Dr. Gerhard Schüsselbauer
Gesamteuropäisches Studienwerk e.V., Vlotho

Die Diskussion um die Ursachen und Hintergründe der europäischen Finanz- und Schuldenkrise, das „Erdbeben“ nach der Brexit-Entscheidung vom Juni 2016 sowie die permanenten Auseinandersetzungen im Rahmen der ungelösten Flüchtlings- und Asylproblematik beeinflussen die Perspektiven der zukünftigen Entwicklungstrends massiv. Die EU sieht sich auch nach der Erklärung von Bratislava vom September 2016 mit einem starken Legitimations- und vor allem Akzeptanzproblem konfrontiert. Eine Verschlankung der EU, bessere und effizientere Institutionen müssen im Verein mit einer gestärkten demokratischen Legitimationsbasis realisiert werden, ansonsten droht die EU noch mehr zu einem Elitenprojekt zu degenerieren. Die EU-Institutionen müssen mit den Bürgerinnen und Bürgern weiter gestaltet und entwickelt werden und nicht abseits der demokratischen Basis.

Die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung, die in den vergangenen gut 25 Jahren im Besonderen auch die ehemaligen postsozialistischen Transformationsökonomien betraf, wird zwangsläufig auch davon abhängen, welches Integrationsmodell für die Zukunft der EU bzw. Europas im Allgemeinen verfolgt werden soll. Insbesondere die konsequente Weiterverfolgung des Konvergenzpfades in diesen Ländern (institutionell, realwirtschaftlich, monetär sowie fiskalisch) wird maßgeblich von der verfolgten Strategie und dem damit verbundenen Szenario abhängen.

Entwürfe für die politische und ökonomische Zukunft der EU spiegeln immer auch den Erkenntnisstand des Theoriefortschritts wider und müssen den dynamischen Realitäten angepasst werden. Zukunftsszenarien gehören mittlerweile zum Standardrepertoire der Einschätzung der weiteren Entwicklung der Europäischen Union und finden in der Wissenschaft zusehends Beachtung (Vgl. Franco Algieri, Janis A. Emmanouilidis, Roman Maruhn, Europas Zukunft – 5 EU-Szenarien, CAP – Centrum für angewandte Politikforschung Working Paper, München 2003). Die Szenarientechnik unterscheidet sich von Prognosen dahingehend, dass sie weit mehr als einen kurzen Zeithorizont betrachtet und nicht auf den bloßen Erwartungswert einer Eintrittswahrscheinlichkeit abzielt. Von Utopien unterscheidet sie der Aspekt der Machbarkeit und Beeinflussbarkeit. Szenarien sind mithin Hilfestellungen zur Bewusstmachung von möglichen Entwicklungslinien, die in erster Linie vom politischen Willen der beteiligten Akteure abhängen, demnach vor allem von endogenen Prozessen innerhalb der EU. Die folgenden fünf Szenarien stellen lediglich einen kurzen Aufriss möglicher „Zukünfte“ der EU dar und sind keineswegs erschöpfend.

Szenario 1: „Binnenmarkt de luxe“

War in den vergangenen Jahrzehnten der ökonomische Hebel die Haupttriebfeder der EU-Integration, so soll mit der Anwendung des Reformvertrags die politische und institutionelle Einigung vorangebracht werden. Allerdings ist keineswegs gewährleistet, dass in einer Union von 28 Mitgliedsländern (beziehungsweise 28 minus ein Austrittskandidat) aufgrund der stark gestiegenen Verhandlungs- und Transaktionskosten in allen wichtigen Politikfeldern Einigung erzielt wird. Einige Mitgliedstaaten könnten versucht sein, heikle politische Fragen auszuklammern, um dafür Lösungen auf der Ebene der Einzelstaaten zu suchen und auf EU-Ebene lediglich das Binnenmarktmotiv der Integration in den Vordergrund zu rücken. Fortschritte in der politischen Union wären dann bei bis zu über 30 Mitgliedstaaten nur noch im Schneckentempo zu erzielen. Gerade die Ziele in der Flüchtlings- und Asylpolitik, in der Fiskalunion oder der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wären davon betroffen. Bei der Dominanz dieses Szenarios würde die politische Zuständigkeit der europäischen Einzelstaaten auf Kosten des solidarischen Grundgedankens vorrangig betont werden. Nach dem britischen Votum zum Brexit wird auch von nationalkonservativen polnischen, ungarischen, tschechischen oder auch rechtspopulistischen niederländischen, französischen, italienischen oder deutschen Politikern immer wieder die Bedeutung der nationalstaatlichen Ebene und Souveränität betont. Neben dem Vereinigten Königreich, das sich jüngst deutlich von der solidarischen Einstimmigkeit verabschiedete, könnten auch nationalkonservativ gestimmte Regierungen Ostmittel- und Südosteuropas, beispielsweise in Ungarn oder Polen, der Versuchung erliegen, lediglich ökonomische Vorteile der Integration und der Finanztransfers nutzen zu wollen, wobei allerdings der weitere Konvergenzpfad unbestimmt wäre.

Szenario 2: „Europa à la carte“

Kennzeichen eines Europa à la carte ist die variable Geometrie, die fallweise Interessenallianzen zulässt. Je nach Priorität entscheiden die Einzelstaaten über die Abgabe von Souveränitätsrechten und die Schaffung von gemeinsamen Regelungen auf supranationaler Ebene. Die Suche und die Bildung von Koalitionen statt solidarische Einstimmigkeit bestimmen den Alltag in den Entscheidungsgremien der EU. Statt Solidarität und finanziellem Ausgleich über Strukturfonds herrschen einzelstaatlicher Gestaltungswille und Verteilungskämpfe zwischen Ländern bzw. Ländergruppen. Dem identitätsstiftenden Europäischen Parlament kommt bei diesem Szenario lediglich die Rolle eines Schattenparlaments zu bei gleichzeitigem Überwiegen fallweiser Abstimmungskoalitionen im zweiten legislativen Organ, dem Rat der EU. Die Rolle der Europäischen Kommission als Hüterin des Gemeinschaftsrechts und der Einhaltung des gemeinschaftlichen Rechtsbesitzstands würde entscheidend erschwert, zumal ein System der variablen Geometrie ein Mehrfaches an Einigungsaufwand mit sich brächte.

Szenario 3: „Kerneuropa“

Bei diesem Szenario dominiert die normative Kraft der unterschiedlichen Geschwindigkeiten der institutionellen, realwirtschaftlichen und monetären Integration. Um einen festen Kern von besonders integrationswilligen Ländern könnten konzentrische Kreise von mehr oder weniger stark mit dem Kern verbundenen Ländern identifiziert werden. Die letztgenannten Länder entscheiden fallweise über die Teilhabe an einstimmig gefassten Integrationsbeschlüssen. Der EU-Reformvertrag regelt in den Artikeln 43 bis 45 einerseits die Stärkung einer Pioniergruppe, die bei übereinstimmendem Willen weitere Integrationsschritte im Alleingang vollziehen kann. Damit trägt das Vertragswerk einer Entwicklung Rechnung, die faktisch schon längst eingetreten ist. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) mit mittlerweile 19 EU-Staaten, die Regelungen im Rahmen des Schengener Abkommens sowie insbesondere der Brexit-Beschluss sind prominente Beispiele für ein Abrücken von der bislang dominierenden solidarischen Gemeinschaftsmethode nach Jean Monnet. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist keine programmatische Idee, sondern Realität der unterschiedlichen Interessenlagen. Einzelstaaten entscheiden selbständig, inwieweit sie sich dem „Kerneuropa“ anschließen oder ihm fernbleiben wollen. Gerade die jüngsten Entwicklungen haben gezeigt, wie dominant und zugleich ambivalent sich die Vorreiterrolle der Kernländer Deutschland und Frankreich auf die weitere Integration und den Fortschritt hin zu einer Fiskalunion mit faktischer Wirtschaftsregierung oder letztlich sogar einer politischen Union auswirkt. Besonders die baltischen Länder, aber auch die Slowakei haben aufgrund ihrer wirtschaftsgeographisch peripheren Lage die Bedeutung einer starken und unumstößlichen Anbindung an Kerneuropa verstanden. Schwierig wird die Einbindung südosteuropäischer Volkswirtschaften aufgrund des problematischen realwirtschaftlichen und institutionellen Anpassungsprozesses in Rumänien und Bulgarien.

Szenario 4: „Reformvertragsgemeinschaft“

Eine erfolgreiche Weiterentwicklung des Reformvertrages könnte den Weg ebnen für das „Europa der Zukunft“, in dem die Erweiterung der jetzigen EU sowie eine gleichmäßige Integrationsvertiefung hin zu einer politischen Union vorangebracht werden könnten. Allerdings sieht sich dieses Bestreben wegen der gegenwärtigen multiplen Krisen in der EU und dem Erstarken des nationalstaatlichen Mainstreams schweren Zeiten gegenüber. Auch die Beitrittsverhandlungen mit dem äußerst schwierigen Kandidatenland Türkei, mit der die EU schon seit über zehn Jahren konkrete Verhandlungen führt, könnten sich in diesem institutionell reformierten Rahmen vollziehen. Im Kern befindet sich die weitere Ausdehnung des zentralen Abstimmungsprinzips der doppelten qualifizierten Mehrheit im Rat der EU („55-65-Regel“) und die Weiterentwicklung der derzeitigen Strategie Europa 2020 verbunden mit einem echten Souveränitätsverzicht in vielen Politikbereichen. Der Gestaltungswille manifestiert sich in einer Art „Reformvertragspatriotismus“ der Mitgliedstaaten, mithin dem Willen, stets Kompromisslösungen auf EU-Ebene nationalstaatlichen Alleingängen vorzuziehen. Vielfach wird daraus die überaus ambitionierte Idee einer „Supermacht Europa“ abgeleitet. Diese Idee entspringt jedoch vielmehr dem Konkurrenzdenken gegenüber der Supermacht USA. In Wirklichkeit kann die EU auch bei fortschreitendem Aufbau einer politischen Union keine bloße Kopie der Vereinigten Staaten von Amerika werden, sondern muss ein eigenständiges dynamisches Identitätsprofil entwickeln.

Szenario 5: „Titanic“

Vor einigen Jahren noch als utopisches Hirngespinst abgetan, wird das Modell „Titanic“ zur zunehmend sehr realen Bedrohung. Die zentrifugalen Kräfte in vielen EU-Mitgliedstaaten haben enormen Zulauf erfahren. Ein endgültiges Scheitern des europäischen Einigungsprojektes und eine Zuspitzung der einzelstaatlichen Interessen könnte im „worst case“ Tür und Tor öffnen für eine weitere, bereits zu beobachtende Renationalisierung vieler Politikbereiche. Ein wesentliches Charakteristikum wäre dann eine substanzielle Schwächung der EU-Institutionen durch die permanente Aushöhlung des Gemeinschaftsprinzips und der Rechtsgrundlagen. Diese Entwicklung könnte auf der politischen Ebene einhergehen mit einer Dominanz des politischen Populismus in Europa, zumal die EU auch heute schon für „alles Negative“ in europäischen Ländern instrumentalisiert wird. Die Folgen wären der Zerfall der EU-Institutionen und ein radikaler Abbau der erreichten Integrationsschritte. In diesem Titanic-Modell käme es zu einer Destabilisierung und Rückkehr zu längst überwunden geglaubten nationalstaatlichen Verhaltensmustern. Selbst ökonomische Fortschritte würden hier vernichtet werden, wenn die ordnungspolitische Rahmensetzung einer offenen und Sozialen Marktwirtschaft auf europäischer Ebene verletzt würde. Zweifellos würden im Szenario „Titanic“ die erreichte Binnenmarktintegration sowie der erreichte Fortschritt in den Investitionen, Infrastrukturleistungen sowie im institutionellen Aufbau in den ostmittel- und südosteuropäischen EU-Ländern den größten Rückschlag erleiden. Langfristig würde in diesem Szenario ein Auseinanderdriften nicht nur der Nationalstaaten und europäischen Volkswirtschaften, sondern auch der peripheren Räume zu einem dramatischen Rückgang der realen Wirtschaftsleistung und der Handelsverflechtungen führen.

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