An Herausforderungen hat die Welt im Augenblick keinen Mangel. Ein Krieg in Europa, der Zerfall der regelbasierten Weltordnung und die Insularisierung der ehemals globalen Wirtschaftsströme treiben uns alle um. Am Sonntagabend werden wir das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Frankreich kennen. Diese Wahl ist offenbar knapp und hat das Potential, zu einer historischen Wegmarke für Europa zu werden.

In diesem Kommentar geht es um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Anforderungen an eine auf der Basis von Freiheit und sozialer Verantwortung zu Wohlstand für Alle führenden Wirtschaftsordnung. Hier gibt es sehr unterschiedliche Schwerpunkte in den Gesellschaften Frankreichs und Deutschlands, die das Fortkommen der Integration Europas immer wieder erschweren. Präsident Macron‘s wirtschafts- und gesellschaftspolitische Linie lässt sich natürlich nicht mit der Ludwig Erhards vergleichen. Bei seinen Bemühungen um ein „souveränes“ Europa hat er auch sicher nicht die Soziale Marktwirtschaft im Auge gehabt. Seit der Zeit des Merkantilismus ist das Staatsvertrauen der Franzosen gerade bei wirtschaftlichen Herausforderungen groß. Im Jahr 2020 lag die Staatsquote, also das Verhältnis der Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt, in Frankreich bei rund 62 Prozent und in Deutschland immerhin auch schon bei 51 Prozent. Die soziale Lage ist angespannt (siehe Gelbwesten), und die sogenannte Industriepolitik führt zu einer zentralen Rolle des Staates in den großen Wirtschaftsunternehmen des Landes.

Selbst unter den derzeitigen Mehrheiten im Deutschen Bundestag mit all seinen Anflügen übersteigerten Vertrauens in staatliche Planung bleibt Deutschland skeptisch bei Staatslenkung, Euro-Bonds und anderen Formen der vergemeinschafteten Verantwortung in Europa. Also erneut, Macrons Politik ist nicht auf der Spur des deutschen Wirtschaftswunders.

Und dennoch: Macron hat die globalen Herausforderungen für Europa früher verstanden als andere, gerade auch in Deutschland. In der globalen Wirtschaftsordnung der Zukunft wird es erweiterte Heimatmärkte geben, die Sicherheit für Lieferketten, für Eigentum und soziale Mindeststandards bieten, und es wird (leider) einen an nationalen Interessen und geopolitischen Machtfragen orientierten, staatlich beeinflussten globalen Markt geben. Unter den erweiterten „Heimatmärkten“ ist Europa wahrscheinlich der kleinste und möglicherweise der am wenigsten integrierte Markt. Wenn Europa nicht lernt, seine Interessen machtvoll zu vertreten, mit einer Stimme zu sprechen und den gemeinsamen Markt wirklich zu ermöglichen, haben wir kaum eine Chance, unseren Wohlstand zu sichern. Deshalb ist Macron mit der Offenheit für Europa bei allen Unterschieden auf dem richtigen Weg. Wir müssen als Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft mit ihm ringen. Wir werden Kompromisse machen müssen. Das ist der Pfad des Erfolges der letzten 50 Jahre.

Verliert Macron die Wahl, dann ist dieser Weg am Ende. Wir sehen bei Marine Le Penn eine Abwendung von dem gemeinsamen Europa, eine Kombination aus – oft auch deutschlandfeindlichem – Nationalismus und noch stärkerer Fokussierung auf Staatswirtschaft. Die Umsetzung ihrer Versprechen aus dem Wahlkampf würde alle Regeln europäischer Schuldenbegrenzung attackieren und Frankreich in eine Reihe mit Italien und Griechenland führen. Für Deutschland gäbe es kaum eine Alternative zum Aufbau größerer Distanz und zur Aufgabe der Hoffnung auf einen besser funktionierenden gemeinsamen Markt.

Diese Veränderung wäre für uns in Deutschland eine katastrophale Entwicklung. Der große Erfolg der deutschen Wirtschaft ist aus Innovation, Produktivität und Engagement der Unternehmen mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gewachsen. Er war aber nur möglich, weil wir auf offene Märkte trafen, die Deutschland schließlich zum „Exportweltmeister“ werden ließen. Diese Märkte liegen nicht irgendwo in der Welt, mehr als die Hälfte der Produkte und Dienstleistungen werden uns im europäischen Binnenmarkt abgekauft. Die stabile Zukunft für unsere Produkte wird nicht in China oder anderen großen Märkten liegen können, hier müssen wir nicht nur in diesen Tagen immer wieder mit Disruptionen rechnen. Wir brauchen den stabilen europäischen Markt. Wir brauchen eine Bankenunion, wir brauchen den voll integrierten Binnenmarkt für Energie und wir brauchen dann wirksame Handelsabkommen mit den anderen Teilen der Welt, zum Beispiel den USA. Um all dies mit unseren französischen Nachbarn und Freunden zu ringen, lohnt sich.

Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, müssen wir einräumen, dass die vor uns stehenden Herausforderungen von Deutschland allein nicht getragen werden können. Es gibt keinen „Plan B“. Wir brauchen den europäischen Kontinent und wir brauchen dazu ein Frankreich, dass mit uns reden will und reden kann. Darum ist der Sonntag so wichtig.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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