Nun hatte der Wähler also das Wort, und das Ringen kann beginnen. In Deutschland werden keine Kanzler oder Regierungen gewählt, sonst würde am heutigen Tage schon viel mehr Klarheit herrschen, wie das zum Beispiel nach Wahlen in Großbritannien und Frankreich der Fall ist. Auch bekommt die stärkste Partei keinen Siegerbonus wie in Griechenland oder Italien. Die Bevölkerung hat das Kräfteverhältnis der Parteien festgelegt – und sonst nichts. Immerhin liegt darin eine Ohrfeige für die Union und seit Langem erstmals wieder der Platz 1 für die SPD. Zwei weitere Ergebnisse sollte sich die Politik als Wegweiser bewusst vor Augen führen: Erstens sind radikale Parteien links und rechts Verlierer, und zweitens kommt keine rot-rot-grüne Koalition. Am überraschendsten aber ist die Erkenntnis, dass bei den Erstwählern im Alter zwischen 18 und 21 Jahren die FDP die Nase vorn hat, dicht gefolgt von den Grünen und beide weit vor den traditionellen Volksparteien SPD und Union.

So starten die Parteien jetzt behutsam in die Koalitionsgespräche, um aus Parteistimmen eine Regierungsmehrheit zu formen. Heute sieht es so aus, als würden Grüne und FDP zu dieser Mehrheit gehören, aber die inhaltlichen Spannungen der beiden Parteien werden erhebliche Auswirkungen darauf haben, ob daraus besser mit SPD oder Union eine sinnvolle, das Land gestaltende und mutig neue Wege gehende Regierung werden kann. Dass es zu der rechnerisch wieder möglichen Großen Koalition kommt, sollte niemand hoffen; der frustrierende Stillstand hat lange genug gedauert.

Keine der künftig möglichen Regierungsmehrheiten wird so stark den Kräften von Freiheit und Eigeninitiative im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft vertrauen, wie Ludwig Erhard es getan hätte. Der Kraft der unsichtbaren Hand wollen sich nicht einmal die Union und schon gar nicht die Grünen so einfach anvertrauen, und die FDP wird Kompromisse machen müssen. Immerhin sah die liberale Partei schon vor vier Jahren bei den Jamaika-Verhandlungen im Herbst 2017 nicht genug Übereinstimmung. Das wird also spannend werden.

Aus all den Programm-Listen ragt ein Einzelpunkt mit Grundsatzcharakter schon heute heraus: der gesetzliche Mindestlohn. SPD-Kandidat Scholz hat seinen Wählern einen Mindestlohn von 12 Euro vor der Wahl mündlich und schriftlich „garantiert“. Der Mindestlohn ist in der Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft ein Fremdkörper und somit ein Fehler – doch dazu gleich.

Das Versprechen der SPD zerstört den mühsam gefunden Kompromiss der Preisfindung für einen gesetzlichen Mindestlohn. Kritiker, durchaus nicht nur bei Arbeitgebern, sondern auch auf Seiten der Gewerkschaften, waren von Anfang an skeptisch. Immerhin bestand die Union auf einer von den Tarifvertragsparteien und unabhängigen Wissenschaftlern getragenen Mindestlohnkommission und deren unabhängige Entscheidung über die Höhe des Mindestlohns. Diese Kommission hat auch vor kurzem Entscheidungen gefällt, und zwar eben nicht eine Erhöhung auf 12 Euro, sondern für die erste Jahreshälfte 2022 eine Erhöhung auf 9,82 Euro und für die zweite Jahreshälfte auf 10,45 Euro. Wer also politisch 12 Euro verspricht, muss die Tarifautonomie auch noch in ihrem letzten Rest zu Gunsten eines politischen Mindestpreises der Arbeitsstunde aufgeben.

„Das Ziel meiner Bemühungen geht also dahin, den Leistungswettbewerb als die treibende Kraft und den freien Preis als das Regulativ der Marktwirtschaft durch Gesetze fest zu verankern.“ (Ludwig Erhard, 1957)

Ein gesetzlicher Mindestlohn benachteiligt grundsätzlich die schwächsten Teilnehmer des Arbeitsmarktes, verringert das Angebot an Arbeitsplätzen in Deutschland und nimmt Einfluss auf die Lohngestaltung im Ganzen. Jeder Einfluss dieser Art sollte in einer marktwirtschaftlichen Ordnung tabu sein. Er ist keine soziale Errungenschaft. Höhere Löhne schafft der Arbeitsmarkt bei knappen Arbeitskräften von selbst, und das werden wir in den kommenden Jahren noch deutlich zu spüren bekommen. Diese Klarheit klingt sozial unsensibel. Doch zusammen mit guter Ausbildung, intensiven Weiterbildungs- und Umschulungsangeboten und einer gut funktionierenden Agentur für Arbeit ist gerade die freie Aushandlung des marktgerechten Lohns im Interesse der Arbeitnehmer.

Das Risiko, das mit der Einführung eines marktfremden Mindestlohns verbunden ist, wurde durch die Einbeziehung der Tarifparteien in die Lohnfindung nur vermeintlich gemildert. Denn – wie auch immer das kaschiert wurde – aus einem Preis des Marktes wurde ein staatlich festgesetzter Preis mit allen Risiken der politisch motivierten Fehlallokation und des damit verbundenen unnötigen Abbaus von Arbeitsplätzen. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob dieser Fehler jetzt in seiner Gänze verwirklicht wird und Löhne auf Anordnung eines Parteiprogramms festgesetzt werden. Dann sind alle Türen offen, und der nächste Wahlkampf wird zu einer Versteigerung des Mindestlohns, wie wir es im vergangenen US-Wahlkampf bereits erlebt haben. Dadurch werden immer größere Teile des Arbeitsmarktes unter ein einheitliches politisches Preisdiktat gezerrt.

Vielleicht ist der eben angesprochene Punkt ein Vorgeschmack auf die kommenden Wochen. Schon im Hinblick auf Jamaika-Verhandlungen würde die Sache schwer werden – und in einer Ampel-Koalition müsste man der FDP bewundernswert starke Nerven wünschen. Aus Ludwig Erhards Sicht bleibt klar: Die Fahrt in die falsche Richtung sollte nicht auch noch beschleunigt werden.


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