Warum beabsichtigt die Europäische Zentralbank, weiterhin eine expansive Geldpolitik zu betreiben, während die US-Federal Reserve und die Bank of England auf einen restriktiven Kurs schwenken, um die inzwischen offensichtliche Inflation einzudämmen? Die Antwort ist in der hohen Staatsverschuldung der vor allem im südlichen Raum gelegenen Euroländer zu suchen, meint Dietrich Schönwitz. Regelwidrig würde die EZB dem Ziel Sicherung günstiger staatlicher Finanzierungsbedingungen“ Priorität vor dem Ziel „Preisniveaustabilität“ einräumen.

Mit dem Festhalten an der Nullzinspolitik vollzieht die Europäische Zentralbank (EZB) bei steigenden Inflationsraten einen Paradigmenwechsel in der Geldpolitik. Dem Ziel, bei hoher Staatsverschuldung der Euroländer Zinssteigerungen zu vermeiden und günstige Finanzierungsbedingungen aufrechtzuerhalten, wird gegenüber dem Primärziel Preisniveaustabilität Vorrang eingeräumt. Damit zeichnet sich mehr noch als bei den Staatsanleihekäufen der Vorjahre eine Dominanz der nationalen Fiskalpolitiken gegenüber der Geldpolitik ab: Bildlich ausgedrückt ist die EZB ins Schlepptau der fiskalpolitischen Ansprüche zur Wahrung finanzierbarer Staatsfinanzen geraten. Gegenüber dem ordnungspolitisch orientierten, prinzipientreuen Notenbanker, der sein Mandat begrenzt sieht und damit seine Unabhängigkeit von politischen Weisungen rechtfertigt, tritt der wirtschaftspolitische Problemlöser in den Vordergrund – „whatever it takes“.

Geldpolitik weiter expansiv

Die EZB hat auf ihrer geldpolitischen Sitzung vom 16. Dezember 2021 zwar beschlossen, das pandemiebezogene Anleiheankaufprogramm PEPP per Ende März 2022 auslaufen zu lassen, dafür aber das ältere Programm APP ab April 2022 von gegenwärtig 20 Milliarden Euro auf 40 Milliarden Euro monatlich zu erhöhen und dann ab Juli 2022 auf 30 Milliarden Euro zu senken. Ein Ende dieses Programmes wird nicht in Aussicht gestellt. Der Kurs der EZB bleibt damit weiter ausgesprochen expansiv, zumal eine Wiederanlage in Staatsanleihen aus Tilgungsbeträgen im Rahmen des PEPP mindestens bis Ende 2024 erfolgen soll. Da eine Beendigung der Netto-Staatsanleihekäufe als Voraussetzung für eine Leitzinserhöhung angesehen wird, wird es auch im kommenden Jahr 2022 bei der Nullzinspolitik bleiben, obwohl die Inflationsrate des Harmonisierten Verbraucherpreisindex mit 4,9 Prozent im November 2021 den höchsten Wert seit Beginn der Währungsunion erreichte und von der EZB für 2022 mit 3,2 Prozent Preisniveausteigerung im Unterschied zu vorherigen Projektionen ebenfalls eine Verletzung des Zweiprozentziels erwartet wird. Der weitere Verzicht auf den Notenbankzins als traditionelles Steuerungselement im Falle eines anziehenden Preisniveaus wurde von der Präsidentin der EZB, Christine Lagarde, in der Pressekonferenz zu den jüngsten Beschlüssen bestätigt: „Ausgehend von den heutigen Umständen ist eine Zinserhöhung im kommenden Jahr sehr unwahrscheinlich.“

Gegensteuern in den USA und Großbritannien

Die EZB hält daran fest, dass der zu beobachtende Preisniveauanstieg ein transitorisches Phänomen, verursacht vor allem durch pandemiebedingte Einflussfaktoren, ist und nimmt damit eine abweichende Lagebeurteilung zu den zeitnah ebenfalls bekanntgegebenen Beschlüssen der Bank of England (BoE) und der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) ein. Die BoE hat bei einer Inflationsrate von 5,1 Prozent ihren Leitzins auf 0,25 Prozent erhöht und beendet die Anleihekäufe Ende Dezember 2021. In den Vereinigten Staaten hat die Inflationsrate im November 2021 6,8 Prozent erreicht. Die Fed gibt deshalb ihre Anleihekäufe früher als ursprünglich vorgesehen schon im Frühjahr 2022 auf und schafft damit die Voraussetzungen für Leitzinserhöhungen noch im gleichen Jahr. Dementsprechend wird in den ökonomischen Projektionen der Fed bekannt gegeben, dass die Fed-Offiziellen für 2022 drei Leitzinserhöhungen in Schritten um jeweils 0,25 Prozentpunkte erwarten. Es fällt auf, dass die Fed erstmals seit Beginn der Preisnivausteigerungen nicht mehr die Bezeichnung „transitorisch“ zur Charakterisierung der Entwicklung verwendet, und damit signalisiert, dass die Gefahr einer Verfestigung des inflationären Verlaufs besteht, der man mit den jüngsten Beschlüssen rechtzeitig entgegensteuern will.

Importierte Inflation und Zweitrundeneffekte

Außenwirtschaftlich begibt sich die EZB mit ihrem Festhalten an der Nullzinspolitik in eine schwierige Position. Zinssatzdifferenzen werden zu einer Verlagerung der Kapitalströme, zu einem Anstieg des Dollarkurses und einer Abwertung des Euro führen. Über die Verteuerung von Güter- und Dienstleistungsströmen in den Euroraum werden sodann zusätzliche importierte Inflationsimpulse nicht nur im Außenhandel mit den Vereinigten Staaten ausgelöst, weil der US-Dollar international anerkannte und fakturierte Währung ist. Ob und inwieweit die EZB gewillt und in der Lage sein wird, dem durch Devisenverkäufe entgegenzuwirken bliebe abzuwarten. Hinzu kommt, dass eine Verfestigung der inflationären Entwicklung für den Euroraum nicht auszuschließen ist, wenn die auch im nächsten Jahr über 2 Prozent hinausgehenden Preisniveausteigerungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Gewerkschaften antizipiert werden, so dass in Lohnforderungen neben der üblichen Produktivitätskomponente als Teilhabe an gesteigerter Effizienz und einer möglichen Umverteilungskomponente eine Inflationsausgleichskomponente eingeht. Solche Zweitrundeneffekte würden dann den Beginn einer Lohn-Preis-Spirale einläuten.

Widersprüchliches geldpolitisches Experiment

Damit stellt sich die Frage, warum die EZB eine von den beiden anderen einflussreichen Zentralbanken abweichende Position einnimmt, obwohl die inflationären Verläufe in Großbritannien und den Vereinigten Staaten in die gleiche Richtung zeigen. Es liegt nahe, die Antwort in der hohen Staatsverschuldung im Euroraum, insbesondere der Südländer, zu sehen. Im zweiten Quartal 2021 betrug die Staatsverschuldung im Euroraum durchschnittlich 98,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Sie steigt länderbezogen über 114,6 Prozent Frankreich, 122,8 Prozent Spanien, 135,4 Prozent Portugal, 156,3 Prozent Italien auf 207,2 Prozent Griechenland und damit auf mehr als das Dreifache des Maastricht-Kriteriums von 60 Prozent des BIP an. Bereits im Jahr 2019 wurde in einem Memorandum, an dem Otmar Issing und Jürgen Stark, ehemalige Mitglieder des Direktoriums der EZB, sowie Helmut Schlesinger, früherer Präsident der Deutschen Bundesbank, beteiligt waren, festgestellt, dass die EZB mit ihren fortgesetzten Staatsanleihekäufen den Bereich monetärer Staatsfinanzierung betreten hat, was ihr nach ihren Statuten untersagt ist. Nunmehr ist die EZB aufgrund dieser anhaltenden Mandatsüberschreitung bei inflationärer Entwicklung in die Konfliktlage geraten, dem Anspruch „Sicherung günstiger staatlicher Finanzierungsbedingungen“ Vorrang einzuräumen, weiter expansive Geldpolitik zu betreiben und dabei entgegen der Sichtweise anderer Zentralbanken auf den transitorischen Charakter der Inflationsimpulse zu hoffen. Es ist dies ein neuartiges geldpolitisches Experiment, bei dem nicht ohne Widerspruch bei expansiver Politik auf ein Abklingen der inflationären Entwicklung gesetzt wird.

Debatte um Zweiprozentziel?

Je länger eine Verfestigung des Inflationsgeschehens und der Inflationserwartungen anhält, desto stärker wird man – irgendwann und unter Inkaufnahme einer Abschwächung der wirtschaftlichen Entwicklung – gegensteuern müssen. Es sei denn, man sucht einen Ausweg, indem die Debatte um die Angebrachtheit des Zweiprozentziels wieder eröffnet wird. In den Vereinigten Staaten geschieht das von prominenter wissenschaftlichen Stelle bereits. Der Nobelpreisträger Paul Krugman, der die Preisentwicklung in den USA lange Zeit als transitorisch einstufte, schreibt mit Blick auf doch länger anhaltende Inflationsraten: „There is actually good case that we’d be better off on average with 3 percent or more inflation than we would be returning to 2 percent.“ Folgte man dem, wäre das der endgültige Bruch mit der ordnungspolitisch begründeten traditionellen Geldpolitik, bei der es in der Sozialen Marktwirtschaft auch darum geht, die besonders von inflationären Entwicklungen betroffenen sozial Schwächeren zu schützen. Aus diesem Grund sollen die mahnenden Sätze von Christian Sewing, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, über den scheidenden Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann den Abschluss bilden: „Er verkörperte so etwas wie ein geldpolitisches Gewissen der Bundesbank in Europa. Ein Gewissen, dessen Mahnungen gerade jetzt – zum Zeitpunkt seines Rücktritts – berechtigter denn je erscheinen.“

Literatur

Europäische Zentralbank: Pressemitteilung, 16. Dezember 2021.

Issing, Otmar/Schlesinger, Helmut/Stark, Jürgen u.a.: Memorandum on the ECB‘s Monetary Policy, October 4th 2019.

Krugman, Paul: Wonking Out: What Would a Hard Landing Look Like?, in: New York Times vom 17.12.2021.

Lagarde, Christine: Erklärung zu den jüngsten geldpolitischen Beschlüssen, Pressekonferenz, Frankfurt am Main, 16.12.2021.

Münchrath, Jens: Mächtig Ohnmächtig, Handelsblatt Research Institute, 10. Dezember 2021, in: handelsblatt.com, 13.12.2021.

Rürup, Bert: Europa importiert die Inflation, Der Handelsblatt Chefökonom, 17. Dezember 2021, in: handelsblatt.com

Schönwitz, Dietrich: Geldpolitik im Euroraum, 15. November 2021, erscheinen bei der Ludwig-Erhard-Stiftung, www.ludwig-erhard.de.

Sewing, Christian: Der Prinzipientreue, in: Handelsblatt 17./18./19. Dezember 2021, S. 52f.


Prof. Dr. Dietrich Schönwitz ist Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank im Ruhestand.

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