Intelligentes Ressourcenmanagement hat in der Umweltpolitik oberste Priorität, so Janez Potočnik. Die entscheidende Aufgabe der Europäischen Union besteht darin, die Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch voranzutreiben.

Ludwig Erhard verstand vielleicht besser als jeder andere, dass ein verlässlicher ordnungspolitischer Rahmen im Sinn der Sozialen Marktwirtschaft der Schlüssel zur Bewahrung von Freiheit und Wohlstand für alle ist. Erhard und seine Zeitgenossen mussten den Übergang in eine Friedenswirtschaft bewältigen. Für unsere Generation und unsere Zeit besteht die Herausforderung darin, den Übergang zu einem angemessen gestalteten Nachhaltigkeitspfad zu schaffen.

Wenn uns der Ausbruch des Coronavirus etwas gelehrt hat, dann dass das Eintreten von vermeintlich weit entfernten Ereignissen eine sehr reale Gefahr darstellt. Die Lehre aus dem Ausbruch von Covid-19 ist daher glasklar: Wir müssen ernsthaft daran arbeiten, unsere derzeitigen Methoden des kollektiven Risikomanagements neu zu gestalten.

Green Deal weiter wichtig

Das ist auch der Grund, warum der europäische Green Deal nach wie vor wichtig ist. Er legt das Ziel fest, die Netto-Kohlenstoffemissionen in Europa bis 2050 auf null zu senken und das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Natürlich tun die Pessimisten das als Megalomanie ab – als unerschwinglich und unerreichbar. Aber dank Covid-19 sollten wir inzwischen alle verstanden haben, wie eng – und ohne Kurskorrektur potenziell tragisch – Gesundheits-, Klima- und Wirtschaftsereignisse in unserer vernetzten Welt miteinander verwoben sind.

Vor diesem Hintergrund hat intelligentes Ressourcenmanagement nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auch in der Wirtschaftspolitik oberste Priorität. Und die entscheidende Aufgabe Europas besteht darin, die Führung bei kohlenstoffarmem und einem vom Ressourcenverbrauch entkoppelten Wohlstand zu übernehmen. Um den Übergang effektiv und vorteilhaft zu gestalten, müssen wir die Herausforderung, Auswirkungen wie den Klimawandel mit der Nutzung natürlicher Ressourcen als primärem systemischen Treiber zu verbinden, strategisch verstehen und bewältigen.

Leider beinhalten die meisten Maßnahmen und Geschäftsmodelle die Ressourcennutzung noch immer ungenügend. Die derzeitigen Bemühungen erschöpfen sich oft in nichtsystemischen Ansätzen. So werden beispielsweise sehr kostspielige Technologien zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung mit Nachdruck verfolgt, die allerdings bloß die Symptome der Umweltveränderungen bekämpfen. Im Gegensatz dazu stehen die eigentlichen Triebkräfte, die echten Wandel herbeiführen könnten, nicht im Mittelpunkt. Man kann sich leicht vorstellen, was Ludwig Erhard über ein Wirtschaftssystem gesagt hätte, das die Massenproduktion über die Nachhaltigkeit als gesellschaftlich wertvolle Leistung der Industrie stellt – und damit an der Transformationsaufgabe scheitert, einen echten Wohlstand für alle zu schaffen.

Zum Wandel führen

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Botschaft an alle Führungskräfte auf allen Ebenen und in allen Bereichen klar: Sie haben die einmalige Chance, aus einer Krisenerzählung eine Chance für eine unverwechselbare Führung zu machen. Wenn sie jetzt die richtigen Entscheidungen treffen, können sie den Wohlstand für alle, auch für künftige Generationen, vorantreiben.

Erhard war ein Meister darin, Effizienzdenken mit dem Streben nach Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, zu verbinden. Deshalb kann man verlässlich davon ausgehen, dass er, wenn er heute noch leben würde, all jenen, die an der Gestaltung systemischer Ansätze mitwirken, empfehlen würde, den Fokus auf natürliche Ressourcen als entscheidenden Ansatzpunkt zu legen. Effizienzsteigerung durch Optimierung des Materialeinsatzes und Schonung natürlicher Ressourcen ist genau die Art von Denken, die Erhard in den 1950er- und 1960er-Jahren zum Tragen brachte.

In der heutigen Welt bedeutet das auch, die Elektrifizierung von Automobilen zu überdenken. Sie spart zwar Treibstoff, verbraucht aber eine große Menge an knappen Ressourcen für Batterien. In der Zwischenzeit wird der Verbesserung des Mobilitätssystems nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Nur die Integration von öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrgemeinschaftsdiensten wird den Ressourcenverbrauch insgesamt verringern.

Ressourcen – das fehlende Glied

Der Global Resources Outlook 2019 des International Resource Panel zeigt, dass allein die Gewinnung und Verarbeitung von Ressourcen (Biomasse, Metalle, nichtmetallische Mineralien und fossile Brennstoffe) im Jahr 2017 rund 90 Prozent des weltweiten landnutzungsbedingten Biodiversitätsverlusts und Wasserstresses sowie über 50 Prozent der Auswirkungen des Klimawandels verursacht hat. Der weltweite Ressourcenverbrauch hat sich seit 1970 mehr als verdreifacht, und die weltweite Pro-Kopf-Nachfrage nach Rohstoffen ist von 7,4 Tonnen pro Kopf im Jahr 1970 auf 12,2 Tonnen im Jahr 2017 gestiegen. Der Ressourceneinsatz ist trotz allen wirtschaftlichen Fortschritts signifikant gestiegen.

Ressourcennutzung und -management sind die Elemente, die hinter den großen Problemen und Lösungen aller großen Umwelt- und Gesundheitsfragen stehen.

Die Produktivität des Rohstoffeinsatzes, das heißt die Effizienz der Ressourcennutzung, wuchs zunächst bis zum Ende des Jahrhunderts, begann dann zu sinken und stagnierte in den jüngsten Jahren. Dies kann auf eine Verlagerung der Produktion von Ländern mit höherer Ressourceneffizienz in Länder mit geringerer Ressourceneffizienz zurückgeführt werden.

Ressourcennutzung und -management sind die Elemente, die hinter den großen Problemen und Lösungen aller großen Umwelt- und Gesundheitsfragen stehen. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, das Wachstum des menschlichen Wohlergehens und der Volkswirtschaften insgesamt von der Ressourcennutzung sowie den Umweltbelastungen und Umwelteinflüssen zu entkoppeln. Dieses „Decoupling“ ist der wesentliche Bestandteil für die Umstrukturierung der Wirtschaftstätigkeit in ein nachhaltigeres Modell, das die auf Effizienz basierenden Anstrengungen durch eine wirklich widerstandsfähige (bzw. resiliente) Wirtschaft ergänzt.

Kreislaufwirtschaft

Ein wichtiges Instrument zur Entkopplung ist die Kreislaufwirtschaft. Sie beruht auf drei Kernprinzipien: Erstens wird die Nutzung von Produkten intensiviert (zum Beispiel durch dienstleistungsbasierte Sharing-Modelle); zweitens versucht man, Produkte und Materialien länger in Gebrauch zu halten (zum Beispiel durch Reparatur und Wiederaufarbeitung); und drittens wird der Verwendung von erneuerbaren Materialien Vorrang eingeräumt. Angesichts des derzeitigen Globalisierungsgrads könnte die Kreislaufwirtschaft sehr wohl hochwertige Arbeitsplätze in der Instandhaltung, bei Dienstleistungsmodellen und spezialisierter Kreislaufgestaltung nach Europa und Deutschland zurückbringen.

Vor zwei Jahren haben die Vereinten Nationen den Inclusive Wealth Index veröffentlicht (siehe Grafik). Der Index zeigt, dass sich das Pro-Kopf-Produktionskapital (PC) zwischen den Jahren 1992 und 2014 fast verdoppelt hat. Dagegen ist das Humankapital (HC) pro Kopf nur leicht gestiegen, während das „Naturkapital“ (NC) pro Kopf um fast 40 Prozent gesunken ist.

Wie wir aus der Grafik ersehen können, befand sich das Produktionskapital in diesem Zeitraum mehr oder weniger auf dem gleichen Wachstumspfad wie das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (BIP). Dies bedeutet, dass das BIP-Wachstum im vergangenen Vierteljahrhundert auf Kosten des Naturkapitals erzielt wurde. Ludwig Erhard hätte instinktiv verstanden, dass wir es besser machen müssen. Unser Naturkapital auf diese Weise zu erschöpfen, ist ein Weg ins Nichts. Das wirksamste Prinzip, um irgendwo hinzukommen, ist ein neuer Blickwinkel – ein unmissverständlicher Fokus auf natürliche Ressourcen. Das ist eine enorme Herausforderung. Aber, wie Ludwig Erhard im Handumdrehen erkannt hätte, es ist auch der Weg, der uns neue wirtschaftliche Chancen und Arbeitsplätze bietet.

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Für Stabilität im Wandel sorgen

Ludwig Erhard hielt ordnungspolitische Stabilität für die entscheidende Voraussetzung, damit die Industrie planen und investieren und so die Soziale Marktwirtschaft florieren kann. Die regulatorische Stabilität ist nach wie vor unerlässlich. Stabilität darf jedoch nicht mit Stagnation verwechselt werden. Sie muss dynamisch weitere Aspekte einbeziehen. Stabilität in Zeiten fundamentaler globaler Veränderungen bedeutet ein klares Bekenntnis von Regierungen und Unternehmen zu langfristigen Plänen, Transparenz und auch die Beteiligung an Diskussionsforen, um den Übergang zu einer nachhaltigen Weltwirtschaft zu erreichen. Dies ist die Voraussetzung für einen breit angelegten Wohlstand.

Fiskalische Anreize sind ein zentrales Instrument in diesem Transformationsprozess. Das Bemühen der Politiker, die Industrie durch die veralteten Prinzipien der Besteuerung einerseits und der Subventionen andererseits „mit Freundlichkeit zu töten“, erzeugt die Illusion von Unterstützung. Völlig unabhängig von derlei Interventionen führt nichts an der Einsicht vorbei, dass die begünstigten Industrien in Wirklichkeit so ihre Fähigkeit zur Anpassung an den in jeder Hinsicht unvermeidlichen und damit kaum verschiebbaren Wandel verlieren.

Stabilität in Zeiten des Wandels bedeutet, einen klaren, langfristig orientierten Plan zu erstellen. Diese Veränderung hat drei Ebenen: eine allmähliche Verlagerung der Besteuerung der Arbeit zur Besteuerung der Nutzung von Ressourcen, die Verwendung öffentlicher Mittel zur Unterstützung des Übergangs und eine Neukonzipierung der Eigentumsmodelle. Das Wirtschaftssystem müsste so ausgestaltet werden, dass ein intelligentes Ressourcenmanagement als Grundlage für Wohlstand für alle gefördert würde. Dies wäre ein Ansatz, der sicherlich Ludwig Erhards Unterstützung gefunden hätte.

Dr. Janez Potočnik ist Co-Vorsitzender des International Resource Panel der Vereinten Nationen und ehemaliger EU-Umweltkommissar. Der Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen.


Dieser Beitrag ist zuerst im Heft „Wohlstand für Alle – Klimaschutz und Marktwirtschaft“ aus dem Jahr 2020 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

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