Der liberale Rechtsstaat genießt in Deutschland nur geringes Ansehen. Aus abstrakten Verboten werden immer öfter konkrete Gebote. Unsere Abgeordneten könnten dies ändern – wenn sie denn wollten.

Auf den Kanzler kommt es an. Dies plakatierte die CDU im Wahlkampf 1969 und meinte damit Kurt Georg Kiesinger. Auf heutigen Plakaten würde man diesen Slogan lächerlich finden. Denn auf wen sonst als den Kanzler sollte es denn ankommen? Am Sonntag haben wir aber nicht den nächsten Bundeskanzler gewählt, sondern unsere Vertreter in den Bundestag. Im liberalen Rechtsstaat hat das Parlament die Aufgabe, Gesetze zu erlassen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben regeln. Außerdem wählt es eine Regierung und kontrolliert diese bei der Ausübung ihrer Geschäfte. Eigentlich sollte es deshalb heißen: „Auf die Abgeordneten kommt es an.“ Doch die Idee des liberalen Rechtsstaats ist heute verblasst.

Lieber Gebote statt Verbote

Diese Idee bestand darin, dass der Staat für ein Umfeld sorgen sollte, in dem die Bürger ihre individuellen Lebensziele verfolgen können. Dafür sollte das Parlament Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens finden, die der Freiheit des einen dort Grenzen setzen, wo die Freiheit des anderen beginnt. Damit diese Regeln ihren Zweck erfüllen können, sollten sie abstrakt und von negativer Natur, also Verbote statt Gebote, sein. Aufgabe der Regierung sollte sein, innerhalb der Gesetze und unter Aufsicht des Parlaments für die Durchsetzung dieser Regeln zu sorgen. Würde die Regierung stattdessen selbstgesetzte Ziele verfolgen, würde sie die Freiheit der Bürger bei der Verfolgung eigener Ziele verletzen.

Über die Zeit sind wir jedoch immer mehr von negativen zu positiven Regeln, von abstrakten Verboten zu konkreten Geboten, übergegangen. Aus „du sollst nicht“ wurde immer öfter ein „du sollst“. Während in einem auf Verboten fußenden Regelwerk alles erlaubt ist, was nicht verboten ist, ist in einem auf Geboten fußenden Regelwerk alles verboten, was nicht erlaubt ist. Dadurch wird der Freiheitsraum des Einzelnen weit über das hinaus eingeschränkt, was nötig ist, um die Freiheit des anderen zu achten.

Der Übergang von Verboten zu Geboten im gesellschaftlichen Verhalten hat vier schwerwiegende Folgen: Erstens verändert sich die Rolle der Regierung. Vom Wächter über die Regeln wird sie zum Manager der Gesellschaft. Gestützt auf ihre parlamentarische Mehrheit, entwickelt sie die Gebote, formuliert sie in Gesetze und setzt sie unter Androhung von Zwang durch. Zweitens verändert sich die Rolle des Parlaments. Statt Regeln des Zusammenlebens zu finden und die Regierung bei der Durchsetzung dieser Regeln zu überwachen, stützt nun die parlamentarische Mehrheit die Regierung bei der Umsetzung von Geboten für die Gesellschaft. Faktisch kontrolliert das Parlament nicht mehr die Regierung, sondern die Regierung bringt das Parlament über ihre Mehrheit dort auf ihre Linie.

Regierung wird abhängig von Lobbyisten

Drittens verändert sich der Charakter der Demokratie. Das Volk wählt nun nicht mehr Vertreter aus seiner Mitte, die über die Zeit entstandene und bewährte gesellschaftliche Regeln in Gesetze fassen, sondern eine Versammlung, aus der heraus sich eine Regierung für das Management der Gesellschaft bildet. Gut organisierte gesellschaftliche Gruppen versuchen, das Management der Regierung in ihrem Sinne zu beeinflussen, indem sie lautstark Forderungen stellen, die sie in gesellschaftliche Gebote übersetzt sehen wollen. Und die Regierung wird abhängig von diesen Gruppen, wenn diese für sie Wähler sichern.

Viertens nimmt die wirtschaftliche Dynamik der Gesellschaft ab. Denn durch Gebote wird zwangsläufig die Kreativität Einzelner eingeschränkt, auf ihre Weise zum wirtschaftlichen Wohlstand beizutragen. Stattdessen wird der Einzelne zur Befolgung von Geboten verpflichtet, die von einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen geformt werden. Das historische Experiment des Sozialismus hat auf teilweise erschreckende Weise gezeigt, wie der durch Gebote hervorgerufene Verlust an Kreativität wirtschaftlichen Wohlstand zerstören kann.

Der liberale Rechtsstaat wurde uns von den angelsächsischen Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg geschenkt. Der beherzten Umsetzung liberaler Prinzipien für die Wirtschaftsordnung durch Ludwig Erhard verdankten wir das „Wirtschaftswunder“. Durch den wirtschaftlichen Erfolg, den er ermöglicht hat, gewann der liberale Rechtsstaat in der Nachkriegszeit bei den bis dahin weniger liberal gesinnten Deutschen vorübergehend an Wertschätzung. Doch schon im Grundgesetz war der lenkende Wohlfahrtsstaat angelegt. Heute hat er sich vor den liberalen Rechtsstaat geschoben. Die Bundestagswahl ist ein guter Anlass, über die Folgen des Vergessens der Prinzipien und die Vorzüge des liberalen Rechtsstaats für unser gesellschaftliches Leben und für unseren Wohlstand nachzudenken.

Prof. Dr. Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institutes und Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Er ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung und Mitglied der Jury des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik.

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