Rund 600.000 Menschen sind inzwischen nach ihrer Flucht aus der Ukraine in Deutschland registriert. Eine große Welle von Unterstützung durch die Bevölkerung und von ukrainischen Landsleuten sowie Familienmitgliedern, die schon in Deutschland leben, hat die großen Herausforderungen bewältigbar gemacht. In den Köpfen und Herzen sind die geflüchteten Menschen einer ständigen Zerreißprobe ausgesetzt – zwischen dem Schlagen erster neuer Wurzeln und der sprungbereiten Hoffnung, schnell nach Hause zurückkehren zu können.

Trotz dieser Ungewissheit wollen viele Ukrainerinnen und Ukrainer möglichst schnell eine Beschäftigung aufnehmen. Es ist verständlich, dass sie eine Beschäftigung dem nervenaufreibenden Abwarten vorziehen. Sie wollen ihr eigenes Geld verdienen, statt staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen und sie suchen neue Erfahrungen, auch in der Hoffnung, sie mit in die Heimat nehmen zu können.

Deutschland kennt aus seiner jüngeren Vergangenheit bezüglich der Qualifikation und dem Integrationspotenzial der Ukrainer keine vergleichbare Flüchtlingsbewegung. Arbeits- und Ausbildungsbedingungen in der Ukraine sind mit denen in Deutschland vergleichbar. Wohl 50 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge haben einen akademischen Abschluss. Die Schulen dort sind besser digitalisiert. Der biometrische Personalausweis könnte für uns auch ein Vorbild sein.

Die ukrainischen Frauen und Männer können und wollen arbeiten. Manche für eine erhoffte Übergangszeit, einige vielleicht für immer. Wollen wir sie arbeiten lassen? Zurzeit stehen zu viele vor den Toren unserer Beschäftigungsbürokratie. Das schadet allen, auch uns.

Staatsbürger anderer Länder dürfen in Deutschland in den „reglementierten“ Berufen nur unter besonderen gesetzlichen Bedingungen arbeiten. Die dafür notwendigen Genehmigungen sind kompliziert. Seit 2012 gibt es dafür ein besonderes Gesetz (38 Seiten Amtsblatt und 62 Artikel): das „Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen“. Auch wir als deutsche Staatsbürger dürfen viele Berufe nur mit einer gesetzlich geregelten Genehmigung ausüben. Da sind dann die Vorschriften von neu zu uns Kommende noch einmal schärfer.

Wenn man die Informationen der Behörden in den Internetportalen liest, hat man den Eindruck, es handele sich nur um wenige so streng regulierte Berufe – meist ist von Ärzten und Lehrern die Rede. Aber dieser Eindruck ist falsch. Krankenpfleger, Altenpfleger, nahezu alle Berufe medizinischer Dienstleistungen, alle Handwerksmeister und viele Berufe mehr gehören zu den sogenannten „reglementierten Berufen“.

Viele der hier genannten Tätigkeiten, gerade in den Bereichen Gesundheit, Ausbildung und Handwerk zeichnen sich durch einen dramatischen Mangel an Arbeitskräften aus. Für unser Land– so schwierig das auch zu formulieren ist – sind die gerade zu uns gekommenen und gut ausgebildeten Menschen eben nicht nur eine soziale und logistische Herausforderung. Sie sind zugleich eine große Chance.

Aber wir nutzen diese Chance nicht. Die Anerkennungsverfahren sind extrem langwierige Einzelfallprüfungen. Man benötigt zahlreiche Unterlagen, Formulare oder ersetzende umfangreiche Profilbildungen. Die Behörden sind es nicht gewohnt, mit einem solchen Ansturm umzugehen. Im besten Fall dauert es Wochen, meistens aber Monate, bis man einen Entscheid erhält. Gerade für die vielen Menschen, die hoffen, in einigen Monaten wieder auf dem Weg in die Heimat zu sein, ist das Verfahren unbrauchbar.

Paragraf 1 des schon erwähnten Gesetzes beschreibt als Ziel die „Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen“. Jetzt müssen die Gesetzgeber in Bund und Ländern schnell eine befristete und vor allem unbürokratische Änderung beschließen. Für den Bund wäre dies am besten ein zusätzlicher Absatz 3 in dem Paragrafen 4 mit dem Text: „Für ukrainische Staatsbürger, die als Kriegsflüchtlinge seit dem 1.2.2022 in Deutschland registriert sind, wird zu deren Gunsten vermutet, dass die in der Ukraine erworbenen Ausbildungs- und Prüfungszertifikate mit vergleichbaren Zertifikaten in der Bundesrepublik gleichwertig sind. Eine Genehmigung nach diesem Gesetz wird nur bei einem Aufenthalt von mehr als 24 Monaten erforderlich.“

Die Arbeitgeber sind viel besser geeignet, beurteilen zu können, ob Sprachkenntnisse, Ausbildung und Erfahrung für eine verantwortliche Berufsausübung vorhanden sind. Bei einem endgültigen Verbleib in Deutschland ist die Übergangszeit lang genug, um alle Dinge zu regeln. Das gilt gerade und besonders für Lehrerinnen und Lehrer, Ärzte, Pfleger und Pflegerinnen für Alte und Kranke, die wir alle so dringend suchen.

Der Deutsche Bundestag hat in seiner bedeutenden Ukraine-Entscheidung diese Aufgabe durchaus gesehen. Da heißt es, dass die Bundesregierung tätig werden solle, um „die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass qualifiziertes Gesundheitsfachpersonal aus der Ukraine bei der medizinischen oder
pflegerischen Versorgung von Geflüchteten vorübergehend heilkundlich in Deutschland tätig werden darf“. Das ist zu egoistisch nach deutschen Interessen nur für die Gesundheitsbranche formuliert, aber gedanklich ist es ein Schritt in die richtige Richtung.

In Notlagen muss die Eigenverantwortung genügen und der staatliche Regelungswille zurücktreten. Auch hier gibt es einen Markt, der steuert. Vielleicht lernen die Gesetzgeber ja insgesamt, dass wir die typisch deutsche Bürokratie überzüchtet haben. Jedenfalls in Zeiten eines Krieges mitten in Europa müssten wir das doch schaffen.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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