Am 22. November 2017 wurde Dr. Marc Beise, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung, in Berlin mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. In seiner Preisrede gibt er einen Einblick in die Redaktion der Süddeutschen Zeitung, weil er findet, dass dieser Blick ein Blick in die Wirklichkeit sei.

Lieber Herr Tichy, sehr geehrte Mitglieder der Ludwig-Erhard-Stiftung, sehr geehrte Gäste, ich komme aus einer Redaktion, die traditionell sehr viele buchstäblich „ausgezeichnete“ Journalisten beherbergt. Einige meiner Kollegen bei der Süddeutschen Zeitung haben, glaube ich, schon so viele Preise eingeheimst, dass sie die gar nicht mehr zählen können. Ich schließe nun, dank Ihnen, zu diesen Kollegen auf. Nicht quantitativ, das ist klar, aber qualitativ allemal. Der Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ist, das muss ich Ihnen nicht sagen, ungefähr die Krönung dessen, was einem Wirtschaftsjournalisten in Deutschland an Gutem widerfahren kann.

Den Preis haben, wenn ich es richtig sehe, überhaupt erst zwei SZ-Redakteure vor mir erhalten: Das ist zunächst Franz Thoma, Preisträger des Jahres 1979, legendärer Leiter des Wirtschaftsteils der Süddeutschen Zeitung. An ihn erinnern sich viele ältere Kollegen noch mit großer Hochachtung. Als er 1994 starb, schrieb Robert Leicht in der ZEIT, dass Thoma über wirtschaftliche Themen so geschrieben habe, dass „der Ökonom fachlich überzeugt wurde, ohne dass der einfache Wirtschaftsbürger den Schock gefühlloser Expertenkälte zu spüren bekam“. Ich finde, schöner kann ein Kompliment nicht lauten.

Der zweite Preisträger – er ist heute hier – ist mein lieber Freund und Vorgänger im Amt des Wirtschaftsressortleiters Nikolaus Piper. Beide, Thoma wie Piper, stehen ohne Zweifel in einer klaren ordnungspolitischen Tradition; sie waren und sind würdige Preisträger – was die Latte für mich sehr hochlegt, weshalb ich Sie ein bisschen an meinen Zweifeln als Preisträger teilhaben lassen will.

Wenn Menschen mit Meinung älter werden, kann das im Allgemeinen zwei Entwicklungen nehmen. Entweder verhärtet man immer mehr in den Positionen, die man sowieso immer hat. Eine Untergruppe bilden Zeitgenossen, die ihre Meinung noch einmal fundamental geändert haben, aber aus einer Art Scham über frühere Positionen päpstlicher als der Papst werden, sagen wir, in der Beurteilung des Euro, den man sich vielleicht mal gewünscht und den man jetzt am liebsten loswerden will. Solche soll es auch unter früheren Preisträgern geben, sogar unter solchen, mit denen ich befreundet bin.

„Weil vorhin vom Elfenbeinturm die Rede war – da draußen sind lauter Menschen, die mit Ordnungspolitik und Ludwig Erhard nicht mehr viel anfangen können.“

Die andere Gruppe, das sind diejenigen, die mit zunehmendem Alter milder werden. Die ihre eigene Position immer heftiger hinterfragen und zunehmend unsicher werden, ob denn diese klare Meinung, die man bisher immer hatte, bei der einen oder anderen Frage, ob die in ihrer Radikalität wirklich richtig war. Ich bekenne, dass ich mit zunehmendem Alter mehr und mehr in diese zweite Gruppe rutsche. Und ausgerechnet jetzt bekomme ich den Ludwig-Erhard-Preis!

Dabei geht es nicht nur um meine eigenen Positionen und meine Artikel, sondern es gilt auch für das, was man so ein bisschen das soziokulturelle Umfeld nennen kann. Ursula Weidenfeld hat darauf hingewiesen, dass ich beim Handelsblatt in einer Gruppe Gleichgesinnter war, aber bei der SZ-Redaktion ist das anders. Da gibt es viele, teilweise ziemlich „linke“ Kollegen, deren Prämisse mitunter nicht etwa lautet „Im Zweifel für die wirtschaftliche Freiheit“, sondern eher „Hilfe, wo ist der Staat?“ Ich sitze im Kreis von Kollegen, die im Zeichen des investigativen Journalismus Panama oder Paradise Papers auswerten, was beim FAZ-Kollegen Rainer Hank, auch er ein Preisträger, Hitzewallungen verursacht, mich aber stolz macht, dass ich zu diesem Team gehören darf.

In meiner eigenen Wirtschaftsredaktion finden sich Kollegen, die ein Ende des Wachstums erwarten, die sich maßgeblich mit Ungleichheit beschäftigen, die Umverteilungsfantasien haben, die Freihandel eher für eine Gefahr als für eine Chance halten und die den vornehmsten Sinn einer Steuerreform nicht etwa darin sehen, Leistungsreserven in der Gesellschaft zu aktivieren, sondern vor allen Dingen darin, sozial Schwachen zu helfen. Die dürfen das alles unter meiner Ägide auch noch schreiben. Und das war, lieber Nikolaus Piper, als wir gemeinsam im Jahr 1999 angefangen haben – du als Ressortleiter, ich als dein Stellvertreter – noch anders. Damals haben wir der Wirtschaftsredaktion eine klare ordnungspolitische Linie vorgegeben, und viele der Beiträge, die Ursula Weidenfeld genannt hat, stammen aus jener Zeit. Wir haben das nicht par ordre du mufti betrieben, sondern einfach, weil wir wie von Zauberhand die Meinungsplätze im Wirtschaftsteil dominierten und weil wir eben auch ausreichend viele Mitstreiter im Ressort hatten. Heute gibt es neue jüngere Kollegen, hervorragende Journalisten, gut ausgebildete Ökonomen, klug, weltläufig, neugierig, die aber mit Ordnungspolitik als System nicht mehr viel anfangen können. Kollegen, auf die ich trotzdem stolz bin, deren Einstellung ich empfohlen habe, die uns aber „challengen“.

Warum erzähle ich das so ausführlich? Weil ich glaube, dass dieser Blick in die Redaktion der Süddeutschen Zeitung ein Blick in die Wirklichkeit ist. Weil vorhin vom Elfenbeinturm die Rede war – da draußen sind lauter Menschen, die mit Ordnungspolitik und Ludwig Erhard nicht mehr viel anfangen können. Das sind nicht alles sozialistische Umverteiler, sondern kluge Kollegen, die aber anders denken. Das bringt mich ins Grübeln, und das will ich mit Ihnen – kurz nur, keine Sorge – teilen.

Ich glaube erstens, dass wir in einer Welt leben, die sich immer schneller dreht, viel schneller, als viele von uns das wahrhaben wollen, und in der sich deshalb der Ordnungspolitiker mehr als früher mutwillig infrage stellen muss. Vor einiger Zeit habe ich mit einem klugen, aber störrischen Kollegen eines anderen Mediums geredet, der mir meine ordnungspolitische Positionierung gerne vorzuwerfen pflegt. Die Welt verändert sich, sagt er, auch Wissenschaft entwickelt sich weiter, die Volkswirtschaftslehre muss sich ändern und sie tut das ja auch, nur ihr Ordnungspolitiker, ihr steht da mit euren ewig gleichen Argumenten und bewegt euch keinen Millimeter.

„Wenn die Marktwirtschaft, wenn die Marktprozesse funktionieren sollen, müssen alle Argumente auf den Tisch, müssen alle Marktteilnehmer den möglichst gleichen Wissensstand haben, und das ist dann sogar eine Rechtfertigung für investigative Berichterstattung.“

Das ist ein starker Vorwurf. Erst habe ich ihn natürlich mit Empörung zurückgewiesen, aber der Stachel sitzt. Die Welt verändert sich, sagt mein Gesprächspartner, das stimmt natürlich. Ludwig Erhard, das war einmal. Wir sind nicht mehr in der Aufbauphase der 50er Jahre, in der die Wirtschaft richtig Fahrt aufnahm. Seitdem hat sich alles dramatisch beschleunigt, sich die Wirtschaft globalisiert, haben sich die Innovationen potenziert, ist immer mehr virtuelles Geld in der Welt. Die Zerstörung der Umwelt nimmt immer größere Ausmaße an, wir haben immer mehr fragmentierte Arbeitskarrieren, die Vermögensschere in der Gesellschaft geht auseinander. Heute prallen, obwohl es der Gesellschaft insgesamt besser geht, die Gegensätze brutaler aufeinander als früher, selbst in Deutschland, von anderen Staaten ganz zu schweigen. Die Finanzkrise hat uns, um das Wort eines früheren Finanzministers aufzunehmen, in den Abgrund schauen lassen, die Schuldenkrise hat vielen Staaten dramatisch zugesetzt. Und obwohl Herr Feld ja zu Recht darauf hinwies, dass es – von Griechenland abgesehen, und selbst da tut sich was – in den Schuldnerstaaten langsam besser wird, hat die Stabilitätspolitik doch nicht so schnell gegriffen, wie viele von uns das gehofft haben.

Das alles führt dazu, dass immer mehr Menschen auch in Deutschland glauben, es stimme etwas nicht mit unserem Wirtschaftssystem. Die Zahlen und Analysen, die Frau Köcher gebracht hat, weisen in diese Richtung. Die Stimmung heute ist grundlegend anders als in den Wirtschaftswunder-Aufbaujahren, als man die Erfolge einer angebotsorientierten Politik quasi täglich erkennen konnte.

Die Volkswirtschaft reagiert darauf, die Ökonomie öffnet sich. Verhaltensökonomie steht hoch in Mode, der Homo oeconomicus, der ja entgegen dem, was manche behaupten, immer nur eine Kunstfigur war – der Maßstab, an dem wir Modelle entwickeln konnten –, ist für viele Ökonomen nicht einmal mehr das. Selbst etablierte Professoren, die früher an die Effizienz des Kapitalismus geglaubt haben, outen sich nun als Marktzweifler und fordern ein „Ende des Imperialismus der Ökonomen“. Dieses Zitat kommt übrigens von einem Ludwig-Erhard-Preisträger.

Und mein Gesprächspartner sagt, nur die Ordnungspolitiker stehen da mit ihren ewig gleichen Argumenten und bewegen sich keinen Millimeter, und er hat nicht ganz Unrecht. Wir nennen ja – auch heute wieder – die ewig gleichen Begriffe: Freiheit, Wettbewerb, Verantwortung. Als Begründung führen wir die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft seit 1948 an. Wir können mit vielen Daten nachweisen, wie dieses Wirtschaftssystem unter diesem Motto positiv gewirkt hat: Wie viel Beschäftigung wir haben. Wie viel heute gearbeitet werden muss, um ein Auto kaufen zu können. Kürzere Wochenarbeitszeiten. Exportrekorde. Höhere Ruhestandsbezüge. Das ist ja alles wahr, aber es sind eben rückwärtsgewandte Beobachtungen. Die Ängste und Zweifel sind nach vorne gerichtet.

Vielleicht nimmt die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft deswegen dramatisch ab, und das Gefühl der Bedrohung, die Angst vor dem sozialen Abstieg ist allgegenwärtig – sogar bei denen, die eigentlich gar keine Angst haben müssen. Wenn das so ist, dann ist es richtig, den Diskurs zuzulassen, und deswegen halte ich es für zwingend, dass wir überall diese Debatte führen, dass wir für unsere Prinzipien kämpfen, dass man sie auch in einer Redaktion austrägt, dass wir sie mit dem Leser führen. Das erklärt den Binnenpluralismus, den die Süddeutsche Zeitung mehr als mancher Wettbewerber pflegt und der natürlich für den Ordnungspolitiker immer wieder eine große Herausforderung ist. Das ist aber nicht schlimm, denn es ist zweitens eine Ausformung des Wettbewerbs, des Prinzips, das unverändert der beste Motor der Marktwirtschaft ist, zusammen mit Freiheit und Vertrauen und mit Transparenz. Wenn die Marktwirtschaft, wenn die Marktprozesse funktionieren sollen, müssen alle Argumente auf den Tisch, müssen alle Marktteilnehmer den möglichst gleichen Wissensstand haben, und das ist dann sogar eine Rechtfertigung für investigative Berichterstattung.

Drittens und letztens haben wir die Digitalisierung. Mit ihr habe ich mich in den letzten Jahren viel beschäftigt, war im Silicon Valley und an anderen Orten unterwegs. Ich glaube, es kommt hier etwas auf uns zu, was in seiner Bedeutung immer noch unterschätzt wird. Es entsteht eine fundamental neue, ganz andere nicht nur Technologie, sondern auch Wirtschaft, es entstehen neue Lebens- und Arbeitsformen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Interessanterweise wird dieser Wandel typischerweise als Bedrohung wahrgenommen. Angebliche Experten wissen schon genau, wie viele Arbeitsplätze verloren gehen, wann der Roboter den Menschen unterwirft, weshalb wir deswegen ein bedingungsloses Grundeinkommen brauchen, am besten sofort, weil wir bald Massenarbeitslosigkeit haben und so weiter.

„Ordnungspolitik muss nicht neu erfunden werden, aber sie muss sich an diesen neuen Gegebenheiten erproben und sich gegebenenfalls auch weiterentwickeln.“

Ich sehe das anders. Für mich ist die Digitalisierung zunächst mal eine Chance. Wenn es gelingt, ein Miteinander von Roboter und Mensch zu organisieren, wenn es gelingt, die Datenflut und die Möglichkeiten, die mit ihr verbunden sind, zu organisieren und zu domestizieren, dann kann das die Wirtschaft produktiver und das Arbeiten besser machen. Damit aber nicht Angst und Alarmismus vorherrschen, sondern optimistischer Gestaltungswille Raum greifen kann, müssen die Menschen sich wieder mehr zutrauen. Sie dürfen nicht immer nur auf den Staat blicken, sondern sie müssen bei sich selbst ansetzen; damit sind wir im Kernbereich dessen, was heute auch vielfach betont wurde und was Aufgabe der Ordnungspolitik ist: Wir müssen Mut auf die Zukunft machen und Lust auf die Zukunft.

Das führt übrigens, an die Politiker im Saal gewandt, zu einer kleinen, aber auch nur ganz kleinen Anspielung auf die aktuelle Berliner Politik. Erstens, ich habe nicht so genau verstanden, warum es so schlimm ist, Herr Lindner, wenn man Sondierungsgespräche führt, diese nicht auch beenden darf, wenn man den Eindruck hat, das führt zu nichts. Insofern haben Sie nichts falsch gemacht. Zweitens verstehe ich noch viel weniger, wie man auf die Idee kommen kann, mit Neuwahlen zu drohen, oder diese gar zu fordern. Was soll dabei rauskommen? Es kann doch nur genau so werden wie zuvor, oder noch schlechter. Drittens verstehe ich nicht, wieso in diesem Land eine so große Sehnsucht nach einer Großen Koalition herrscht, von der wir doch in den vergangenen Jahren sicherlich die eine oder andere Krise gelöst bekommen haben, aber doch gerade gesehen haben, dass sie eben nicht zu mehr wirtschaftlicher Freiheit und zu mehr Aufbruch und zu mehr Mut in die Zukunft und zu mehr Gestaltungswillen geführt hat. Groß war doch vor allem der Kleinmut.

Deswegen bin ich entschieden der Meinung, dass eine Minderheitsregierung eine gute Lösung wäre, zum Beispiel eine schwarz-grüne Regierung, mit verantwortlicher Duldung gegebenenfalls der FDP, oder bei anderen Themen der SPD. Herr Lindner, Ihren Zwischenruf verstehe ich so, dass Sie sich sogar eine Beteiligung der FDP an einer Minderheitsregierung vorstellen können – ich mir auch. Das macht die Politik nicht unbedingt berechenbarer, aber kreativer. Mal sehen, was die nächsten Wochen noch bringen…

Abschließend: Ich kenne Ludwig Erhard nicht so gut wie andere hier im Saal. Ich glaube ja, wenn ich es richtig verstanden habe, dass er manchmal gerne spontaner gewesen wäre, als es die Umstände zuließen. Eigentlich müsste er an einer Phase, wie wir sie jetzt haben – damit meine ich nicht den innenpolitischen Stillstand, aber den Veränderungsdruck durch die Digitalisierung, die neue Welt, die neue Wirtschaft, die neuen Gesellschaftsformen, die gestaltet werden müssen –, so richtig Spaß gehabt haben. Die Ordnungspolitik muss nicht neu erfunden werden, aber sie muss sich an diesen neuen Gegebenheiten erproben und sich gegebenenfalls auch weiterentwickeln. Mich damit zu beschäftigen, freudig und gut gelaunt, dafür soll mir dieser Preis eine Verpflichtung sein. Ich verneige mich in Demut und bedanke mich.

Neben Dr. Marc Beise wurde Prof. Dr. Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik 2017 ausgezeichnet. Lesen Sie die Preisrede von Prof. Dr. Renate Köcher. Hier geht es zur Dokumentation der Preisverleihung 2017 mit Fotogalerie und allen Redebeiträgen.

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