Am 17. März 2016 startete an der Goethe-Universität Frankfurt am Main die Veranstaltungsreihe „Denkraum für Soziale Marktwirtschaft“. Die Initiatoren sind das Frankfurter Allgemeine Forum und IFOK. Die „Denkräume“ greifen in ganztägigen Dialogveranstaltungen die Kernthemen der Sozialen Marktwirtschaft auf und diskutieren sie mit Vertretern aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Das Thema der ersten Veranstaltung lautete: „Demografie & Wandel“. Nachfolgend veröffentlichen wir einen Auszug aus der Begrüßungsrede von Holger Steltzner, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Der Sozialen Marktwirtschaft hat Deutschland seinen Erfolg, seinen Wohlstand und seinen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verdanken. Dennoch steht sie unter Rechtfertigungsdruck. Die auf Leistung und Wettbewerb aufgebaute Ordnung nehme zu wenig Rücksicht auf wirtschaftlich schwächere europäische Partner, liefere zu wenig soziale Gerechtigkeit, zu wenig Wohlstand, zu wenig Gleichheit und schone zu wenig die Ressourcen, heißt es. Über allem schwebt der Zweifel, ob diese Wirtschaftsordnung noch in Zeiten der Globalisierung, der modernen Völkerwanderung und der weiter schwelenden Euro-Krise taugt.

Ludwig Erhard ging es um mehr als nur die Wirtschaft

Ludwig Erhard, dem Vater des deutschen Wirtschaftswunders, ging es von Anfang an um mehr als nur die Wirtschaft. Sein Ziel war eine freiheitliche und sozial verpflichtende Gesellschaftsordnung, die das Individuum zur Geltung kommen lässt, die aber auch dessen Mitverantwortung für das Gemeinwesen will. Erhard wollte möglichst viel Eigenverantwortung und Freiheit für den Einzelnen und möglichst wenig Staat. Leider ist das eingetreten, was er befürchtet hat. Der Drang nach Sicherheit hat das Freiheitsgefühl untergraben. Die Macht von Lobbygruppen, der Wunsch nach Absicherung aller Lebensrisiken und die Eigendynamik der sozialen Sicherungssysteme haben das Gefühl für Freiheit ausgehöhlt.

Leider lässt die Gewöhnung an die Freiheit bei immer mehr Menschen das Gefühl für deren Wert verkümmern. Seit Jahrzehnten untersucht das Institut für Demoskopie Allensbach die Einstellung der Deutschen zu den beiden Grundwerten Freiheit und Gleichheit. Noch in den 1970er und 1980er Jahren entschied sich die Mehrheit der Befragten regelmäßig für die Freiheit, nicht mal ein Drittel zog im Zweifel die Gleichheit vor. Nach der deutschen Einheit gewann der Wert Gleichheit an Bedeutung. Heute würden die meisten am liebsten in einem Land leben, in dem es weder Reiche noch Arme gibt, sondern Einkommen und Vermögen gleich verteilt sind. Viele Befragte halten sogar den Sozialismus für eine gute Idee, die lediglich schlecht verwirklicht worden sei. Auch in Westdeutschland hat das Gefühl für den Wert der Freiheit abgenommen, seit es das Kontrastprogramm für Unfreiheit nicht mehr gibt, den real existierenden Sozialismus.

Durch Wiedervereinigung, Einwanderung und Globalisierung haben sich die sozialen Unterschiede vergrößert, ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer geworden. Hiesige Facharbeiter stehen im globalen Wettbewerb mit Arbeitern in China oder Indien. Daran ändert auch der Mindestlohn nichts. In den Wirtschaftswunderjahren wuchsen Löhne und Unternehmensgewinne gleichzeitig, waren sozialer Ausgleich und wirtschaftliche Effizienz keine Gegensätze. Das wird heute anders empfunden. Dass Arbeitsplätze selbst in Betrieben, die Gewinne machen, nicht mehr sicher sind, verunsichert die Leute. Sie beobachten die Erfolge deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten mit gemischten Gefühlen; im Land des Exportweltmeisters ist die Furcht vor den Folgen der Globalisierung ausgeprägt. Das Schlagwort der sozialen Gerechtigkeit beherrscht die öffentliche Debatte. Doch darf diese Frage nicht nur mit guten Absichten gestellt, sondern muss mit Bezug zur Leistungskraft auch beantwortet werden. Die Politik darf sich nicht darauf beschränken, wirtschaftliche Freiheit und sozialen Ausgleich gegeneinander auszuspielen. Für Erhard waren Wirtschaftsleistung und Sozialleistung zwei Seiten einer Medaille: „Ebenso wenig wie ein Volk mehr verzehren kann, als es als Volk an Werten geschaffen hat, so wenig kann auch der Einzelne mehr an echter Sicherheit erringen, als wir uns im Ganzen durch Leistung Sicherheit erworben haben.“

Wohlstand wird von Menschen durch Leistung erarbeitet

Wohlstand wird nicht vom Staat, wie viele Politiker glauben, sondern von Millionen Menschen durch Leistung erarbeitet. Aber das tun Menschen nur, wenn die Staaten ihnen die Früchte ihrer Arbeit nicht vergällen. Ständige Erneuerung, nicht Strukturerhaltung erhält Wohlstand. Die Institutionen müssen den Menschen die Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Talente erlauben und dafür sorgen, dass sie den Lohn ihrer Anstrengungen behalten dürfen. Bildung, Weiterbildung, Sparen, Investieren und Erfinden müssen sich lohnen. Privateigentum muss gesichert und Verträge müssen durchgesetzt werden. Hierfür muss das wichtige Eucken’sche Prinzip gelten, wonach die Haftung bei Misserfolg der Preis dafür ist, dass man die Früchte des Erfolgs ernten darf. Anreize zum Sparen hat nur der, bei dem vom Lohn überhaupt etwas zum Sparen übrigbleibt und der Vertrauen haben kann, dass das Ersparte seinen Wert behält und später nicht wegbesteuert wird. Das alles stellt die Euro-Krise infrage. Deshalb darf der Weg der Währungsunion nicht in eine Schulden- und Transfergemeinschaft führen. Sonst wird mit solidarischer Hilfe belohnt, wer Schulden macht – und bestraft und zur Haftungsübernahme gezwungen, wer solide wirtschaftet.

„Ebenso wenig wie ein Volk mehr verzehren kann, als es als Volk an Werten geschaffen hat, so wenig kann auch der Einzelne mehr an echter Sicherheit erringen, als wir uns im Ganzen durch Leistung Sicherheit erworben haben“ (Ludwig Erhard 1957).

Bald sind in der Währungsunion die Staatsschulden so hoch wie die Wirtschaftsleistung. In Kürze wird die Staatsschuld 9,5 Billionen Euro betragen – und sich damit seit Beginn der Währungsunion verdoppelt haben. Dazu wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel in China eine bemerkenswerte Frage gestellt. Die EU stellt noch 7 Prozent der Weltbevölkerung und erwirtschaftet noch 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt, hat aber 50 Prozent der Sozialausgaben der Welt. Also wurde Frau Merkel in Peking gefragt, ob die Ordnung der Demokratie eine Ordnung sei, in der man Wahlen nur dann gewinnen könne, wenn man mehr verspricht, als man finanzieren kann. Diese Frage muss die Bundeskanzlerin auch zuhause beantworten.

Im Übermut des wirtschaftlichen Erfolges ist Deutschland dabei, mit Eingriffen aller Art Stück für Stück die Zukunft zu gefährden. Dabei gäben allein schon die Zwänge der Demografie allen Anlass, die Dynamik der Wirtschaft zu stärken und nicht erneut zu schwächen. Ob Mindestlohn, Mütter- oder Frührente, Mietpreisbremse – die Eingriffe gleichen einem Wettbewerb in der Preisgabe marktwirtschaftlicher Prinzipien. Offenbar sind der Sozialen Marktwirtschaft die Gegner abhandengekommen – inhaltlich und in der öffentlichen Debatte. Man bekämpft die Soziale Marktwirtschaft nicht mehr, sondern erklärt völlig systemwidrige Eingriffe zum Ausfluss der sozialen Gerechtigkeit im Erhard’schen Sinne. Manch einer glaubt inzwischen sogar, Sahra Wagenknecht von der Linkspartei sei ein moderner Erhard natürlich als Frau. Solche Positionen einnehmen zu können und dafür nicht der Geistesverwirrung bezichtigt zu werden, ist ein Beleg für den Verfall ordnungspolitischen Denkens in Deutschland. Alle möglichen Gruppierungen berufen sich auf diese „soziale Gerechtigkeit“ und usurpieren damit die Marktwirtschaft.

Mehr Informationen über die Initiative „Denkraum für Soziale Marktwirtschaft“ finden Sie auf deren Website.

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