Vor wenigen Tagen hat sich das Europäische Parlament auf einen Entwurf für den sogenannten „Digital Services Act“ verständigt, der nun zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten verhandelt wird. Parallel finden die Verhandlungen zum „Digital Markets Act“ statt. Nachdem Europa und der Rest der Welt digitale Aktivitäten als „normale traditionelle Wirtschaftsaktivität“ mit sensiblen und schützenswerten Daten angesehen haben, muss nun eine Grundlage für eine weitgehend neue Form unseres Wirtschaftslebens geschaffen werden.

Für uns in Europa ist diese Aufgabenstellung mit der Hypothek verbunden, dass leider im wirtschaftlichen Wettbewerb die mutigen Erfinder und Entwickler in den USA und auch in Asien sitzen, wir also nun Wettbewerbsrecht für jeweils ausländische Marktbeherrscher schaffen müssen. Das bedeutet auch eine Abhängigkeit von den Regulierern der Heimatmärkte der großen Player, vor allem in den USA. Auch dort sehen wir in Kongress und Regierung, dass nach den Jahren des Zuschauens jetzt die Zeit der Regulierung gekommen ist. Wer dynamisches Wirtschaftswachstum will, sollte neuen Entwicklungen erst einmal mit möglichst wenig Regulierung im Wege stehen, die Entwicklung beobachten und dann eine angemessene Marktordnung schaffen. Insofern ist jedenfalls in den USA diese regulatorische Geduld auch belohnt worden.

Ludwig Erhard sagte in seinem Buch Wohlstand für Alle: „Nun mag von meinen Gegnern die Frage aufgeworfen werden, ob die von mir so betonte Freiheit des Unternehmers nicht gerade dadurch zu sehr eingeschränkt wird, dass man dem Unternehmer nicht mehr gestatten möchte, seine Freiheit so zu gebrauchen, wie er es für richtig hält. Diese Frage zu stellen und zu beantworten, heißt den eklatanten Unterschied zwischen der Sozialen Marktwirtschaft, wie wir sie in Westdeutschland seit 1948 zu verwirklichen suchen, und der liberalistischen Wirtschaft alter Prägung aufzuzeigen. […] Der Gesetzgeber muss also dem Problem der wirtschaftlichen Macht als einem möglichen Störfaktor des marktwirtschaftlichen Gleichgewichts seine besondere Aufmerksamkeit schenken.“

Dazu ist jetzt die richtige Zeit. Die Märkte sind entwickelt und auch gefährdet. Dabei unterscheiden sich die relevanten Rahmenbedingungen zugleich fundamental. Erhard kämpfte gegen die Kartelle der Nachkriegszeit, Monopolbildung und Preisabsprachen. Google, Amazon, Facebook und andere sind aus eigener Kraft am Markt erfolgreich. Dies gerade deshalb, weil ein wichtiger Teil ihres „Produktes“ darin besteht, einen „Markt“ anzubieten. Da es für den Verbraucher zumindest kurzfristig am attraktivsten ist, den größten Markt zu besuchen, gewinnt der Größte alles. Da es um den Austausch von Daten geht, sind die Märkte inzwischen sekundenschnell, weltumspannend und sehr lernfähig.

Die neuen Grundgesetze der Marktordnung, die gerade geschaffen werden, stehen zugleich vor großen Herausforderungen. Die alten Kriterien der Marktmacht und der relevanten Märkte greifen oft nicht mehr. Schon der Aufkauf eines kleinen Startups kann für den Marktbeherrscher die langfristige Festigung seiner Macht bedeuten. Wettbewerbsbehörden müssen technische Entwicklungspotentiale abschätzen und sehr früh handeln, wenn sie nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Ohne die Entwicklung globaler Großunternehmen gäbe es die Digitalisierung nicht, doch dafür darf es auf Dauer keine Dankbarkeit geben, sondern die ordnende Hand des Staates muss sichtbar sein. In den USA hat man der Vergangenheit auch das Instrument der Zerschlagung von marktbeherrschenden Strukturen genutzt, und das Thema wird jetzt wieder ernsthaft erörtert. Wir in Europa müssen wenigstens dafür sorgen, dass die Kunden der Macht dieser großen Spieler nicht hilflos ausgeliefert sind. Milliardenunternehmen, die den Bürgern einen Markt bieten, dürfen eigene Produkte nicht bevorzugen (ob es um Werbung oder Vorinstallation von Programmen angeht), sie dürfen nicht Informationen monopolisieren, aus denen neue Geschäfte entwickelt werden können und vieles mehr. Sie werden einer strengen vorbeugenden Fusionskontrolle unterliegen.

Der gerade zu besprechende „Digital Services Act“ wird uns aber auch in ganze neue Problemzonen führen. Es geht eben auch um Information, Meinung, Netzwerkbildung. Diese Interaktionsformen waren im letzten Jahrhundert noch träge. Eine „Zeitungsente“ oder ein radikales Flugblatt waren in der Wirkung begrenzt, und der Verfasser konnte verantwortlich gemacht werden. Heute kann ein Tweet Menschen zerstören, Finanzmärkte in die Krise schicken oder eine landesweite Revolte starten. Für was genau trägt das Unternehmen, das mit seiner mächtigen Stellung die Verbreitung ermöglicht, die Verantwortung? Ich bin überzeugt, auch Ludwig Erhard würde mit dem Dilemma kämpfen. Privatunternehmen dürfen nicht zu Meinungszensoren werden. Sie haben weder das Recht noch die Fähigkeit, wahr und unwahr richtig zu beurteilen. Hier verbleibt ein Teil unveräußerlicher staatlicher Verantwortung, so schwer das in Massenmärkten ist. Hier ist das Grundgesetz der digitalen Wirtschaft noch nicht zu Ende geschrieben. Hier geht es auch um Freiheit weit jenseits von Angebot und Nachfrage.


Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

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