Ludwig Erhard war ein großer Freund des freien Handels als Motor für die schnelle Entwicklung des Wohlstands im eigenen Land wie auch weltweit. Die Verständigung der Völker war ihm ein inneres Anliegen. In seinem Buch „Wohlstand für Alle“ heißt es: „Mein Ideal von einer glücklichen Handelspolitik in einer freien Welt kann erst dann als erfüllt gelten, wenn die Handelspolitik zwischen den Ländern überhaupt nicht mehr gespalten ist, vielmehr sich die gesamte freie Welt auf einheitliche Spielregeln und Prinzipien festgelegt hat“ (Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle, 1957, Seite 316).

Die Hoffnungen Erhards hatten sich in den letzten Jahrzehnten schon sehr weitgehend erfüllt. „The world is flat“ schrieb Thomas L. Friedman im Jahr 2005, und es gab große Hoffnung, dass die Globalisierung alle erfasst und teilhaben lässt. China wurde Mitglied der WTO, G8 und G20 waren neue Formate. Die jüngst vergangenen Dekaden werden uns als die Zeit der Geo-Ökonomie, in der wirtschaftliche Erwägungen das Verhältnis der Welt dominierten, in Erinnerung bleiben. Putins unsinniger Krieg hat diese längere Entwicklung mit einem Schlag beendet. Und die Pläne von Präsident Ji Jinping für die Weltmacht China im Jahr 2049 wecken leider auch keine Hoffnungen auf eine offene Weltwirtschaft. Die Zeit der Geo-Strategie und der Machtpolitik ist zurück und wird uns für Jahrzehnte in ihren Fesseln halten. Gesellschaftspolitisch und ökonomisch sind wir wieder im Wettkampf der Systeme; Demokratie gegen Diktatur und Marktwirtschaft gegen staatliche Lenkung.

Für kaum ein Land der Welt birgt diese Entwicklung mehr Gefahren als für Deutschland. Als Ludwig Erhard durch die Freigabe der Preise den Weg freimachte, sodass das Feuerwerk des Wirtschaftswunders starten konnte, war der Anteil des Außenhandels an der deutschen Volkswirtschaft gering – heute sind es rund 67 Prozent. Das führt zu großen Abhängigkeiten vom Welthandel, auch, aber nicht nur, bei der Rohstoffversorgung. Das wird uns in den kommenden Wochen weiter in Atem halten. Die Zeit der Geo-Strategie bedeutet, dass politische Interessen erheblichen Einfluss auf die Handelsbeziehungen haben werden. Unsere Lieferketten müssen die neuen Abhängigkeiten verkraften können. Automobilkonzerne sollen weiter Autos in China verkaufen, aber sie müssen es überleben, wenn der Markt spontan verschlossen wird. Auf eine lange Frist sollten wir Chinas Erklärungen, dass das Land von der Weltwirtschaft unabhängig sein will, in jedem Fall ernst nehmen.

Das alles ist Analyse. Doch was folgt daraus? Es bleibt ja dabei: unser Wohlstand kann nicht gehalten werden, wenn wir nicht in engstem wirtschaftlichem Austausch mit vielen anderen Volkswirtschaften stehen, die unsere Lieferanten und unsere Absatzmärkte sind. Die WTO wird dazu wahrscheinlich nur einige wenige, gleichwohl hoffentlich auch in Zukunft respektierte Grundsätze beitragen können. Die deutsche Politik muss die Frage beantworten, wo gesellschaftspolitische Konkurrenz und machtpolitische Interessen das Risiko von politisch beeinflussten Wirtschaftsbeziehungen sehr hoch werden lassen. Das trifft heute für Russland zu, aber wie bewertet man das Risiko eines Angriffs Chinas auf Taiwan? Welche Entwicklung werden die Spannungen zwischen den USA und China nehmen? Wie realistisch ist der Glaube, Europa könnte in diesem Konflikt neutral bleiben und könnte auf die enge Allianz mit den USA verzichten?

Das Lamento über die Rückschritte in der friedlichen Globalisierung hilft nicht. Es gibt eine große Zahl von Menschen und Nationen, die unsere Werte von Freiheit, Selbstbestimmung, Würde des Einzelnen, Eigentum und Marktwirtschaft teilen. Wir alle haben voreinander keine Angriffe, keine gefährliche Erpressung, kein Embargo und keine Verletzung der Menschenrechte zu fürchten. Diese geo-strategische Gemeinschaft muss zusammenwachsen und sich entschlossen dem Wettbewerb der Systeme stellen.

Wir müssen aus eigenem Interesse ein Motor dieser Entwicklung sein. Das bedeutet konkret, alle Kraft für eine weitere Vertiefung der wirtschaftlichen Einheit Europas zu mobilisieren. Angesichts der Tatsache, dass die politische Union keine endlose Zahl von Nationen schultern und also vertragen kann, muss zugleich die wirtschaftliche Erweiterung Europas jenseits der Grenzen der EU vorangetrieben werden. Großbritannien, Norwegen, die Türkei, die Ukraine gehören in eine europäische Freihandelszone, auch wenn sie nicht Teil einer politischen Union sein können oder wollen. Die Grundlagen einer solchen Ordnung müssen jetzt geschaffen und Stück für Stück erweitert werden. Wir sollten Israel einladen und mit einiger Geduld auch für die Länder Nordafrikas offen sein.

Dieser große europäische Markt der Freiheit hat Partner in der Welt, beispielsweise Nordamerika, Japan, in Südamerika und der ASEAN-Gruppe. Wir müssen erfolgreich genug sein, um Indien, Arabien und Afrika an uns zu binden. Auch hier wird es Abhängigkeiten und Interessengegensätze geben. Es gibt keine ideale Welt. Aber nur mit einer geopolitischen Strategie und einer neuen Entschlossenheit kann Deutschland dazu beitragen, dass wenigstens einiges von Erhards Idealen – allen voran der freiheitliche Geist für selbstbestimmte Gesellschaften und das entschiedene Eintreten für Marktwirtschaft und freien Handel –erhalten bleibt und wir nicht zum Spielball der Muskelspiele anderer werden.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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