Bei der Bundestagswahl im September 1965 erhielten CDU und CSU mit 47,6 Prozent und die FDP mit 9,5 Prozent zusammen die Mehrheit der Stimmen, sodass die Koalition fortgeführt und Ludwig Erhard im Amt des Bundeskanzlers bestätigt werden konnte. Knapp 15 Monate später, am Abend des 30. November 1966, kündigte Erhard seinen Rücktritt an.

Als Wirtschaftsminister top, als Bundeskanzler ein Flop – derart verkürzt lässt sich das Ergebnis über Ludwig Erhards Kanzlerzeit vielfach nachlesen. Das Spektrum der Urteile reicht dabei von „glücklos“ bis „krachend gescheitert“.

Das ist insofern erstaunlich, als neben dem sichtbaren Erfolg als Bundeswirtschaftsminister vor allem der Respekt vor der ökonomischen Kompetenz des „Dicken mit der Zigarre“ seine Popularität unter Kollegen und in der breiten Öffentlichkeit begründete. Von Ludwig Erhard erhofften sich viele neue Impulse nach dem Ende der Amtszeit Konrad Adenauers: Mit Zuversicht und Optimismus könne mit Erhard die Stagnation verhindert werden, in die das politische Leben der Bundesrepublik zu fallen drohte. Am 16. Oktober 1963 wählte ihn der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit erstmals zum Bundeskanzler.

„So haben wir uns denn auch immer wieder zu fragen, was im Einzelfall die Notwendigkeit eines weiteren Ausbaues unserer freiheitlichen Lebensordnung und das Erfordernis wirklicher sozialer Gerechtigkeit gebieten. Das Vertrauen in unseren Rechtsstaat ist nur so lange gesichert, wie die politisch Verantwortlichen durch ihr eigenes Verhalten das gute Beispiel vorleben.“ (Ludwig Erhard, „Politik der Mitte und der Verständigung“, Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963)

Neues Amt, neue Baustellen

Mit der neuen Aufgabe fand Ludwig Erhard im Palais Schaumburg, damals noch Amtssitz des Bundeskanzlers, einige politische Hypotheken vor. Konrad Adenauer hatte in den letzten Jahren seiner Regentschaft das eine oder andere Problem vor sich her geschoben: In der Außenpolitik hinterließ er seinem – von ihm ungeliebten – Nachfolger ein im Streit mit Präsident John F. Kennedy abgekühltes Verhältnis zu den USA. Die Beziehungen zu England blieben unterkühlt (1962 scheiterte der Beitritt Großbritanniens zur EWG). Die EWG dümpelte vor sich hin, und der Prozess zur politischen Einigung Europas stagnierte. Spannungen zu Frankreich wurden durch den Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag kaschiert.

Auch auf innenpolitischem Feld war manches unerledigt: Eine grundlegende Sozialreform war steckengeblieben. Die lange diskutierte Neuverteilung der Steuern zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wurde nicht umgesetzt. In einer Zeit, in der sich das Ende des Wiederaufbau-Booms abzeichnete – besser: sich die wirtschaftliche Normalisierung einstellte –, wirtschafteten der Bund, elf Bundesländer und Tausende Gemeinden aneinander vorbei. Seit Längerem diskutierte Gemeinschaftsaufgaben – Wissenschaft, Bildung, Infrastruktur und Umwelt – blieben weitgehend unbeachtet. Stattdessen buhlten Interessengruppen um Gehör und Wahlgeschenke. Das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition, aber auch zwischen den Koalitionären CDU/CSU und FDP war angespannt.

In der Folgezeit gelang es Erhard, einige Blockaden zu beseitigen und manches zu initiieren: Anstöße für eine neue Deutschland- und Ostpolitik – Stichwort Passierscheinabkommen. Die Aufnahme von Handelsbeziehungen zu mittel- und osteuropäischen Nachbarn. Zwischen Deutschland und Israel kam es zu regulären diplomatischen Beziehungen (siehe auch den Beitrag „50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel“). Die „Friedensnote“ im März 1966 dokumentierte aller Welt, dass die Bundesrepublik vorbehaltlos für eine dauerhafte Friedenssicherung eintrat.

Nicht zuletzt mit dem neu gebauten Kanzlerbungalow wurde auch außerhalb politischer Tagesthemen ein Zeichen von Modernität und Offenheit weithin sichtbar präsentiert.

„Sie lernen mich besser kennen, wenn Sie dieses Haus ansehen, als wenn Sie eine politische Rede von mir hören. Man kennt einen Menschen erst dann, wenn man sieht, in welcher Umgebung er sich wohlfühlt, und was für ihn dazu gehört, um fruchtbar arbeiten zu können. Hier sollen Begegnungen stattfinden mit allen, die guten Willens, die aufgeschlossen sind. Und darauf freuen wir uns aufrichtig.“ (Ludwig Erhard 1964 bei der Schlüsselübergabe für den Kanzlerbungalow)

Der „Volkskanzler“

Ludwig Erhards kollegialer Führungsstil und seine Abneigung, politische Macht über besseres Wissen zu stellen, erwiesen sich für den Alltag im Kanzleramt jedoch als hinderlich. Erhards Zurückhaltung gegenüber vermeintlichen parteipolitischen Sachzwängen erschwerten sein Tun zusätzlich. Erhard, der sich mehr als Kanzler der Bundesrepublik und weniger als Kanzler der CDU/CSU sah, verzichtete durch sein Politikverständnis auf breiten und dauerhaften innerparteilichen Rückhalt.

Erhard hatte zu Beginn seiner Kanzlerschaft bewusst den CDU-Parteivorsitz nicht angestrebt, da er sich „über alle Parteiungen hinweg als Sachverwalter des ganzen Volkes“ fühlte, wie er in seiner Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963 darlegte. Adenauer behielt den CDU-Parteivorsitz und war damit in der Lage, die Autorität Erhards nach Belieben anzugreifen. Vor allem in Fragen der Außenpolitik hatten die beiden Politiker unterschiedliche Vorstellungen: Während Adenauer hauptsächlich mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle Europa stärken wollte, sah Erhard die europäische Zukunft insbesondere durch die Bindung an die USA dauerhaft gewährleistet.

Die „Wahlkampflokomotive“, die bei der Bundestagswahl im September 1965 für die Union mit 47,6 Prozent der Stimmen den zweithöchsten Wahlsieg in ihrer Geschichte errungen hatte – die Wahlbeteiligung lag bei beeindruckenden 86,8 Prozent –, wurde von jüngeren, ambitionierten Mitstreitern Richtung Abstellgleis geschoben. Diejenigen, die gegen den autoritären Stil Adenauers aufgemuckt und für den offeneren Erhard votiert hatten, beklagten schon bald wieder das vermeintlich „schwache Regiment“ – und verlangten nach einem „starken Mann“.

„Der Wahlkampf hat manche Wunde hinterlassen. Sie zu heilen sollte unser aller Bestreben sein. Niemand in diesem Hohen Hause wird mir widersprechen, wenn ich sage, dass die Wahl nicht nur ein Auftrag an die Regierung bedeutet, sondern an alle Parteien des Deutschen Bundestages. Ich zögere nicht, Sie alle aufzufordern, gemeinsam ans Werk zu gehen, wobei ich unter Gemeinsamkeit nicht Gleichheit, geschweige denn mangelnde Opposition verstehe. Als Staatsbürger sind wir alle Gewinner dieser Bundestagswahl, weil sich in ihr die deutsche Demokratie als stabile Ordnung erwiesen hat.“ (Ludwig Erhard, „Sparsamkeit und Nüchternheit“, Regierungserklärung vom 10. November 1965)

Wahlgeschenke und Illoyalitäten

An sich wäre nach der grandiosen Wahl 1965 zu diskutieren gewesen, ob nicht die innerparteilichen Geplänkel die CDU/CSU sogar die absolute Mehrheit gekostet hatten. Doch nach der Wahl dominierten weiterhin parteitaktische Überlegungen: Die Große Koalition – im Wahlkampf sogar von Adenauer thematisiert und favorisiert – spukte in vielen Köpfen. Nach der CDU-Wahlniederlage in der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Juli 1966 und einer sich abzeichnenden Konjunkturdelle wurden die kritischen Stimmen lauter.

Diejenigen – in allen Parteien –, die „pünktlich“ zur Bundestagswahl 1965 das Wohlwollen der Bürger durch Wahlgeschenke – Beobachter des politischen Geschehens zählten bis zu 56 Vorhaben – gewinnen wollten, blieben nach der Wahl in den anstehenden Haushaltsberatungen die Antwort auf die Frage schuldig: „Wer soll das bezahlen?“ Ludwig Erhard trat in den Beratungen zum Haushalt 1967 nachdrücklich dafür ein, die beschlossenen Maßnahmen – unter anderem 1,1 Milliarden D-Mark Unterstützung für die Landwirtschaft, Erhöhung des Kindergeldes, bessere Beamtenbesoldung, staatlich geförderte Vermögensbildung (312-Mark-Gesetz) – nicht durch Defizite, sondern durch höhere Steuern zu finanzieren. Die Bürger sollten erkennen, dass sie selbst es sind, die solche Maßnahmen bezahlen müssen. Daraufhin zerbrach die Koalition aus CDU/CSU und FDP; die FDP-Minister schieden aus der Regierung aus.

Parteiinterne Kräfte witterten Morgenluft: Es wurde erwogen, gemeinsam mit der SPD im Parlament einen Misstrauensantrag gegen Erhard zu stellen. Dem kam er zuvor: Am 30. November trat er von seinem Amt zurück. Das Kleben am Amt um den Preis persönlicher Integrität war für ihn undenkbar. Mit Erhards Nachfolger im Kanzleramt, Kurt Georg Kiesinger, nahm dann eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD die Regierungsgeschäfte auf.

„Nicht die Zahl und die Größe von Schlagzeilen sind Gradmesser für eine richtige Politik, sondern die innere Sicherheit, sich von der Gradlinigkeit seines politischen Handelns nicht von billigen Schlagzeilen beirren und vom rechten Weg abdrängen zu lassen.“ (Ludwig Erhard 1966)

Das Ende der Sozialen Marktwirtschaft

Seit Beginn der 1960er Jahre vollzog sich in der öffentlichen Meinung – und nach Erhards Rücktritt auch in der Politik – ein Wandel. Über viele Jahre hatte das „Wirtschaftswunder“ die wirtschaftspolitische Agenda bestimmt. Als das „Wunder“ 1966 „nur“ noch eine Wachstumsrate von 2,6 Prozent hervorbrachte, wurde von Krise gemunkelt. Viele Politiker im Bundestag hielten es für geboten, schnellstens permanent steigendes Wachstum – und damit aus ihrer Sicht Wohlstand für allezeit – gesetzlich zu fixieren.

Vehemente Unterstützung erhielten sie dabei auch aus der Wissenschaft: An den Hochschulen hatte sich der Keynesianismus etabliert. Doch das 1967 in Kraft getretene „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ befand sich im Widerspruch zu den Vorstellungen, die Erhards Politik gekennzeichnet hatten (siehe auch den Beitrag „Wirtschaftswachstum kontrovers – Ludwig Erhard versus Karl Schiller“). Wenn der Staat verpflichtet wird einzugreifen, sobald bestimmte Entwicklungen eintreten – wenn also beispielsweise die Nachfrage nicht steigt –, wird aus einer Marktwirtschaft Erhardʼscher Prägung eine Staatswirtschaft. Der Staat plant, er bestimmt die Steigerungsraten: Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz war ein klarer Bruch mit der Sozialen Marktwirtschaft und nährte zudem die Illusion, Politik hätte die ökonomischen Größen im Griff. Das Ende der Kanzlerschaft Erhards war also nicht nur eine Zäsur in der Regierungskonstellation, sondern auch in der Wirtschaftspolitik der nächsten Jahrzehnte.

Ludwig Erhard gehörte bis zu seinem Tod im Mai 1977 dem Deutschen Bundestag an. Seine Soziale Marktwirtschaft wurde schon wesentlich früher zu Grabe getragen.

„Es ist also nicht wahr, dass eine Marktordnung wie die Soziale Marktwirtschaft wesentlich auf die Maximierung des Sozialprodukts oder sonst eines Einzelzieles gerichtet ist. Sie ist auf überhaupt kein Ziel gerichtet als nur das eine: ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen, damit jeder seine eigenen Ziele überhaupt erst mit grundsätzlicher Aussicht auf Erfolg verfolgen kann.“ (Ludwig Erhard 1972)

Literatur zum Thema:

  • Nach-Denken. Ludwig Erhard und seine Politik, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Argon, Berlin 1997
  • Hans Klein (Hrsg.), Die Bundeskanzler, 3. Auflage, edition q, Berlin 1995
  • Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Band 4), DVA/F.A. Brockhaus, Stuttgart/Wiesbaden 1984
  • Michael K. Caro, Der Volkskanzler – Ludwig Erhard, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1965
  • Jess M. Lukomski, Ludwig Erhard. Der Mensch und der Politiker, Econ, Düsseldorf/Wien 1965
  • Wüstenrot Stiftung Ludwigsburg/Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Kanzlerbungalow, 2009
  • Beiträge zum Kanzlerbungalow von Dr. Judith Koppetsch im Bonner Rechtsjournal, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
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