Es sind nicht nur Gesetze, sondern auch Riten und Gepflogenheiten, die das Leben in einer Gesellschaft ausmachen. Reicht das Grundgesetz für ein friedliches Zusammenleben oder braucht es zusätzlich eine „Leitkultur“?

Vor rund zwei Jahrzehnten tobte in Deutschland eine hitzige Debatte. Der damalige Vorsitzende der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag, Friedrich Merz, hatte mit dem Begriff „Leitkultur“ darauf verwiesen, dass auch von Zuwanderern verlangt werden könne, dass sie sich an die in unserem Land geltenden Regeln des Zusammenlebens halten. Er war unter anderem mit den Worten zitiert worden, dass „Menschen mit unterschiedlicher Herkunft in einem freiheitlichen Land nur auf der Grundlage allgemein akzeptierter Werte die Zukunft gemeinsam gestalten können“.

Inzwischen löst der Begriff „Leitkultur“ keine emotionalen Aufwallungen mehr aus. Vielmehr gibt es einen gesellschaftlichen Konsens, dass sich aus unserem Grundgesetz und unserer Rechtsordnung durchaus eine Leitkultur ableiten lässt. Sie sind die schriftlich verbrieften Eckpfeiler unserer gesellschaftlichen Ordnung, die auch für jene gelten müssen, die aus anderen Kulturen einwandern.

Doch wenn es um die Frage geht, wie die einzelnen Grundrechte konkret im Alltag zu leben sind, tun sich erneut Gräben auf. Nehmen wir beispielhaft einen muslimischen Mann, der aus religiösen Gründen einer Frau den Handschlag verweigert. Die einen beharren darauf, dass der Prophet Mohammed Frauen auch nie die Hand gegeben habe, die anderen erkennen darin ein frauenfeindliches Verhalten.

Auch das Mädchen, das mit einem Kopftuch in die Kita geschickt wird, führt zu zwiespältigen Reaktionen. Die einen pochen darauf, dass die Religion eine solche Kopfbedeckung vorschreibe, die anderen warnen, dass auf diese Weise bereits Mädchen im Vorschulalter sexualisiert werden.

Der größte Fehler wäre, solche Fälle als Nebensächlichkeiten abzutun. Entscheidend ist, was für ein Welt- und vor allem Wertebild dahinter steckt. Der Verdacht, dass es sich um Vorstellungen handelt, die nur schwer mit dem Grundrecht auf Gleichberechtigung von Mann und Frau vereinbar sind, liegt nahe.

Die Grenzen der Religionsfreiheit müssen sichtbar sein

Nun wirkt unser Rechtsstaat in solchen Fällen nicht selten schwach, denn das Argument wiegt schwer: Religionsfreiheit. Aber auch das Grundrecht auf freie Religionsausübung ist nicht schrankenlos. Es findet dort seine Grenze, wo andere freiheitliche Grundrechte berührt werden. Eine offene, tolerante Gesellschaft, die ihre freiheitlichen Werte bewahren will, muss – wenn nötig – die Grenze der Religionsfreiheit sichtbar machen.

Die Sichtbarmachung einer solchen Grenze könnte darin bestehen, dass an Schulen und Kitas ein Kopftuchverbot für Mädchen bis zu 14 Jahren eingeführt wird. Bis zur Religionsmündigkeit hätten die Mädchen in diesen Freiräumen die Chance, ein unbeschwertes Leben wie gleichaltrige Jungen zu führen.

Machen wir uns nichts vor: In einer Gesellschaft wirken nicht nur Gesetze, sondern auch Werte in Form von Riten und Gepflogenheiten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Auch diese Werte gehören zur Leitkultur im weiteren Sinne.

Inwieweit die Menschen, die aus anderen Kulturkreisen kommen, bereit sind, sich an eine solche Leitkultur anzupassen, ist die dringendste Frage, der wir uns stellen müssen. Es geht um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und den Fortbestand unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Uns muss klar sein: Unser Grundgesetz ist kein Naturgesetz. Wir sind daher gut beraten, die rechtlichen Stellschrauben, die wir haben, zu nutzen. Ansonsten könnte die zunehmende Pluralität zu einem Sprengsatz werden.

Dr. Carsten Linnemann MdB ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für den Bereich Wirtschaft, Mittelstand und Tourismus. Er ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Dieser Beitrag ist zuerst im Sonderheft „Wohlstand für Alle – 70 Jahre Grundgesetz“ aus dem Jahr 2019 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

DRUCKEN
DRUCKEN