Früher, vor ungefähr fünfzig Jahren, da gingen die Leute aus Protest gegen den Vietnamkrieg auf die Straße; für Frieden in einem fernen Land, das die meisten gar nicht richtig kannten und dessen Sprache sie kein bisschen verstanden. Oder sie demonstrierten, mit dem „Marsch nach Bern“, für das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Sie kämpften für eine bessere Welt, für Demokratie, Gleichheit und Freiheit, gegen Grausamkeit, Unrecht, Zerstörung und systematische Unterdrückung durch einen übergriffigen Staat.

Das war einmal. Heute, im Zeitalter des nervösen Individualismus und der erdrückenden staatlichen Überfürsorge, die schon im Vor-Kindergarten beginnt und sich im Sozialwesen fortsetzt, hat der Altruismus, der selbstlose Blick für die anderen, einen schweren Stand. Statt die große weite Welt zu retten, denkt man viel lieber an sein eigenes gutes Recht und seine eigenen Probleme. Natürlich verurteilt man fürs Protokoll den Klimawandel und verabscheut die Tatsache, dass in der Volksrepublik China die Menschenrechte missachtet werden. Das gehört schließlich zum guten Ton. Aber aufs neuste Tablet „made in China“, auf die Discount-Ferien in Thailand und das Wegwerf-T-Shirt für eine tolle Party-Nacht will man trotzdem nicht verzichten. Wozu auch? Schließlich sündigen die anderen auch. Sollen die doch zuerst die Welt retten! Selbst sattgrüne Weltenretter haben keine Probleme damit, ihre Empörung über die Menschenrechtslage in China mit allerlei Geräten ins Netz zu schicken, die fleißige Hände am Perlflussdelta für einen kargen Lohn zusammengebaut haben.

Soziale Gerechtigkeit als pseudoreligiöses Dogma

Als eine Art Bußübung delegiert man die Besänftigung des schlechten Gewissens an den regulierenden Staat, zum Beispiel mit Volksinitiativen. Er soll es mit neuen Regeln richten, etwa mit der „grünen Wirtschaft“. Oder mit Appellen: Er, der Bundesrat und die Chefdiplomatie, soll den Chinesen wegen der Menschenrechte die Leviten lesen. Diese Arbeitsteilung ist sehr praktisch, denn sie tut nicht weh, gibt ein gutes Gefühl und kostet den Einzelnen – zumindest unmittelbar – nichts. Und so bleibt der Raum frei, um weiterzumachen wie immer. Im Zentrum der Erörterungen steht – ganz dem Zeitgeist folgend – das eigene Bedürfnis. Und so kämpft der Ichling unserer Zeit nicht mehr für den Weltfrieden, sondern für das Recht auf vegane Militäruniformen oder „geschlechtslose“ Toiletten, für Vaterschafts- und Elternurlaub, bezahlbare Krippenplätze, Adoptionsrecht für alle, Kündigungsschutz für über 50-Jährige oder Gebetsräume an Schulen und Universitäten.

Man fordert Frauenquoten in Geschäftsleitungen und den obligatorischen Gemüsetag in den Kantinen, verstümmelt die deutsche Sprache, damit auch Frauen und andere Gender sichtbar werden, oder verlangt die sofortige Beseitigung der Lohndiskriminierung der Frauen, die es – zumindest in der Schweiz – als systematisches Phänomen kaum und als rechtliches überhaupt nicht gibt. Kurzum: Die eigenen Weltanschauungen, Lebensweisen und Frustrationen sind die neue Leitwährung in der Politik. Oder anders gesagt: Jede neue Kollektivneurose der gesättigten Konsumgesellschaft will politisch bewirtschaftet sein.

Dieses Politikverständnis ist das Resultat einer andauernden narzisstischen Selbstbespiegelung. Der Staat wird nicht mehr im Sinne der Aufklärung als subsidiärer Rahmen für ein eigenverantwortliches Zusammenleben in größtmöglicher Freiheit für alle gesehen, sondern als Kundendienstzentrale, die sich um sämtliche Bedürfnisse kümmern soll. Der Staat wird zum Konsumartikel. Niemand darf nicht glücklich sein oder sich in seinen Befindlichkeiten zurückgesetzt fühlen. Alle müssen gleichgestellt und gleich gefördert werden. Vollkommene soziale Gerechtigkeit für jedes einzelne Individuum wird zum pseudoreligiösen Dogma. Dass der Kanton St. Gallen die Schulnoten 1 und 2 abschaffen will, ist ein hübsches Beispiel für diesen neumodischen Nettigkeitseifer.

Zunehmende gefühlte Diskriminierung

Doch vollendete Gerechtigkeit gibt es nur im Paradies. Die menschliche Gesellschaft bleibt in ihrem Grundwesen immer ungerecht. Kombiniert mit einer überzogenen Anspruchshaltung an den Staat führt die vermeintliche Gerechtigkeit direkt in die Tretmühle der Diskriminierungen. Wer seine spezifischen Bedürfnisse vernachlässigt sieht, darf sich umgehend benachteiligt fühlen.

Obwohl der Rechtsstaat noch nie so untadelig war, die persönlichen Freiheiten noch nie so weit reichten und die Entfaltungsmöglichkeiten noch nie so vielfältig waren wie heute, nimmt die gefühlte Diskriminierung laufend zu. Das Gefühl, diskriminiert zu sein, ist zu einem Lifestyle-Accessoire geworden. Irgendwann im Leben kommt jeder einmal zum Zug: Die Buben sind in der Schule benachteiligt, die Mädchen bei der Berufswahl, die Mütter grundsätzlich, Alleinerziehende erst recht, die Väter bei der Scheidung, die 50-Jährigen auf dem Stellenmarkt, die Migranten bei der Wohnungssuche und so weiter.

Die Doktrin der politischen Korrektheit erlaubt keine Kompromisse. Sie auferlegt dem Staat, nicht nur jede Lebensweise und jedes Bedürfnis zu respektieren, sondern sie auch gebührend zu unterstützen. Ein gutes Geschäft, ja eine regelrechte Industrie tut sich da auf. Mit den Ansprüchen und den Anspruchsgruppen wachsen auch der Staat und die ihm zugewandten Orte. Kritisches Hinterfragen ist verboten. Beispielhaft zeigt sich das anhand der Familienpolitik. Noch nie war die Familiengründung so frei von Zwängen wie heute. Das ist schön und urliberal. Aber freie Entscheide sind nicht nur schön, sondern auch anspruchsvoll. Sie implizieren die Bereitschaft, die Konsequenzen des eigenen Tuns selber zu tragen. Freiheit heißt immer auch Verantwortung. Doch das hat nicht nur die „Generation Selfie“ verlernt. Man hält sich gerne alle Optionen offen, der korrekte, fürsorgerische Staat kann nicht anders und wird schon herbeieilen, um die Risiken abzufedern, wenn’s zum Beispiel mit der innerfamiliären Solidarität knapp wird. Und so werden die Leistungen der staatlichen Kundendienstzentrale laufend ausgebaut, und das Personal wird aufgestockt.

Politische Korrektheit als größte Feindin der Demokratie?

Wer solche Entwicklungen hinterfragt, macht sich unbeliebt, ist ein Außenseiter, arrogant, ein Vertreter der „Elite“, ja – horribile dictu – gar ein „Hetzer“ oder „Rechtspopulist“, auf jeden Fall hartherzig und kalt. Auf der Seite des Falschen steht er sowieso. Wie kann man nur gegen die Schwächsten sein oder gegen den Umweltschutz oder gegen bezahlbare Krippenplätze! Natürlich ist niemand gegen bezahlbare Krippenplätze, nur sind Regulierung und Subventionen nur vordergründig eine Lösung. Im Grundsatz machen sie alles nur noch teurer. Die eigentlich relevante Frage, die hier zu stellen wäre, ist eine andere: Warum sind Krippenplätze in der Schweiz so teuer, obwohl das Krippenpersonal eher bescheiden verdient? Es muss also eine Rentenbildung stattfinden. Und wäre nicht überhaupt mehr Wettbewerb und weniger Regulierung eine bessere Antwort als neue Subventionen?

Die politische Korrektheit ist nur vordergründig eine Wohltat. Sie ist gefährlich, weil sie die in einer Sinnkrise steckende liberale Gesellschaft schwächt und mit der Moralkeule von einer Schuldigkeit in die nächste treibt. Nicht rationale, sondern moralische Imperative geben den Takt an. Solche Imperative und die wachsende Zahl einklagbarer Rechte gegenüber dem Staat führen die liberale Demokratie in lauter «alternativlose» Situationen, sei es in der Familien- oder der Migrationspolitik, in Religionsfragen oder auch nur in den Banalitäten des Alltags. In der politisch korrekten Welt wird auch ein schlechter Schüleraufsatz eine gute Note bekommen, wenn die Eltern nur mit dem richtigen Anwalt kommen, denn hier ist potenziell das Kindeswohl gefährdet. Solche Entwicklungen müssten jeden aufgeklärten Demokraten erschauern. Sind nicht Wahlmöglichkeiten das Lebenselixier der Demokratie? Und ist somit nicht genau die politische Korrektheit mit ihren Denkverboten die größte Feindin der Demokratie?

In einer aufgeklärten Gesellschaft darf nichts über Kritik erhaben sein. Auch das eigene Selbst nicht. Wenn aber die narzisstische Selbstbespiegelung zum Maßstab wird, ist – in Kombination mit der politischen Korrektheit – der Weg frei für eine neurotische, im Grunde zutiefst unsolidarische Gesellschaft. Das kann eigentlich nicht gutgehen. Wo zwanghafte Selbstbespiegelung hinführen kann, lehrten uns schon die alten Griechen. Weil Narziss kein Sensorium für andere hatte, sondern nur Augen für das eigene Antlitz, musste er schmachtend sterben. „Ach, du hoffnungslos geliebter Knabe, lebe wohl!“ waren seine letzten Worte.

Claudia Wirz ist freie Mitarbeiterin und Kolumnistin für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Der vorliegende Beitrag ist erstmals erschienen in der NZZ vom 25. August 2016.

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