Das Grundgesetz macht die Soziale Marktwirtschaft rechtlich möglich, schreibt sie aber nicht vor. Was die Bürger aus diesem Angebot machen, obliegt ihnen – bei voller Haftung für die Konsequenzen ihrer Entscheidung.

70 Jahre Grundgesetz bedeuten auch 70 Jahre Erfahrung mit der Sozialen Marktwirtschaft. Produkte werden bisweilen von den Ingenieuren stillschweigend unter Beibehaltung des Etiketts verändert, und der Kunde wundert sich, weshalb das Produkt nicht mehr so gut ist wie früher. Die Soziale Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards gehört zu den „Produkten“, die wegen ihrer bestechend einfachen Konstruktion keine Veränderung vertragen.

Die Soziale Marktwirtschaft ist „durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen“ bestimmt. Dieses Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft wurde 1990 im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR formuliert und so in den Verfassungsrang gehoben. Da hatte die alte Bundesrepublik zwei erfolgreiche Jahrzehnte mit der Sozialen Marktwirtschaft hinter sich – und ab 1967, einem Etikettenschwindel gleich, den bis heute quasi ungebremsten Umbau zum Wohlfahrts- und Interventionsstaat in Gang gesetzt.

Manche bezeichnen die Soziale Marktwirtschaft als Dritten Weg zwischen ungezügeltem Kapitalismus und Sozialismus. Diese Extreme sind wie im ersten Fall gesellschaftlich inakzeptabel oder wie im zweiten eine Utopie. Ein sich selbst überlassener Markt neigt zur Monopolisierung und begünstigt damit den Aufbau von Machtpositionen und Ausbeutung.

Gebundene Freiheit

Die Erfahrungen mit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert belegen das. Dass auf der anderen Seite die sozialistische Idee das Privateigentum in Kollektiveigentum verwandelt und deshalb zum Scheitern verurteilt ist, ist längst durch die Erfahrungen in den sozialistischen Ländern bewiesen: Kollektives Eigentum hat kollektive Verantwortungslosigkeit und damit Misswirtschaft zur Folge.

Ludwig Erhard formulierte 1948 – also vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes – seine Vorstellung von der zu schaffenden Wirtschaftsordnung: „Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära, auch nicht das ‚freie Spiel der Kräfte‘ (…), sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persönlichkeit obenan stellt und der Leistung aber auch den verdienten Ertrag zugutekommen lässt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung.“

Erhard hatte die Probleme einer ungezügelten Marktwirtschaft erkannt. Im Unterschied zu den Sozialisten stellte er aber eine aus dem menschlichen Handeln abgeleitete Alternative vor, die Wettbewerb als zentrales Element beibehält. Da Wettbewerb nicht von allein Bestand hat, muss er „auch in der freiheitlichen Wirtschaftspolitik durch staatliche Autorität gesichert werden (…), denn die Marktwirtschaft ist nur insoweit politisch, sozial, moralisch und wirtschaftlich zu vertreten, als sie eine wirkliche Wettbewerbsordnung ist“. Diese zu schaffen, ist in Erhards Worten „die eigentliche und vornehmste Aufgabe des Staates“.

Mit der Abkehr von der bis dahin so erfolgreichen Ordnungspolitik wurde nach Erhards Rücktritt als Bundeskanzler in der deutschen Wirtschaftspolitik ein Paradigmenwechsel vollzogen: 1967 wurde das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, das sogenannte Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StabWG), verabschiedet. Der SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller freute sich damals, „dass der Keynes der ‚General Theory‘ von 1935 nun endlich seinen Einzug in Deutschland hält“. Das Ziel war die „Steuerung der effektiven Gesamtnachfrage“ durch den Staat.

Abkehr von der Ordnungspolitik

In diesem Kontext wurde zuvor Artikel 109 Absatz 2 in das Grundgesetz eingefügt, nach dem der Bund und die Länder „bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen“ haben. Bund und Länder hatten von nun an eine aktive Rolle im Wirtschaftsgeschehen, denn sie haben ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen „so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“.

Der Erfolg der Politik wurde an den Kennzahlen „Wachstum“ und „Beschäftigung“ gemessen, die von nun an in die Verantwortung des Staates fielen; zuvor waren Wachstum und Beschäftigung das Ergebnis von Marktprozessen gewesen. Das Fatale daran: Jede politische Maßnahme konnte von da an mit dem Erfordernis des Erreichens dieser Ziele gerechtfertigt werden.

Schiller betonte aber auch, dass „die Spontaneität des Marktes und des Wettbewerbs ihre zentrale Funktion [behält]. Der Wettbewerb ist und bleibt entscheidende Triebkraft der wirtschaftlichen Dynamik und des wirtschaftlichen Wachstums und damit auch der Stabilität. Kein noch so ausgeklügelter zentraler Investitionsplan mit noch so detaillierten Rechnungen und Empfehlungen kann den ‚eingebauten Expansions- und Stabilitätsmechanismus‘ Wettbewerb ersetzen. Wir haben keinen Grund, die Linie der Wettbewerbspolitik zu verlassen …“ Der sozialdemokratische Wirtschaftsprofessor Karl Schiller war also ein überzeugter Verfechter des Wettbewerbs. Diese Tatsache wird heute gern unterschlagen.

Die psychologischen Wirkungen des Stabilitätsgesetzes sind kaum zu überschätzen. Allmacht und Allzuständigkeit sind die Eigenschaften, die seitdem dem Staat attestiert werden. Das Vertrauen in Marktprozesse wird von staatlicher Seite eher unterwandert als gefördert. Wer heute auf dem Markt tätig wird, tut das mit der Gewissheit, dass der Staat sich einmischt. Und er tut es mit der Erwartung, dass auch Privatunternehmen auf Kosten der Allgemeinheit gerettet werden.

In der persönlich von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier unterschriebenen Einleitung seiner „Industriestrategie 2030“ heißt es: „Seit Ludwig Erhard hat unser Staat unmittelbar Verantwortung für die Schaffung und den Erhalt von Wohlstand übernommen. Sein Programmsatz ‚Wohlstand für alle‘ formuliert ein weitreichendes politisches Versprechen an alle Bürgerinnen und Bürger, über alle sozialen Schichten hinweg.“ Diese Aussage ist richtig, wenn mit dem Versprechen die staatliche Organisation der Wettbewerbsordnung gemeint ist. Wenn nicht, ist sie falsch. Peter Altmaier bezieht sich auf Ludwig Erhard, betreibt aber das Gegenteil von Ordnungspolitik, denn die vorgelegte Industriestrategie „definiert, in welchen Fällen ein Tätigwerden des Staates ausnahmsweise gerechtfertigt oder gar notwendig sein kann“. Staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen nennt man Interventionen, der Wirtschaftsminister aber nennt das „Industriestrategie“, welche einen „Beitrag zur Gestaltung einer zukunftsfesten Marktwirtschaft“ leiste. Das ist ein Widerspruch in sich, wenn dem Interventionismus ein Beitrag zur Sicherung der Marktwirtschaft zugesprochen wird.

Warum schreien die Bürger nicht auf? Entweder sie verstehen nicht, was der Minister sagt, oder sie sind mit seiner Politik zufrieden. In einer Demokratie haben die Bürger die Freiheit, ihre Freiheit selbst zu beschneiden. So wird die marktwirtschaftliche Ordnung seit gut fünf Jahrzehnten in freier Entscheidung geschädigt und ächzt unter den staatlichen Einmischungen.

Wer mit dem heutigen Zustand unzufrieden ist, kann aber sofort beginnen, durch Argumente eine Mehrheit für eine Zustandsverbesserung zu organisieren. So gesehen ist zumindest mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung alles in Ordnung.

Berthold Barth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Dieser Beitrag ist zuerst im Sonderheft „Wohlstand für Alle – 70 Jahre Grundgesetz“ aus dem Jahr 2019 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

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