Den Zins hat die europäische Notenbank abgeschafft. Sie kauft Schrottpapiere von Staaten und Unternehmen. Die Kollateralschäden sind gewaltig: Die Sparer werden enteignet, der Strukturwandel der Wirtschaft verschleppt. Und die Politik kann sich bequem wegducken, statt Reformen auf den Weg zu bringen.

Mario Draghi war diese Woche in Berlin. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutierte der EZB-Chef mit Abgeordneten des Deutschen Bundestags und warb für die umstrittene Negativzinspolitik und das üppige Anleihen-Kaufprogramm der europäischen Notenbank. Abends ließ er sich in den Tagesthemen von Thomas Roth artig zu den deutschen Vorbehalten gegen seine unorthodoxe Geldpolitik befragen. Überzeugen kann seine Charmeoffensive nicht, ebenso wenig wie die aktuelle Performance der amerikanischen Fed und der japanischen BOJ.

In was für einer Welt leben wir eigentlich? Glauben die Alchemisten in den Zentralbanken tatsächlich, dass sie den Zins als Risikoprämie auf lange Sicht ausschalten können, ohne damit aberwitzige Kollateralschäden für die Volkswirtschaften zu provozieren? In der vertrauten marktwirtschaftlichen Welt spiegelte der Zinssatz immer das Risikoportfolio wider. Risikoreichere Anlageklassen und schlechtere Bonitäten führten zu entsprechenden Zinsaufschlägen, risikoärmere Anlagen und gute Bonitäten zu Zinsabschlägen. Damit war der Zins ein wichtiges Marktinstrument zur Vermeidung von Fehlallokation.

Statt Marktlenkung Notenbanksteuerung

Doch diese Lenkungswirkung, die den Marktakteuren über das Haftungsgebot Eigenverantwortung auferlegt, ist ausgeschaltet. Heute lenken die Notenbanken der Welt statt der „unsichtbaren Hand“ des Adam Smith. Wohin diese Zentralbankstrategie führt, zeigt das Beispiel Japan. Rund zwei Jahrzehnte währt dort bereits die exzessive Geldpolitik. Die Notenbank hält inzwischen den Großteil der Staatsschuldentitel. Sie verzerrt die Börsenpreise mit ihrem Aktienkaufprogramm und manipuliert jetzt auch die Zinsen am langen Anlagehorizont auf null Prozent herunter, um die Botschaft an die Konsumenten zu schicken: Kauft endlich! Lasst das Sparen bleiben! Doch die japanische Volkswirtschaft will trotz der Dauerinjektionen der Zentralbank nicht auf die Beine kommen. Die BOJ hat ihr Pulver verschossen. Doch statt daraus zu lernen, liefern EZB und Fed längst Cover-Versionen des japanischen Originals ab.

Die Immobilienpreisinflation zehrt Niedrigzinsen auf

Ein Mario Draghi stellt sich in der ARD vor die Tagesthemen-Kamera und behauptet dreist, dass die Deutschen als Kreditnehmer von der Nullzinspolitik der EZB dann profitieren, wenn sie etwa in Immobilien investieren. Diese Chuzpe ist schon bemerkenswert, weil der Notenbanker die Immobilienpreisinflation in Deutschland kennen muss, die im Schnitt bei über sechs Prozent liegt. Was die Kreditnehmer bei der Immobilienfinanzierung sparen, bezahlen sie bereits vorher über höhere Kaufpreise.

Dass die Finanzakteure dieser Welt inzwischen wie Junkies an der Notenbanknadel hängen, ist offenkundig, wenn man sich die Kurs-Fieberkurven im Vorfeld und nach den Zentralbank-Sitzungen anschaut: Tut sie’s oder tut sie’s nicht? Gemeint ist Janet Yellen von der Fed, die sich seit Monaten samt ihren Kollegen nicht traut, ihrem ersten Zinserhöhungsschritt vom vergangenen Dezember weitere folgen zu lassen. So wird systematisch das Vertrauen in die Rationalität der Zentralbank verspielt. Auf diese Weise machen sich Notenbanker zum Spielball der Finanzmärkte und dokumentieren immer wieder aufs Neue, dass sie keine Exit-Strategie aus der Niedrigzinspolitik finden.

Von der Eigenverantwortung zur Vergemeinschaftung

Zum Abschluss noch ein kleiner Ausflug in die Historie der Euro-Zone. Die begann mit einer Wette der Finanzmärkte gegen die in den Maastricht-Verträgen verankerte „No-bail-out-Klausel“. Denn hätten die Märkte geglaubt, dass jedes Euro-Mitglied tatsächlich für seine eigenen Schulden einsteht und bei Überschuldung kein Beistand geleistet wird, dann hätten die professionellen Anleger dieser Welt den südeuropäischen Euro-Krisenstaaten ihre Staatsanleihen nicht mit nur minimalen Zinsaufschlägen gegenüber deutschen Staatspapieren abgekauft. Sie spekulierten darauf, dass die solventen Staaten schon in die Bresche springen. Die Rechnung ging ja bekanntlich auf. Die „Enthaftung“ der privaten Gläubiger durch die Steuerzahler funktionierte.

Damit begann das, was die Europäische Zentralbank als „lender oft the last resort“ jetzt schon Jahre praktiziert. Sie pumpt Liquidität in die Märkte und kauft wie verrückt, „whatever it takes“. Sie fordert, wie Draghi diese Woche im Bundestag, gleichzeitig Strukturreformen bei der Politik ein – als da etwa wären höheres Renteneintrittsalter, flexiblere Arbeitsmärkte, solide Staatsfinanzen. Doch aktuelles politisches Handeln in Europa sieht anders aus: In Italien reduziert Regierungschef Matteo Renzi eben das Renteneintrittsalter für Teile des öffentlichen Dienstes. In Portugal provoziert die linke Regierung mit ihrer Schuldenpolitik, dass am 21. Oktober noch die letzte Ratingagentur das „Ramsch“-Verdikt ausspricht und dann wieder die europäischen Rettungsschirme aktiviert werden müssen.

Kurzum: Die Notenbankpolitik des billigen Geldes untergräbt systematisch die Reformwilligkeit in den Euro-Mitgliedstaaten. Damit ist die EZB Teil des Problems und nicht der Lösung.

Oswald Metzger, stellvertretender Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, ist Chefredakteur des „The European“, wo der vorliegende Beitrag zuerst erschienen ist.

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