Vor drei Jahren waren es noch vier PrĂ€sidenten, die ein „Konzept fĂŒr eine vertiefte, echte Wirtschafts- und WĂ€hrungsunion (WWU)“ vorgelegt haben. Auf 58 Seiten legten die damaligen PrĂ€sidenten des EuropĂ€ischen Rates, der EuropĂ€ischen Kommission, der Euro-Gruppe und der EuropĂ€ischen Zentralbank (EZB) einen Fahrplan vor, nach dem eine „vertiefte und echte WWU“ in den folgenden fĂŒnf Jahren „vollendet“ werden sollte.

Einige Stationen sind inzwischen fahrplangemĂ€ĂŸ erreicht worden, vor allem die Bankenaufsicht und -abwicklung unter dem Dach der EZB. Andere wurden großrĂ€umig umfahren, vor allem verpflichtende ReformvertrĂ€ge aller Euro-Staaten gegenĂŒber der EU-Kommission und eine eigene „FiskalkapazitĂ€t“ als eine Art „Versicherung“ gegen lĂ€nderspezifische Schocks oder auch als „Belohnung“ fĂŒr nationale Reformen. Auch Eurobonds und ein Schuldentilgungsfonds waren von den vier PrĂ€sidenten noch als ultimative Schritte der Vertiefung angedacht. Nur am Rande wurde die Frage der demokratischen Legitimation gestellt.

„Vertieft, echt und fair“: Der Zehnjahresplan der fĂŒnf EU-PrĂ€sidenten

Diesen Sommer wurde dem EuropĂ€ischen Rat nunmehr ein „FĂŒnf-PrĂ€sidenten-Bericht“ vorgelegt: „Die Wirtschafts- und WĂ€hrungsunion Europas vollenden“. Als fĂŒnfter PrĂ€sident ist nun Martin Schulz fĂŒr das EuropĂ€ische Parlament mit dabei. Der Bericht ist deutlich kĂŒrzer. Die WWU soll nun „vertieft, echt und fair“ werden. Wie zuvor geht es um die Vertiefung an vier Fronten: „Wirtschaftsunion“, „Finanzunion“, „Fiskalunion“, „Politische Union“ – und dies in drei Stufen bis spĂ€testens 2025.

Wirtschaftsunion: Hier wird zurecht darauf verwiesen, dass der Binnenmarkt in zentralen Bereichen (Dienstleistungen, Energie-, Digital- und KapitalmĂ€rkte) noch nicht „vollendet“ ist und dass gerade hier Wachstumspotenziale liegen, die zu erschließen die EU-Kommission einen primĂ€rrechtlichen Auftrag hat. Von ReformvertrĂ€gen ist nicht mehr die Rede; stattdessen soll jeder Euro-Mitgliedstaat „eine nationale Stelle einrichten, die seine Leistungen und seine Strategien in Sachen WettbewerbsfĂ€higkeit beobachtet“. Diese Stellen sollen unabhĂ€ngig sein und die stĂ€rkere Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken unterstĂŒtzen.

Finanzunion: Hier geht es zunĂ€chst um die Fortentwicklung der Bankenunion und zwar ausdrĂŒcklich um die noch fehlende „dritte SĂ€ule“, die gemeinsame Einlagensicherung, die vor allem von deutscher Seite bisher abgelehnt wird. Die fĂŒnf PrĂ€sidenten wollen hierbei zwar „moralische Risiken“ vermeiden; sie sagen aber nicht, wie. Zudem geht es um den „Startschuss fĂŒr die Kapitalmarktunion“ mit dem Ziel, privates Risikokapital deutlich besser grenzĂŒberschreitend in Investitionen und Unternehmensbeteiligungen zu lenken und letztlich eine einheitliche europĂ€ische Kapitalmarktaufsicht zu etablieren.

Fiskalunion: Hier soll am Ende des Prozesses „eine Funktion zur fiskalischen Stabilisierung fĂŒr das gesamte Euro-WĂ€hrungsgebiet geschaffen werden“ (Seite 16). ZunĂ€chst aber soll fĂŒr „verantwortungsvolle Haushaltspolitik“ gesorgt werden. HierfĂŒr soll unter anderem ein beratender unabhĂ€ngiger „EuropĂ€ischer Fiskalausschuss“ eingerichtet werden, der die nationalen „RĂ€te fĂŒr Finanzpolitik“ koordiniert. Von Eurobonds oder Schuldentilgungsfonds ist nicht mehr die Rede, wohl aber von einem „Pool von Finanzierungsquellen“ als Option. Die Funktion soll auch „keine dauerhaften Transferleistungen zwischen LĂ€ndern oder in nur eine Richtung bewirken“, sondern nur „schwere makroökonomische Schocks abfedern“.

Politische Union: Darunter verstehen die fĂŒnf PrĂ€sidenten „verbesserte demokratische Rechenschaftspflicht, mehr LegitimitĂ€t und eine StĂ€rkung der Institutionen“ (Seite 19). Neues, Substanzielles und Konkretes findet man hierzu freilich nicht. Sehr vage bleibt auch die Andeutung einer ganz neuen europĂ€ischen Institution: ein „euroraumweites Schatzamt (Treasury)“; dies soll vielleicht einmal „bestimmte“ gemeinsame fiskalpolitische Entscheidungen treffen.

VertragsĂ€nderung? Pandoras BĂŒchse!

Das ist alles reichlich unbestimmt und insgesamt noch weniger konkret als der Bericht der vier PrĂ€sidenten vor drei Jahren. Die Frage, fĂŒr welche der bereits erfolgten und der kĂŒnftig geplanten Etappen des Fahrplans eine Änderung der EU-VertrĂ€ge erwĂŒnscht oder notwendig ist, wird auch nicht klar beantwortet. Sie ist freilich entscheidend: Erst, wenn hierĂŒber klare Aussagen gemacht werden, weiß man, welche Schritte erheblich neue Kompetenzen der EU schaffen wĂŒrden.

Es wundert auch nicht, dass die EU-PrĂ€sidenten das Thema „VertragsĂ€nderung“ nicht auf die europapolitische Agenda bringen wollen beziehungsweise erst fĂŒr die Zeit nach 2017 in ErwĂ€gung ziehen. Dies hat wohl zwei GrĂŒnde: Zum einen ist es das Ziel von David Cameron, noch vor dem Referendum ĂŒber den Verbleib Großbritanniens in der EU (bis spĂ€testens 2017) tief greifende Reformen der EU auf den Weg zu bringen, möglichst auf dem Weg einer VertragsĂ€nderung. Diesen „Gefallen“ wollen ihm viele „Vertiefer“ der EU wohl nicht tun.

Zum anderen wissen alle Beteiligten, dass Verhandlungen ĂŒber eine neue „EU-Verfassung“ die BĂŒchse der Pandora öffnen und endlosen Streit entfachen wĂŒrden. Dabei ist das Risiko sehr hoch, dass ein neuer Vertrag mit weiterer Abtretung von SouverĂ€nitĂ€t an „BrĂŒssel“ an vielen nationalen Parlamenten und bei so gut wie jeder Volksabstimmung scheitern dĂŒrfte.

Fiskalunion: Wirtschaftsregierung oder Wirtschaftsverfassung?

Auch in Paris und Berlin wurde schon oft von einer „politischen“ WĂ€hrungsunion gesprochen. Nur: Auch wenn man in Berlin und Paris von „Wirtschaftsregierung“, „politischer Union“ oder „Fiskalunion“ redet, meint man damit grundsĂ€tzlich Verschiedenes.

EuropĂ€ische Wirtschaftsregierung nach französischem Vorbild meint vor allem: Vergemeinschaftung der Schulden der Eurozone, noch mehr fiskalpolitisches Engagement der EZB, gemeinsame Steuern der EU, ein gemeinsames Budget der Eurozone, eine gemeinsame europĂ€ische Arbeitslosenversicherung, eine gemeinsame Einlagensicherung und vor allem mehr europĂ€ische Industriepolitik, konkret: Subventionen fĂŒr europĂ€ische (französische) Champions, Hilfen und Protektion fĂŒr (französische) „Verlierer“ der Globalisierung. Anstelle ordnungspolitischer Regeln der Selbstbindung von Regierungen sollen politische Entscheidungen EU-weiter „Planifikation“ stehen, intergouvernementale Willensakte durch die Staatschefs, gedeckt oder getrieben von einer Mehrheit in einem Parlament der Eurozone, ĂŒber ein durch vergemeinschaftete Steuern und Schulden finanziertes Eurozonen-Budget entscheiden.

„Wir brauchen kein Planungsprogramm, sondern ein Ordnungsprogramm fĂŒr Europa!“

Die deutsche Idee einer „Fiskalunion“ (zumindest nach den Vorstellungen von Wolfgang SchĂ€uble) ist eine sehr gegensĂ€tzliche. Diese „politische“ Union soll weitgehend „entpolitisiert“ werden; verbindliche Regeln (wie etwa im Fiskalpakt) sollen vereinbart werden und durch möglichst automatische Sanktionen oder mithilfe unabhĂ€ngiger Entscheider auch durchgesetzt werden. Wirtschaftsverfassung statt Wirtschaftsregierung! Im Kern geht es dabei um den Primat regelbasierter Ordnungspolitik gegenĂŒber interventionistischer Prozesspolitik. Schon Ludwig Erhard meinte, dass das „Organisieren-und-harmonisieren-wollen 
 in den fast sicheren Abgrund“ fĂŒhre und forderte: „Wir brauchen kein Planungsprogramm, sondern ein Ordnungsprogramm fĂŒr Europa!“

Zwar will auch SchĂ€uble einen „Finanzminister der Eurozone“, dies wĂ€re aber wohl keiner, der Gelder aus europĂ€ischen Steuern oder Schulden (Eurobonds) unter Euro-Staaten nach politischen PrioritĂ€ten verteilt. Es wĂ€re vielmehr jemand, der nationale Finanzminister notfalls ĂŒberstimmt, wenn diese sich nicht an vereinbarte Regeln halten.

Demokratische Legitimation erforderlich

Beide VorschlĂ€ge gehen weiter als die der EU-PrĂ€sidenten. Sie entsprechen stĂ€rker der Vision eines europĂ€ischen Bundesstaats, wenn auch eines jeweils sehr unterschiedlichen: eines planwirtschaftlich-interventionistischen oder eines marktwirtschaftlich-ordnungspolitischen. Beide VorschlĂ€ge wĂŒrden indes VertragsverĂ€nderungen erfordern. Eine einstimmige Zustimmung aller 28 Mitgliedstaaten zu dem einen oder anderen Modell einer europĂ€ischen Wirtschaftsregierung oder Wirtschaftsverfassung ist nicht zu erwarten, sondern bestenfalls eine typisch „europĂ€ische Lösung“ mit unklar definierten Elementen aus beiden „Visionen“.

Beide Modelle (und beliebige Kombinationen beider) verlangen zudem eine demokratische Legitimation nicht nur der VertragsĂ€nderung selbst, sondern auch des Vollzugs einer solchen Verlagerung zentraler Elemente bisher nationalstaatlicher AusĂŒbung von SouverĂ€nitĂ€t. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass die EU kein Bundesstaat werden dĂŒrfe, solange das Grundgesetz gelte und das deutsche Volk einem solchen Schritt nicht in einer Volksabstimmung zugestimmt habe, zum Beispiel im „Lissabon-Urteil“ (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.06.2009, Rn. 279 ff.). Kernbestand staatlicher SouverĂ€nitĂ€t ist das Budget- und Steuerrecht. Im „ESM-Urteil“ (BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.09.2012, Rn. 109 f.) ist zu lesen: „Eine notwendige Bedingung fĂŒr die Sicherung politischer FreirĂ€ume im Sinne des IdentitĂ€tskerns der Verfassung 
 besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen ĂŒber Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der EuropĂ€ischen Union trifft und dauerhaft ‚Herr seiner EntschlĂŒsse‘ bleibt.“

Nun ist das mit den „roten Linien“ aus Karlsruhe so eine Sache; am Ende haben sich diese doch als recht flexibel herausgestellt. Die PlĂ€ne der EU-PrĂ€sidenten sind noch hinreichend vage; solange sie in ihrem Umfang begrenzt bleiben und deutsche Budgetbelastungen der ausdrĂŒcklichen Zustimmung des Bundestags unterliegen, dĂŒrfte auch hier noch etwas in Richtung Fiskalunion möglich sein.

„No taxation without representation“ und „One man, one vote“

Anders ist es mit bundesstaatlichen „Visionen“, nach denen EU-Organe eigene Steuerkompetenzen erhalten und Schulden, Arbeitslosenversicherungen oder Spareinlagen „vergemeinschaftet“ werden sollen. Besonders bezĂŒglich des Budgetrechts als „Kronjuwel des Parlaments“ (Udo Di Fabio), das nicht „verpfĂ€ndet“ werden darf, gilt der Schlachtruf der amerikanischen UnabhĂ€ngigkeitsbewegung: „no taxation without representation“.

Der Verweis auf das EU-Parlament oder ein neues „Eurozonen-Parlament“, das in einer „echten“ Fiskalunion ĂŒber eigene Steuern und Aufgaben einer Art europĂ€ischen Finanzausgleichs verfĂŒgen oder nationale HaushaltsplĂ€ne korrigieren soll, reicht dann nicht mehr. Denn hier mangelt es an einem weiteren zentralen demokratischen Prinzip: „One man, one vote“. Die Stimme eines Maltesers hat bei Europawahlen ĂŒber elf Mal mehr Gewicht als die eines Deutschen. In der Legislativen (Unterhaus) eines „echten“ Bundesstaats, der weitreichende verteilungspolitische Kompetenzen und am Ende auch Kompetenz-Kompetenz beanspruchen wĂŒrde, wĂ€re dies nicht haltbar. Auch dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem „Lissabon-Urteil“ (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.06.2009, Rn. 280) klar festgestellt. Um in einem „echt“ demokratischen One-man-one-vote-Parlament der EU oder der Eurozone die nationalen Parteiproportionen ĂŒberhaupt noch einigermaßen abbilden zu können, mĂŒsste man die Zahl der Abgeordneten zumindest verzehnfachen.

Die EU-Föderalisten mögen derweil auf die Entstehung einer europĂ€ischen Öffentlichkeit, „IdentitĂ€t“ und „SolidaritĂ€t“ und damit auch einheitlich auftretende und untereinander konkurrierende pan-europĂ€ische Parteien setzen. Das wird sehr lange dauern, wenn es ĂŒberhaupt gelingt. Derzeit zeigen die Trends eher in die umgekehrte Richtung. Jetzt aber einfach schon einmal mit der Schaffung einer europĂ€ischen Wirtschaftsregierung, Fiskalunion und Ähnlichem zu beginnen in der Hoffnung, dass ein europĂ€ischer Demos sich in einem vorauseilenden Quasi-Bundesstaat schon eines Tages einstellen wird, ist ein riskantes Unterfangen.

Prof. Dr. Michael Wohlgemuth, Direktor der Open Europe Berlin gGmbH, ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung.

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