Der Bundesfinanzminister hat vor Kurzem seine Pläne für eine Entlastung der Bürger in den angespannten Zeiten einer trabenden Inflation vorgestellt. Hätte man zehn internationale Ökonomen gefragt, was der wichtigste Schritt sein muss, sie alle hätten spontan geantwortet: „Die heimliche Steuererhöhung durch die kalte Progression muss weg“. Sie ist nämlich keine geplante staatliche Besteuerung unter Gesichtspunkten wie Ausgewogenheit oder Angemessenheit, sie entsteht im Gegenteil dadurch, dass Leistungsträger für die gleiche Arbeit „einfach so“ in eine höhere Besteuerung rutschen.

Das Problem ist nicht neu. Man könnte es im Steuersystem durch automatische Anpassungsformeln ein für alle Mal lösen. Das ist in der Politik schwer durchzusetzen, denn so kommt ja Geld in den Haushalt. In der aktuellen Lage eine echte Steuererhöhung für kleine und mittlere Einkommensbezieher durchzusetzen wäre politisch unmöglich und ökonomisch falsch. Gerade die Parteien, die sich besonders den niedrigen Einkommensbeziehern – die man vielleicht früher im Polit-Jargon die „einfachen Arbeiter“ genannt hätte – verpflichtet fühlen, müssten also mit aller Macht für die Beseitigung der Folgen der kalten Progression streiten.

Sie tun es aber nicht. Gerade für die SPD, aber auch Teile der Grünen, wird aus dem sinnvollen Vorschlag von Bundesfinanzminister Christian Lindner sofort eine Begünstigung des Besserverdienenden. In der Tat, eine Veränderung der Progression hilft vor allem denen, die nicht den Spitzensteuersatz zahlen. Und das ist auch genau richtig.

Der Widerstand formiert sich gerade auch in der Bundesregierung. „Die Abschaffung der kalten Progression nützt vor allem den Top-Verdienern und ist eben kein geeignetes Instrument, um Familien in unteren und mittleren Einkommen zielgenau zu unterstützen“, sagte die Familienministerin Lisa Paus. Sie plädiere klar dafür, „die Finger von der kalten Progression zu lassen und andere Hebel für eine zielgerichtete Unterstützung, wie ein höheres Kindergeld, anzusetzen“.

Der Ansatz von Familienministerin Lisa Paus vermischt zwei entscheidende Prinzipien einer fairen und friedlichen Ordnung. Das eine Prinzip ist eine an klare Regeln gebundene, möglichst faire Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der einzelnen Steuerzahler. Die kalte Progression ist weder transparent noch durch den Gesetzgeber entschieden. Da die kalte Progression gerade den Beziehern von niedrigen Erwerbseinkommen oft den überwiegenden Teil jedes in Tarifverhandlungen erreichten Einkommensgewinns wieder abnimmt, verletzt sie die Grundlagen einer fairen Besteuerung.

Das andere Prinzip ist der faire soziale Ausgleich, wozu die Unterstützung von Familien durchaus zu zählen ist. Alles was dort durch die Politik verteilt werden kann, mussten vorher Steuerzahler erarbeiten. Hilfe für diejenigen, die mit dem eigenen Lebensunterhalt keine Chance auf eine angemessene Teilhabe in der Gesellschaft haben, darf nicht gegen eine faire Behandlung derjenigen, die keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen, ausgespielt werden.

Ludwig Erhard war bei der Schaffung von sozialen Transfersystemen skeptisch. Wohlstand für Alle sollte durch eine wachsende und erfolgreiche Wirtschaft, die genug Arbeitsplätze zu guten Löhnen schafft, erreicht werden, und nicht durch eine Planwirtschaft. Die Tatsache, dass heute auf unterschiedlichsten Wegen fast die Hälfte der Bevölkerung nennenswerte Transferleistungen bekommt, hätte ihm nicht gefallen. Tatsächlich hat das Institut der Deutschen Wirtschaft im Jahr 2020 herausgefunden, dass am Ende des Jahres 46 Prozent der Bevölkerung mehr an staatlichen Leistungen erhalten, als sie an Steuern und Abgaben eingezahlt haben.

Wer die Angemessenheit und Ausgewogenheit des Steuersystems für weniger wichtig hält als Transferleistungen, gefährdet genau diese. Erst müssen die Steuerzahler das Geld verdienen, sie müssen motiviert bleiben, ihre Arbeitgeber müssen international wettbewerbsfähig bleiben. Dann kann man Geld neu einsetzen. Das begrenzt die Möglichkeiten der staatlichen Zuwendungen vielleicht mehr, als sich manche erhoffen. Aber auch die Wünsche derjenigen, die Steuern zahlen und keine Transferleistungen erhalten, gehen ja nicht alle in Erfüllung.

Der Vorschlag des Bundesfinanzministers ist im Prinzip richtig. Er ist schon politisch weichgespült, weil er bescheiden ausfällt und erstmals den Spitzensteuersatz von der Progressionsbegradigung ausschließt. Er müsste mehr tun, er darf auf keinen Fall zurückweichen.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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