
Der Neoliberale
Der bulgarische Ökonom Stefan Kolev will den Liberalismus in Deutschland wieder in Mode bringen. Seine Lebensgeschichte hilft ihm dabei.
Es gibt in Deutschland einige Orte und Landstriche, deren Namen so eng mit der Geschichte des Liberalismus verbunden sind, dass sie in festen Begriffen verewigt wurden. Die Freiburger Schule. Der rheinische Liberalismus. Zwickau gehörte bisher eher nicht dazu. In der sächsischen Provinz gewinnt bei Wahlen seit Jahren die AfD, gefolgt von der Linken – nicht gerade liberales Herzland.
In Berlin aber wird man in Zukunft die Zwickauer Schule der Freiheit kennenlernen können. Denn die neue, wichtige Stimme des Liberalismus in der Hauptstadt kommt ausgerechnet von dort. Und obendrein spricht diese Stimme Deutsch mit leichtem bulgarischen Akzent, Überbleibsel einer Kindheit und Jugend in einer kommunistischen Diktatur und den chaotischen Jahren, die darauf folgten.
Vielleicht macht gerade das Stefan Kolev zum richtigen Mann, um den Deutschen den Liberalismus wieder nahe zu bringen. Der Ökonom ist der erste Leiter des neu geschaffenen Ludwig-Erhard-Forums für Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin. Bisher war er Professor an der Westsächsischen Hochschule in Zwickau, dort wird er auch in Zukunft eine Teilzeitstelle in der Lehre behalten.
Kolev ist schon aufgrund seiner eigenen Biographie kein Salonliberaler. Keiner derjenigen, die sich damit zufriedengeben, sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen in dem Glauben, dass man es besser weiß als die anderen. Und die dabei bisweilen vergessen, dass die freiheitliche Grundordnung gerade dann in Gefahr gerät, wenn man die Menschen nicht mehr mitnimmt. Man möchte Kolev einen Neoliberalen nennen, wenn die Bedeutung dieses Wortes nicht durch Kritiker von allen politischen Seiten längst ausgehöhlt worden wäre. Er ist niemand, der in ideologischen Grabenkämpfen feststeckt; kein Lautsprecher, aber jemand, dessen Stimme Gehör findet, inzwischen auch in der großen Politik.
Seit März ist Kolev in Berlin. Seine Mission: dem Liberalismus wieder Gehör verschaffen, genauer gesagt dem Ordoliberalismus in der Tradition des ersten deutschen Wirtschaftsministers und späteren Bundeskanzlers Ludwig Erhard. Jener ökonomischen Schule also, die mit ihren Prinzipien – freie Märkte und Wettbewerb, aber mit sozialer Absicherung – die nachkriegsdeutsche Wirtschaftsordnung geprägt hat.
Das Forum, dessen Leiter Kolev nun ist, ist eine Ausgründung der Ludwig-Erhard-Stiftung. Es soll eine Art Thinktank des Ordoliberalismus werden, mit wissenschaftlich fundierten Debattenbeiträgen und Veranstaltungen in der Berliner Politikblase, und damit eine intellektuelle Lücke füllen in der sonst an Denkfabriken nicht armen Hauptstadt.
Für die über 50 Jahre alte Erhard-Stiftung bietet das Forum auch eine Gelegenheit, wieder mit liberalen Inhalten von sich hören zu machen statt mit Skandalen kleinerer und größerer Natur. Der Stiftungsvorsitzende Roland Koch, ehemals hessischer Ministerpräsident, ist erst seit 2020 im Amt. Er löste den umstrittenen Publizisten Roland Tichy ab, der wegen sexistischer Auslassungen auf seinem Blog in die Kritik geraten war und vom Vorsitz der Stiftung zurücktrat. Tichys politische Kommentare waren auch vorher schon so weit ins rechtspopulistische Spektrum abgedriftet, dass im Jahr 2018 selbst der heutige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz den renommierten Ludwig-Erhard-Preis der Stiftung ablehnte.
Merz, der selbst nicht gerade als eine linke Schneeflocke bekannt ist, wolle nicht mit Tichy auf einer Bühne stehen, so berichteten es damals mehrere Medien. Für die Außenwirkung der Stiftung war das alles nicht förderlich.
Unter Roland Kochs Führung ist es ruhiger um die Erhard-Stiftung geworden, im positiven Sinne. In Zukunft aber soll ihre Stimme wieder deutlicher vernommen werden. Und Stefan Kolev kommt dabei eine zentrale Rolle zu.
Der 41-Jährige ist erst vor Kurzem nach Deutschland zurückgekehrt, nach einem Semester an der amerikanischen Eliteuniversität Princeton. Wir treffen ihn in einem hippen Co-Working-Space in Berlin-Mitte. Gegenüber hat sich ein Tech-Start-up eingemietet, alles wirkt unglaublich modern, so wie man sich die Berliner Start-up-Szene vorstellt. In dem kleinen Büro, das das Forum hier bezogen hat, führt an Ludwig Erhard kein Weg vorbei. Vor dem Fenster steht eine lebensgroße Bronzestatue des Vaters der Sozialen Marktwirtschaft, samt obligatorischer Zigarre. Kolev und ein Kollege haben auf recht engem Raum ihre Arbeit begonnen. Bald steht der Umzug in ein größeres Büro an. Dann sollen Doktoranden und wissenschaftliche Mitarbeiter das Team vergrößern. 800.000 Euro Anschubfinanzierung gibt es aus dem Bundeshaushalt. Auf Dauer soll das Forum aber – ganz im Sinne seines Namenspatrons – kein Staatsbetrieb werden, sondern sich privat finanzieren.
Gerade hat das Forum seine erste Abendveranstaltung abgehalten. Die Reihe trägt den Namen „Zivilisierte Provokation“. In unregelmäßigen Abständen will sich Kolev ganz gezielt Gesprächspartner einladen, die nicht aus dem ordoliberalen Dunstkreis kommen. Es solle kein „Safe Space für Liberale“ entstehen, sagte er in seiner Eröffnungsansprache. Als erster Gast hat sich der als eher links geltende Wirtschaftsweise Achim Truger auf Kolevs Bühne gewagt und den Ordoliberalen vorgehalten, dass sie immer nur mahnen und warnen, aber wenige konstruktive Vorschläge machen.
In einem F.A.Z.-Interview hat Stefan Kolev den Ordoliberalismus einmal als „angestaubt“ bezeichnet. Auch jetzt spricht er von „Erneuerungsbedarf“. Die Ordoliberalen hätten „in den letzten 20 Jahren den Kardinalfehler begangen, zu viel über Wirtschaft zu reden und zu wenig über Gesellschaft“. Als Folge des Kalten Krieges habe sich eine „scheinbar selbstverständliche Allianz zwischen Liberalen und Konservativen“ entwickelt. Man wähnte sich auf derselben Seite, der Feind stand links. „Aber dann kam 2015“, die Flüchtlingskrise, „und überhaupt die gesellschaftlichen Verwerfungen, die die westlichen Demokratien plagen.“ Auf einmal hätten liberale Organisationen „weltweit Risse bekommen“ – weil plötzlich die Fronten nicht mehr so klar waren. Gesellschaftspolitische Fragen gewannen an Relevanz, in denen Liberale und Konservative auf verschiedenen Seiten stehen.
Zum rechten Rand zieht Kolev, der sonst offen für den Dialog in alle Richtungen ist, eine klare Grenze. Als sich die Hayek-Gesellschaft mit einer Abgrenzung nach rechts schwer tat, zählte Kolev 2015 zu den rund 50 Mitgliedern, die ihren Austritt aus dem liberalen Verein ankündigten. Wo auch prominente AfD-Politiker Mitglied waren, wollte er nicht länger dazugehören.
Was für ein Typ ist Stefan Kolev? Als „intellektuell sehr interessant“ beschreibt ihn der Ökonom Markus Brunnermeier, der sich in Princeton häufig mit ihm unterhalten hat. Kolev sei diskussionsfreudig, kein Dogmatiker“, er bringe „neuen Schwung in die Ordnungspolitik“. Und, das bestätigen alle, die Kolev kennen: Er ist ein begnadeter Netzwerker, hat einen riesigen Freundeskreis. Es fällt ihm sehr leicht, auf Menschen zuzugehen. In seiner neuen Berliner Rolle kann ihm das nur helfen.
Kolevs neuer Chef Roland Koch sagt, er sei die erste Wahl für den Posten in Berlin gewesen. Denn er verbinde eine wissenschaftliche Agenda mit einem Mitteilungsbedürfnis, Beharrlichkeit mit Qualität. Kolev könne insbesondere junge Menschen ansprechen, sei dabei aber durchaus kantig.
Kolevs Blick auf den Liberalismus, sein Verständnis von Markt und Staat sind eng verknüpft mit seiner Biographie. In Bulgarien, wo er aufwuchs, brach nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Wirtschaft zusammen, es herrschte Hyperinflation. „Bulgaren“, sagt Kolev, „sind eigentlich intuitive Liberale.“ Niemand traue dort dem Staat sonderlich viel zu. Das Aufwachsen in den „Ruinen des Sozialismus“ habe ihn neugierig gemacht, zu verstehen, was im alten System schiefgelaufen war. Und vor allem, „was der Westen ist“.
Als er mit 18 Jahren Bulgarien verließ, wusste Kolev genau, wogegen er war – den Kommunismus -, aber noch nicht, wofür. In seiner Generation war er damit nicht allein: „Wir wollten alle weg“, berichtet er. „Und wir hatten alle kein Geld.“ In Sofia hatte er ein deutsches Gymnasium besucht. Da lag es nahe, nach Deutschland zu gehen.
Kolev landete Ende der Neunziger in Hamburg, wo er bei einer Gastfamilie unterkommen konnte, mit 2000 Mark in der Tasche. Eigentlich wollte er nach Freiburg, aber seine Eltern hätten ihm eine Unterkunft dort nicht bezahlen können. „Ich hatte die Wahl: nach Hamburg zu gehen oder in Sofia zu bleiben.“ Er begann, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre zu studieren. Die Zeit in Hamburg war auch politisch prägend für ihn. Er wurde Stipendiat der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, eher zufällig, wie er sagt, weil er zu einer Veranstaltung mit dem ehemaligen deutschen Außenminister Klaus Kinkel gegangen war: „Den wollte ich einfach mal kennenlernen.“ Die Naumann-Stiftung sei über 20 Jahre seine „Heimat“ geblieben, sagt Kolev, er wurde später auch Vertrauensdozent für Naumann-Stipendiaten. Bis heute kommen viele Menschen in seinem liberalen Netzwerk aus dem Stiftungsumfeld.
Nach dem Studium entschloss Kolev sich zu promovieren. Zunächst versuchte er sich in Makroökonomik beim späteren AfD-Gründer Bernd Lucke, wechselte dann aber schnell in die Fachrichtung, in der er bis heute aktiv ist: die Geschichte des ökonomischen Denkens. Er schrieb seine Dissertation über neoliberale Ideen des Staates in den Werken von vier großen liberalen Vordenkern: Walter Eucken, Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises und Wilhelm Röpke. Insbesondere der Österreicher Hayek ist ihm bis heute sehr nah geblieben. Derzeit schreibt er am zweiten Band einer großen neuen Hayek-Biographie mit.
Im Jahr 2012 verließ Kolev Hamburg, die Stadt, die er nach eigener Aussage immer als sehr liberal empfand: „Ich musste meine Identität dort nicht aufgeben und habe mich trotzdem als vollwertiger Bürger der Stadt gefühlt.“ Er folgte dem Ruf auf eine Professur für Politische Ökonomie nach Zwickau. Seine liberalen Überzeugungen versteckte er dort nicht, engagierte sich in Wahlkämpfen für die FDP. Seine Studenten seien meistens apolitisch gewesen, sagt er. Er habe aber „die Ostalgie“ hinterfragt, die sie „von Eltern und Lehrern aufgebürdet bekommen“. Liberalismus sei in ihrer Welt, genauso wie Märkte, oft „etwas Amerikanisches, etwas Fremdes“. Die Studenten hätten trotz ihrer guten Ausbildung zudem große Existenzängste, die sich von Generation zu Generation übertrügen. „Da habe ich gelernt, dass nur ein positives Narrativ verfängt.“ Die Studenten hätten ihn gelehrt, „den Liberalismus als eine Emanzipationsgeschichte zu erzählen, eine Geschichte vom Vertrauen in den Einzelnen“.
Viel schwieriger sei es außerhalb des Hörsaals gewesen, in der weiteren Stadtbevölkerung. Da habe es viele Menschen gegeben, die sich gesellschaftlich „abgemeldet“ hätten, wie Kolev es ausdrückt. Er nennt das eine „Superfragilität“, die ihm Angst gemacht habe. Er sei deshalb in Zwickau sehr viel abwägender geworden, sagt er. „Ich vertraue in die Märkte, ich vertraue in den Einzelnen.“ Aber die Dynamik dahinter dürfe nicht „die fragile Ordnung im Erleben des Einzelnen“ überlasten. Man müsse das Thema behutsam angehen, inhaltlich wie rhetorisch.
Behutsam und abwägend spricht er dann auch tatsächlich über die brennenden Fragen unserer Zeit. Das Thema Migration beschäftigt ihn aufgrund seiner eigenen Biographie sehr. Er befürwortet eine sehr offene Einwanderungspolitik, will, dass mehr auf den Einzelnen geschaut wird als auf vermeintliche Kulturkreise – so wie es dem individualistischen Menschenbild des Liberalismus entspricht. Gleichzeitig müsse aber auch eine Schnittstelle zur Mehrheitsgesellschaft entstehen, zum Beispiel über die Arbeit – ohne dass dabei die Identität der Einwanderer auf der Strecke bleibt.
In der Diskussion um den Klimaschutz wünscht sich Kolev „ein Mindestmaß an abwägender Gelassenheit“. Er ist für eine Steuerung der Emissionen über einen CO2-Preis, weil dieser sichtbar mache, wie teuer der Klimaschutz wird. Diese Transparenz sei in einer Demokratie wichtig. Verbote und Subventionen verschleierten die Kosten der Klimapolitik. Gleichzeitig sei es aber wichtig, dass der soziale Ausgleich dieser Kosten gut funktioniere und auch gut kommuniziert werde. Nur dann könne man auch seine Zwickauer Mitbürger von der Sinnhaftigkeit überzeugen. Mit Reformen statt Revolutionen lasse sich vermeiden, dass sich noch mehr Menschen aus der Gesellschaft abmelden.
Stefan Kolev steht nun vor der Herausforderung, sich sowohl in der Politik als auch in der breiteren deutschen Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Beide sind in der jüngeren Vergangenheit nicht gerade durch ihre Begeisterung für den Liberalismus aufgefallen. Es wird also ein schwieriges Unterfangen.
Das Ziel des Forums sei, so Roland Koch, dass man sich in Zukunft bei wirtschaftspolitischen Debatten wieder öfter frage: „Was sagen die eigentlich dazu?“ Zumindest daran, dass Stefan Kolev etwas zu sagen hat, kann es keinen Zweifel geben.
Quelle: Alexander Wulfers: Der Neoliberale, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9. April 2023
Foto: Andreas Pein
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HINWEIS der Ludwig-Erhard-Stiftung:
Es ist nicht zutreffend, dass der damalige Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, Roland Tichy, „vom Vorsitz der Stiftung zurücktrat“, wie es im voranstehend dokumentierten Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beschrieben wird. Tatsächlich hat sich Roland Tichy im November 2020, am Ende seiner zweiten Amtszeit als Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung bei der turnusmäßigen Jahreshauptversammlung nicht zur Wiederwahl gestellt.

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