Ein Wirtschaftspolitiker, ein Staatsmann, der seine Aufgabe heute noch darin erblicken wollte, für eine nationale Wirtschaft, das heißt allein für sein Volk, das Beste herauszuholen, könnte durchaus nützliche Arbeit leisten. Dennoch würde er seine Aufgabe nicht zufriedenstellend erfüllen, denn wir alle haben erfahren, dass innerhalb der Nationalstaaten nicht mehr die Erfolge zu erreichen und auch nicht mehr die Grundlagen zu sichern sind, die der Mehrung des Reichtums und der sozialen Wohlfahrt innerhalb der freien Welt zu dienen vermögen.

Es ist gewiss nicht leicht, Wirtschaftspolitik als nationale Aufgabe und Wirtschaftspolitik als gemeinsame, international fundierte Zielsetzung voneinander zu trennen. Aus diesem Grunde lassen Sie mich Ihnen zunächst in aller Kürze die Prinzipien der deutschen Wirtschaftspolitik auseinander setzen. Das soll sozusagen eine Einleitung sein zu dem, was uns alle bewegen muss: zur Frage, wie wir den nationalen Protektionismus und Egoismus überwinden und zur Solidarität – zum gemeinsamen Denken, zum gemeinsamen Handeln und zu einer gemeinsamen Verpflichtung – finden können.

Wir haben unsere Wirtschaftspolitik in Deutschland mit dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ ausgestattet. Das Beiwort „sozial“ ist dabei mehr als nur eine Arabeske oder gar nur eine Verbrämung von Absichten, die auf wenig Zuspruch hoffen können. Soziale Marktwirtschaft ist fest und ehrlich gemeint.

Weg vom Dirigismus, hin zur Handlungsfreiheit

Wir wollten nicht an die kapitalistische Wirtschaft der Vergangenheit anknüpfen, und wir waren auch nicht bereit, die Politik eines nationalen staatlichen Dirigismus als Grundgesetz unserer wirtschaftlichen Ordnung anzuerkennen. Im Gegenteil, wir haben in Deutschland in einer entscheidenden Stunde – das war der Tag der Währungsreform, der 20. Juni 1948 – das Steuer unserer Wirtschaftspolitik um 180 Grad herumgerissen, um von einer völlig verkrusteten und verkrampften Zwangswirtschaft, vom staatlichen Dirigismus, zu einer freien Wirtschaft umzuschalten.

Wir haben damit dem wirtschaftenden Menschen, gleichgültig, wo er tätig war – als Unternehmer oder als Verbraucher –, die völlige Freiheit des Handelns und der Entscheidung zurückgegeben. Vor allem haben wir damit aber einer aus den Fugen geratenen, des Gleichgewichts beraubten Wirtschaft wieder zu innerer wirtschaftlicher und finanzieller Stabilität verholfen.

Zuerst wurde eine neue deutsche Währung geschaffen: ein zartes Pflänzchen, das sozusagen auf die grüne Wiese gesetzt wurde, denn diese deutsche Währung – die D-Mark – war nicht mit einem Cent an Devisen, nicht mit einem Gramm Gold unterbaut. Ihr einziges Fundament war der feste und entschlossene Wille, Disziplin zu üben – Disziplin in Bezug auf die Geld-, Kredit- und Währungspolitik, vor allem auch Disziplin in der Wirtschaftspolitik. Allein damit haben wir erreicht, dass die Deutsche Mark heute zu den härtesten Währungen der Welt zählt, und dass die deutsche Wirtschaft, die völlig darniederlag, heute wieder so weit gediehen ist, dass das deutsche Volk sein wirtschaftliches und soziales Schicksal wieder in eigenen Händen hält…

Marktwirtschaft: Risiko und Chance für den Einzelnen

Marktwirtschaft als ökonomisches Prinzip bedeutet, dass sich jeder einzelne Mensch frei entfalten kann; dass er als Unternehmer nicht vom Staat behindert oder gegängelt wird, dass er in der unternehmerischen Sphäre keinem Befehl des Staates zu folgen hat und dass es allein seine Angelegenheit ist – sein Risiko, aber auch seine Chance ausmacht –, im Markte zu gewinnen, was seine Existenz gewährleistet. Auf der Seite des Verbrauchers bedeutet Freiheit, dass jeder Einzelne in freier Konsumwahl – und wieder: ohne dem Befehl und der Leitung einer Bürokratie unterworfen zu sein – sein Leben so gestalten kann, wie es seinem eigenen Willen und seinen Vorstellungen von Glück, Zufriedenheit und Würde entspricht.

Diesen freiheitlichen Prinzipien haben wir in Deutschland wieder zur Geltung verholfen, und zwar in einer Zeit, in der die meisten Menschen nicht glauben wollten, dass dieses „Experiment“ gelingen könnte. Das war die Zeit, in der die Statistikexperten – und sie gaben sich viel Mühe – errechneten, dass auf jeden Deutschen nur alle fünf Jahre ein Teller käme, alle zwölf Jahre ein Paar Schuhe, nur alle fünfzig Jahre ein Anzug, dass nur jeder fünfte Säugling in eigenen Windeln liegen könnte und nur jeder dritte Deutsche die Chance hätte, in seinem eigenen Sarg beerdigt zu werden. Das schien ihnen die Zukunft zu sein, die den Deutschen winkte.

Was wir in Deutschland getan haben, war kein so großes Wagnis. Freilich kam es darauf, dass die Kraft und der Wille aufgebracht werden, Disziplin zu üben und sich keiner Sünden auf finanz- und kreditwirtschaftlichem Gebiet schuldig zu machen. In diesem Fall war es nur eine banale Selbstverständlichkeit, dass das Sozialprodukt und das Volkseinkommen – die laufende Güterproduktion und die laufende Einkommensbildung – den Größenordnungen nach zum Ausgleich kommen. Denn in einer gesunden Wirtschaft kann kein Einkommen entstehen, das nicht an eine Güter schaffende Leistung gekoppelt ist.

Weil das so ist, kann man sich seiner Sache gewiss sein, dass nicht mehr Kaufkraft zum Markt drängt, als der Markt an Gütern darzubieten vermag. Allerdings bleibt dann noch die entscheidende Frage, auf welche Weise es zustande kommen kann, dass Millionen freier Konsumenten im Markt jeweils genau das vorfinden, was sie begehren.

Staatliche Produktionslenkung zur optimalen Versorgung?

Nach den Vorstellungen der planwirtschaftlichen Dirigisten sind Unternehmer Menschen, die nicht auf das Gemeinwohl bedacht sind, sondern nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben, und die somit nicht produzieren, was andere glücklich sein lässt, sondern womit sie den größten Gewinn erzielen. Aus solcher Verblendung ist die Vorstellung entstanden, dass der Staat die Produktion so lenken muss, dass die Menschen zu einer optimalen Versorgung kommen.

Ich muss sagen – und das soll nicht zynisch klingen – „glücklicherweise“ haben wir in Deutschland dieses planwirtschaftliche Experiment bis zum bitteren Ende ausgekostet und am eigenen Leib erfahren, wie untauglich diese Art von Wirtschaft ist. Andererseits wissen wir inzwischen, dass es nichts Wohltätigeres gibt als eine freie Wirtschaft mit freien Unternehmern und dass diese freie Wirtschaft mehr als alle andere Formen des Wirtschaftens ein Maximum an Wohlfahrt, Versorgung und günstigen Lebensmöglichkeiten für alle Schichten des Volkes gewährleistet.

Eine dirigistische Wirtschaft, das heißt eine staatliche Befehlswirtschaft, möchte durch nationale Planung das Sozialprodukt so gestalten und so aufteilen, dass Millionen Menschen die beste Versorgung erhalten. In der freien Unternehmungswirtschaft, in der Marktwirtschaft, wird dasselbe Ziel dadurch erreicht, dass neben der Wahrung des Gleichgewichts von Sozialprodukt und Volkseinkommen noch ein wichtiges Element wirksam gemacht wird, nämlich der Wettbewerb.

Marktwirtschaft bedeutet, dass der Unternehmer auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen ist, sich im Wettstreit mit seinen Konkurrenten zu behaupten und immer Besseres zu leisten, um seine Position zu sichern – sei es in Bezug auf die Qualität, sei es in Bezug auf die Preiswürdigkeit seiner Waren und Leistungen.

Was in der staatlichen Planwirtschaft durch einen nationalen, auf lange Sicht voraus gefassten Plan erfolgt, das wird in der Marktwirtschaft durch eine millionenfach gefächerte individuelle Planung besorgt, nämlich durch die fortlaufende Anpassung der einzelnen Betriebe an die Wandlungen und Wendungen des Verbrauchs. Der Unternehmer, der nicht beweglich genug ist, sich diesen Erscheinungen anzupassen, oder der nicht willens ist, sich immer wieder den Wünschen des Verbrauchers gefügig zu zeigen, wird schnell erfahren, dass es um seine Existenz geschehen ist.

Die Anpassung der Produktion an den Verbrauch erfolgt in der Marktwirtschaft unsichtbar, aber sie ist viel wirksamer, und vor allen Dingen: Sie geschieht viel schneller und exakter als die starre, jeweils auf lange Zeiträume vorausschauende nationale Planung. Woher sollte denn auch ein Staat und seine Bürokratie wissen, was dem Wohle von vielen Millionen Menschen frommt? Die das am besten wissen, sind die Menschen selbst, die in freier Konsumwahl ihre Bedürfnisse decken wollen…

Verbraucherwille entscheidet über Wohl und Wehe

Ich habe es immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass es in meinem Bild der Wirtschaft nur einen Maßstab gibt, und das ist der Verbraucher. Es gibt nur einen Richter über Gut und Böse in der Wirtschaft, über das Nützliche und das Unnütze: den Verbraucher. Denn welchen anderen Zweck sollte eine Wirtschaft haben als den, der Gesamtheit eines Volkes zu immer besseren und freieren Lebensbedingungen zu verhelfen, Sorgen zu überwinden und den Segen der Freiheit – nicht nur der materiellen, sondern auch der geistigen und seelischen Freiheit – allen teilhaftig werden zu lassen? Das Gefühl der Befreiung beruht zu einem guten Teil auf der ökonomischen Grundlage. Wenn viele Menschen in einer Wirtschaft, in einem Staat, von der Sorge gequält sind, was morgen ihr Schicksal sein wird, kann man nicht von Freiheit sprechen. Denn frei, wahrhaft frei als Persönlichkeit und wahrhaft frei gegenüber dem Staat und seinen Einrichtungen ist nur derjenige, der gewiss sein kann, kraft eigener Leistung und eigener Arbeit bestehen zu können, ohne Schutz, aber auch ohne Behinderung durch den Staat…

Was im nationalen Raum gilt, gilt auch international. Die Aufgabe ist, Völker aus Armut und Not zu befreien, immer mehr Menschen in einen gehobenen Lebensstandard zu führen, ihnen die Möglichkeit und die Sicherheit zu geben, sich frei zu entfalten, das heißt: unabhängig von den Gewalten des Staates zu werden, aber sich dennoch der Ordnung des Staates verpflichtet zu fühlen.

Das ist nicht dadurch zu besorgen, dass Staaten mit Staaten Verträge schließen. Das ist auch nicht dadurch zu erreichen, dass nationale Kartelle sich auf internationaler Ebene zusammenfinden und Absprachen treffen. Wir müssen vielmehr erreichen, dass sich jeder einzelne Mensch über den nationalen Raum hinaus frei bewegen, dass er seiner Sehnsucht genügen kann, mit Menschen in anderen Ländern zusammenzukommen. Dann ist nach meiner Überzeugung die beste Grundlage für die Sicherung des Friedens gelegt.

Auszüge aus einem Vortrag vom 31. Mai 1954, gehalten in Antwerpen.

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