauben. Wir sollen Energie sparen, den Müll trennen, sozial sein und nicht rauchen. So schützt uns der Paternalismus des vorsorgen­den Sozialstaates vor der Freiheit zum Schlechten – und verkauft das als Befreiung.

Dass das so gut funktioniert, hat anthropologische Gründe. Hilflosigkeit, Abhängigkeit, Hinfälligkeit, Übermacht und Feindseligkeit machen Angst. Deshalb wollen die meisten Sicherheit statt Freiheit. Der Wohlfahrtsstaat hat den Menschen die Freiheit abgekauft: für das Versprechen der Sicherheit und Gleichheit. Und in der Tat bringt die fröhliche Sklaverei unter kapitalistischen Bedingungen fast allen einen akzeptablen Lebensstandard und sehr hohe Lebenssicherheit.

Wir können deshalb den vorsorgenden Sozialstaat als Hoheitsverwaltung der Hilflosen definieren. Die Welt der Wohlfahrt zerfällt nicht mehr in Arbeiter und Kapitalisten, sondern in Betreute und Betreuer. Dabei entwickelt sich auf beiden Seiten eine unheilvolle Eigendynamik. Die Betreuer und Sozialarbeiter haben ein Interesse an der Hilflosigkeit ihrer Klientel. Und diejenigen, die es gelernt haben, sich hilflos zu fühlen, sind nur noch mit der entlastenden Erklärung ihrer Unfähigkeit beschäftigt.

Benutzerfreundliches Sozialdesign

Zwar wollen auch die Menschen in modernen Massendemokratien Freiheit. Aber das Freiheitsverlangen tritt immer gemeinsam mit einer ihm feindlichen Leidenschaft auf: dem Bedürfnis, geführt zu werden. Mit der Freiheit verlieren die Vielen den Mut – und mit dem Mut die Motivation. Dann weckt die Freiheit anderer nur noch eine Wut, die sich zum Ressentiment einer hartnäckigen Knechtsgesinnung verfestigt. Und im Lauf der Jahrhunderte hat das Ressentiment der fröhlichen Sklaven eine raffinierte Dialektik ausgebildet. Wer die Freiheit als eigene Möglichkeit versäumt hat, hasst die Freiheit der anderen. Aber dieser Hass hat es gelernt, sich als paternalistische Wohltat zu verkleiden.

Der vorsorgende Sozialstaat entzieht seinen Bürgern Freiheiten, um sie zu bessern und vor sich selbst zu schützen. Der Paternalismus erscheint denen gerechtfertigt, die glauben, dass man die Menschen vor der eigenen Willensschwäche schützen müsse. Dieser Gedanke, dass eigenrichtige Freiheit für die Gesellschaft und den Einzelnen selbst unzuträglich sei und durch eine beschränkte Wahlfreiheit für Inkompetente ersetzt werden müsse, hat vor einigen Jahren einen netten Namen bekommen: „Nudge“. Das ist der Titel eines Buches von Richard Thaler und Cass Sunstein – zu Deutsch etwa: der Schubser in die richtige Richtung des aufgeklärten Verhaltens. Im Klartext geht es um eine Art Sozialvormundschaft.

Das Rezept des „Nudge“ ist rasch erklärt. Wenn es um Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge geht, hilft es den Menschen nicht, wenn man ihnen eine Fülle von Möglichkeiten anbietet. Je komplexer die Lage, desto wichtiger ein Sozialdesign, das die Bürger und Kunden in die richtige Richtung schubst: Andere tun für mich, was ich selbst täte, wenn ich bei klarem Verstand wäre.

Die modernen Paternalisten gehen also davon aus, dass einige den legitimen Anspruch haben, das Verhalten anderer Leute so zu beeinflussen, dass diese länger, gesünder und besser leben. Was diese Wahlhelfer eigentlich anstreben, ist ein benutzerfreundliches Design des Sozialen.

Konkret sieht das so aus, dass ein allgemeiner Konsens mit dem politisch korrekten Verhalten unterstellt wird und jedes abweichende Verhalten ausdrücklich deklariert werden muss: Ich will nicht teilnehmen am vernünftigen Leben der Guten. Ich will keine Riester-Rente. Ich will meine Organe im Todesfall nicht spenden.

Seines Unglücks Schmied

„Nudge“ ist die Erweiterung der staatlichen Daseinsvorsorge zur Politik der positiven Wohlfahrt. Hier wird das Glück als universalisierbarer Wert verstanden, und deshalb kann sich die positive Wohlfahrtspolitik als Entwicklungshilfe eines sich selbst bestimmenden Einzelnen begreifen. Das ist eine schöne Paradoxie: Der Staat betreibt Mitbestimmung bei der Selbstbestimmung des Einzelnen. So wird Politik zum Glückszwangsangebot.

Gäbe es in Deutschland noch einen Funken Liberalismus, dann wäre klar: Der Staat muss seinen Bürgern eine sichere Lebensführung ermöglichen, also seine körperliche Unversehrtheit garantieren und sein Eigentum schützen – aber nicht mehr. Er darf niemanden zu einem bestimmten Verhalten zwingen, nur weil es besser für ihn wäre, zum Beispiel nicht zu rauchen, nicht zu trinken oder eine Diät zu halten.

Letztlich profitieren wir alle davon, dass jeder es erträgt, dass die anderen leben, wie es ihnen gefällt. Niemand darf sie zwingen, so zu leben, wie er es für richtig hält. Recht zu tun, darf man von jedem erwarten. Nicht aber: das Richtige zu tun. Wir leben nur in Freiheit, solange es jedem erlaubt ist, seines eigenen Unglücks Schmied zu sein.


Prof. Dr. Norbert Bolz war bis zu seiner Pensionierung im Juli 2018 Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin. Er gehört dem wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsrats der CDU an.

Dieser Beitrag ist zuerst im Sonderheft „Wohlstand für Alle – 70 Jahre Grundgesetz“ aus dem Jahr 2019 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

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