Morgen ist Heiligabend. Wie religiös Menschen auch immer sein mögen, gerade in diesen Tagen ist die Sehnsucht nach Frieden und Sicherheit besonders zu spüren. Davon aber hat Europa derzeit weniger zu bieten, als wir alle uns nach den vergangenen Jahrzehnten erhofft hatten. Das gilt für den Kontinent, aber auch für uns alle zuhause. Die Lage ist nicht einfach nur Schicksal, sie ist auch das Ergebnis von Versäumnissen und Fehlern: Russlands Bereitschaft zu einem barbarischen Machtrausch wurde unterschätzt, das Setzen marktwirtschaftlicher Signale gegen den Verbrauch unserer natürlichen Lebensgrundlage kommt zu spät und zu zaghaft, die Warnzeichen der Inflation wurden verdrängt, Deutschlands Sonderweg der Energiewende ist teuer und riskant, der Staat übernimmt sich mit seinen Regulierungsabsichten.

Und trotz des schon sichtbaren Regulierungsinfarkts scheint das Vertrauen in staatliche Vorschriften, Rettungspakete und Dauersubventionen aber stetig zu steigen. Klimaschützer sprechen von „Kriegswirtschaft“ als Ziel, die Manöver zur Umgehung der Schuldenbremse durch Sondervermögen – nichts anderes als Schulden – werden dreister, bei Krisen von Corona bis Ukraine kommt bei vielen Bürgern, aber auch vielen Unternehmen, der Gedanke auf, der Staat müsse für diese historischen Unbilden andauernd so etwas wie ‚Schadensersatz‘ leisten. Risiken sollen dadurch verkraftbar werden, dass man sie sozialisiert und letztlich unseren Kindern in Rechnung stellt.

In der Weihnachtsansprache von Bundeskanzler Ludwig Erhard, dessen Wahl 2023 60. Jahre zurückliegt, waren diese Versuche, den Staat zum alles umsorgenden Versicherer zu machen, schon gegenwärtig. Er sagte: „Ich glaube, dass sich ein Volk in der Verfechtung seiner Gruppeninteressen einem Irrwahn hingibt, wenn es nur in den sogenannten Rechtsansprüchen an den Staat materielle Vorteile und Lebenssicherung gewinnen möchte. Gewiss will ich damit nicht den Staat von der Verantwortung für das materielle und soziale Sein seiner Bürger freisprechen. Der Gedanke aber, was menschliche Sorgen und Nöte ausmacht, was uns Nächstenliebe zu üben heißt, was den hohen Wert des Mitfühlens, des Mitleidens und Mitfreuens bedeutet, ausschließlich auf die rechenhafte Formel staatlicher Sozialgesetzgebung reduzieren zu wollen, erschreckt mich zutiefst.“

Wir werden im Jahr 2023 vor weiteren schwierigen Entscheidungen stehen. Die Politik wird die Grenzen ihrer Versprechen erkennen und die Bürokratien die Begrenztheit ihres Wissens. Ohne die Beschränkung auf erreichbare Ziele und die Mobilisierung der Kreativität und des Eigennutzes der Bürger werden die staatlichen Planer den Überblick verlieren. An dem aktuellen Beispiel der Medikamentenengpässe sieht man ja gerade, welchen heillosen Unfug die staatlich verordneten Preise anrichten.

Die wichtigste und schwierigste Herausforderung für die Politiker aller Parteien wird es sein, einzugestehen, dass Veränderungen immer Gewinner und Verlierer kennen. Sie müssen höhere Preise dulden und damit Änderungen in Konsumverhalten und Lebensplanung von Bürgern zulassen. Wir alle werden mehr arbeiten müssen, ohne uns wirklich mehr leisten zu können. Die sozialen Leistungen müssen konzentriert werden und einige verlieren damit ihre gewohnten Zuwendungen. Es sind schwere Jahre. Der Weg wird nur zum Erfolg führen, wenn zugleich mehr Platz für Eigeninitiative, Freiheit für technologische Neuerungen und Chancengleichheit im internationalen Wettbewerb geschaffen werden. Nichts davon ist unmöglich, aber es erfordert Kurskorrekturen. Die Chance zu Wohlstand und Wachstum geht damit nicht verloren.

Menschen, die diese Vision teilen – und die Mitglieder der Ludwig-Erhard-Stiftung gehören wohl alle dazu, wollen einen starken aber zugleich demütigen Staat. Er soll lediglich die Leitplanken bauen und verteidigen, ohne die die Soziale Marktwirtschaft nicht funktioniert. Er soll dafür Sorge tragen, dass die Verwirklichung der Vision in den Händen einzelner Bürger und der Freiheit ihrer Ideen liegt und eben nicht in noch so klugen detaillierten Staatsvorschriften.

Visionen Wirklichkeit werden zu lassen, erfordert Mut und Vertrauen in die eigenen Kräfte und die Freiheit, sie zu nutzen. Das schaffen die meisten Menschen in den meisten Kulturen mit einer Einstellung, die wir „Gottvertrauen“ nennen. Weihnachten übt auch heute eine unglaubliche Faszination auf uns Menschen aus und veranlasst auch der Kirche entfremdeten Menschen, in diesen Festtagen mehr als ein überholtes Ritual zu sehen.

Wie auch immer Sie mit Ihrem Glauben leben, ich wünsche Ihnen eine besinnliche Weihnachtszeit und einen guten Sprung in ein hoffentlich gesundes Jahr 2023.  „ERHARD HEUTE“ werden Sie am 13. Januar wieder lesen.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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