Wurde 1990 die Chance verpasst, eine neue Verfassung für das vereinigte Deutschland zu erarbeiten? Richard Schröder hält es für einen Fehler, dass noch nicht einmal über das einigungsbedingt geänderte Grundgesetz eine gesamtdeutsche Volksabstimmung durchgeführt wurde.

Nachdem die Volkskammer am 1. Dezember 1989 die führende Rolle der SED aus der DDR-Verfassung gestrichen hatte, begann am 7. Dezember auf Einladung der Kirchen der Runde Tisch seine Arbeit. Je zur Hälfte mit Vertretern der Blockparteien und der Oppositionellen besetzt, sollte er den Übergang zu Demokratie und Rechtsstaat moderieren. Er setzte eine Verfassungskommission ein, und mangels Erfahrung lud man westdeutsche Verfassungsjuristen als Berater ein.

Aber die Zeit bis zu den Volkskammerwahlen reichte nicht, um einen Verfassungsentwurf zustande zu bringen. Eine interessierte (aber nicht legitimierte) Gruppe erstellte erst danach den Verfassungsentwurf des Runden Tischs. In diesem Entwurf waren Ideen westdeutscher Verfassungsrechtler eingegangen, für die es in der Bundesrepublik bisher keine Mehrheit gegeben hatte. Das betraf vor allem Elemente der direkten Demokratie und Staatszielbestimmungen wie „das Recht auf Arbeit“ — das in einer Marktwirtschaft nie einklagbar ist.

Hätte die DDR weiterbestanden, wäre nach der Herbstrevolution eine zügige Verfassungsgebung angesagt gewesen. Aber 1990 war die DDR ein Staat in Auflösung. Die Staatsverschuldung in Devisen war nicht mehr beherrschbar; die Wirtschaft kam nach der Maueröffnung in Schwierigkeiten. Der RGW, also der Wirtschaftsverbund der „sozialistischen Länder“, begann sich aufzulösen. Bei einem einsturzgefährdeten Haus ist anderes dringender als eine neue Hausordnung.

Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte keine neue Verfassung der DDR, sondern möglichst schnell zur Bundesrepublik gehören. Die Eigentumsfrage und der Umtauschkurs bei einer Währungsunion waren die Hauptthemen des Volkskammerwahlkampfs. Politische Entscheidungen und Gesetze waren hier gefragt; eine neue Verfassung konnte für diese Sorgen keine Abhilfe schaffen. Und auch in der Bundesrepublik stand den wenigsten der Sinn nach einer neuen Verfassung. Grundgesetz und Verfassungsgericht standen in höchstem Ansehen.

Damals wurde gesagt, das Grundgesetz biete zwei Wege zur deutschen Vereinigung: den Beitritt nach Artikel 23 oder den Weg über eine neue Verfassung gemäß Artikel 146 (Dieses Grundgesetz „verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“). Gewählt wurde der Beitritt nach Artikel 23. Er konnte schnell vollzogen werden; niemand wusste, wie lange sich Gorbatschow an der Macht halten kann. Deshalb war es sinnvoll, die Frage einer neuen Verfassung zu vertagen und sich auf die Vereinigungsprobleme zu konzentrieren.

Im Einigungsvertrag wurden Änderungen des Grundgesetzes und ein Zeitplan beschlossen, „sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“. Benannt werden „im Besonderen“: das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, die Fusion von Berlin und Brandenburg, die Frage der Staatszielbestimmungen und „die Frage der Anwendung des Artikel 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung“.

Die Überarbeitung ist in einer Verfassungskommission erfolgt. Aber die Volksabstimmung über das geänderte Grundgesetz unterblieb. Man befürchtete, eine geringe Abstimmungsbeteiligung würde das Ansehen des Grundgesetzes schwächen. Ich halte das für einen Fehler. Die Zustimmung zur Verfassung wäre ein Akt der Anerkennung mündiger Bürger.

Prof. Dr. Dr. h.c. Richard Schröder war 1990 Fraktionsvorsitzender der SPD in der letzten Volkskammer der DDR.

Dieser Beitrag ist zuerst im Sonderheft „Wohlstand für Alle – 70 Jahre Grundgesetz“ aus dem Jahr 2019 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

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