Dr. Horst Friedrich Wünsche
Ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter von Ludwig Erhard, Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung von 1991 bis 2007

Falschmeldungen – Fake-News – sind nicht immer Lügen. Die Falschmeldungen, die derzeit in Verbindung mit Ludwig Erhard verbreitet werden, bestehen aus fein gewobenen Netzen, die kunstvoll um einen gelegentlich winzig kleinen wahren Kern gesponnen sind. Die attraktive Umhüllung suggeriert einen bedeutungsvollen Inhalt – im Fall Erhard eine angeblich neue Erkenntnis. Tatsächlich besteht der wahre Kern jedoch nur aus einer längst bekannten und durchaus belanglosen Tatsache, die mit Vermutungen, Spekulationen und Denunziationen zu einer aufsehenerregenden Geschichte aufgebläht wurde.

Alle zehn Jahre erscheinen um den 20. Juni herum – dem Tag, an dem 1948 in Westdeutschland eine Währungs- und Wirtschaftsreform durchgeführt wurde – in zahlreichen deutschen Tageszeitungen Artikel, die an die erbärmliche Situation in Deutschland drei Jahre nach Kriegsende erinnern und die Leistungen der am Wiederaufbau Beteiligten würdigen. In der Regel wird Ludwig Erhard darin häufig genannt, denn Erhard hat an den Vorbereitungen und der Durchführung der Währungs- und Wirtschaftsreform 1948 maßgeblich mitgewirkt. Er war im Oktober 1947 zum Leiter einer Sachverständigenkommission, der „Sonderstelle Geld und Kredit“, berufen worden, die im April 1948 den „Homburger Plan“ vorgelegt hat, in dem die Reformvorstellungen der Deutschen zusammengefasst waren. Nach seiner Wahl zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft am 30. März 1948 hat er noch bis in die letzten Stunden vor der Währungsreform mit den angelsächsischen Militärgouverneuren Lucius D. Clay und Sir Brian Robertson über die endgültigen Einzelheiten der Währungsreform gestritten. Und am Tag der Währungsreform hat er dann weitgehend eigenmächtig die Wirtschaftsreform verkündet, die in vielen Geschichtsbüchern als die eigentliche Ursache für das „deutsche Wirtschaftswunder“ vermerkt ist. Aus diesem Grunde wird der Tag der Währungsreform allenthalben auch als Beginn von Erhards Politik der Sozialen Marktwirtschaft angesehen.

In einigen Beiträgen, die zum diesjährigen Währungsreform-Dezennium erschienen sind, ist anderes zu lesen. Erhard wird in ihnen zwar noch immer als ein Politiker bezeichnet, der maßgeblich an der Währungs- und Wirtschaftsreform von 1948 beteiligt war. Aber seine Leistungen werden als fragwürdig, teilweise sogar als verwerflich beschrieben:

  • Michael Brackmann, der sich seit den 1990er Jahren mit der Vorgeschichte der Währungsreform befasst, behauptet beispielsweise in Artikeln, die im Bonner General-Anzeiger vom 18. Juni 2018 und im Handelsblatt vom 20. Juni 2018 abgedruckt wurden, dass nicht Erhard allein die Währungsreform von 1948 konzipiert habe, sondern dass er sich dazu mit einem einflussreichen und berüchtigten NS-Politiker verbündet habe.
  • Auch der an der Universität Siegen lehrende Wirtschaftswissenschaftler Nils Goldschmidt – der gegenwärtig auch Vorsitzender der in den 1950er Jahren gegründeten Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft ist – schreibt in einem Artikel, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. Juni 2018 veröffentlicht wurde, dass die in Westdeutschland betriebene Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht von Erhard bedacht und begründet wurde: „Die Soziale Marktwirtschaft war nie ein in sich geschlossenes Konzept. Und genau darin liegt ihr Erfolgsgeheimnis“: Sie war stets ein „politischer Aushandlungsprozess“.

1. War die Währungsreform von 1948 ein perfides NS-Projekt?

Für Michael Brackmann war die Währungsreform von 1948 ein „höchst einseitiges Schuldenabbauprogramm“. Er behauptet: Mit dieser Reform sollten vornehmlich Veränderungen der Besitzverhältnisse verhindert werden, und dieses Ziel sei erreicht worden: „Der überwiegende Teil der privaten Ersparnisse wurde ersatzlos annulliert; der Aktien- und Sachwertbesitz hingegen durch eine lediglich kosmetische, aus Gründen der ,sozialen Optik‘ erhobene Vermögensabgabe geschont. Hinzu kamen spürbare Erhöhungen der Verbrauchssteuern und allgemeine Preissteigerungen von 20 Prozent.“

Brackmann behauptet damit das Gegenteil von dem, was die Statistiken ausweisen und was bislang als so unbestritten gilt, dass sogar Politiker wie Sahra Wagenknecht Erhards politisches Wirken als prinzipiell wichtig und nachahmenswert ansehen: Erhard habe „Wohlstand für alle“ versprochen, und er habe dieses Versprechen in beispielgebender Weise erfüllt. Für Brackmann – so scheint es – zählen jedoch weder Zahlen noch Fakten. Er hält die Tatsache, dass es im Nachkriegsdeutschland eine Entwicklung zu sozialer Gerechtigkeit gegeben hat, nicht für eine Tatsache, sondern für ein Traumbild, das Erhard nicht verwirklicht hat, weil er es nicht verwirklichen wollte, und das sei am Tage der Währungsreform offenkundig geworden: Erhard habe an diesem Tag zwar die Rationierung aufgehoben und die Preise freigegeben, aber den Lohnstopp hat er noch fünf Monate lang fortbestehen lassen.

In einem ähnlichen, vor 30 Jahren veröffentlichten Artikel hat Brackmann seine Kritik an den angeblich unsozialen Zielen und Folgen der Währungsreform einen Hauch besser zu begründen versucht als in diesem Jahr. Damals hat er beanstandet, dass in Erhards Politik „nirgendwo Ansätze in den Blick kommen, die etwa auf die Wiederherstellung von freien Gewerkschaften und Tarifautonomie hinauslaufen“. In seinen diesjährigen Artikeln missbilligt er die Währungs- und Wirtschaftsreform von 1948 in neuer, viel grundsätzlicheren Weise, nämlich als „das Musterbeispiel für ein von langer Hand vorbereitetes Projekt, dessen Anfänge bis in die NS-Zeit zurückreichen.“

Er sagt: Im Zentrum dieser Reform habe neben Ludwig Erhard Otto Ohlendorf gestanden. Ohlendorf, der in den Nürnberger Prozessen als verantwortlich für die Ermordung von 90.000 Zivilisten in der Sowjetunion zum Tode verurteilt wurde, sei „Erhards Mentor“ und damit „Miterfinder der Sozialen Marktwirtschaft“ gewesen.

Die Geschichte, die Brackmann erzählt, geht so: Ohlendorf, der 1943 zum Stellvertreter des Staatssekretärs im Reichswirtschaftsministerium ernannt wurde, habe – gedeckt durch Heinrich Himmlers schützende Hand – mit Unterstützung von Reichwirtschaftsminister Walther Funk und Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk die Arbeit hochkarätiger Expertenzirkel koordiniert. Auch Erhards Denkschrift „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“ sei unter dem Schirm des berüchtigten NS-Ideologen entstanden, und Erhard habe gewusst, mit wem er sich da eingelassen hatte: Erhards Schwester war mit dem Hauptgeschäftsführer der Reichsgruppe Industrie, Karl Guth, verheiratet: „Erhard dürfte von seinem Schwager Insiderinformationen bekommen und sämtliche Facetten der Vita von Ohlendorf gekannt haben.“ Später, während seiner Tätigkeit als Leiter der „Sonderstelle Geld und Kredit“, habe Erhard „die alten Pläne“ wieder aus der Schublade geholt, und „trotz einiger Scharmützel“ sei es ihm gelungen, „die alliierten Offiziere auf jenes Schuldenabbaukonzept einzuschwören, das er und Ohlendorf schon 1944 vorgezeichnet hatten“.

Brackmanns Darstellung stützt sich auf eine einzige historisch verbürgte Tatsache: auf die Tatsache, dass Erhard am 16. November 1944 zu einer kurzen Unterredung mit Ohlendorf in das Reichswirtschaftsministerium geladen wurde und diesen Termin wahrnahm. Alles andere sind – abgesehen von ein paar irrelevanten Anmerkungen zu Erhards Familienverhältnissen und zur NS-Bürokratie – Unterstellungen, Vermutungen und Spekulationen. Wer die historisch verbürgten Sachverhalte kennt, wird das von Brackmann Zusammenkomponierte als unverfrorenes Phantasiegebilde, möglicherweise sogar als Verleumdung zurückweisen. Den Jüngeren aber, denen Geschehnisse, die 75 Jahre zurückliegen, nicht präsent sein können und denen die nicht spezifizierten Schwärmereien der Älteren über die „glorreiche Vergangenheit“, das „deutsche Wirtschaftswunder“ und die „Soziale Marktwirtschaft“ häufig auf die Nerven gefallen sind, wird Brackmanns Erzählung möglicherweise plausibel und bemerkenswert erscheinen.

Damit sich kein Unbefangener vom Brackmann’schen Erzählfluss mitreißen lässt, ist es erforderlich, die zeitlichen Verzerrungen, Widersprüche und Ungereimtheiten aufzuzeigen, die in Brackmanns Schilderung stecken, und bei dieser Gelegenheit auch einige Hintergründe und Motive zu rekapitulieren, die der Währungs- und Wirtschaftsreform 1948 zugrunde lagen. Im Wesentlichen sind es fünf Punkte, die Brackmann unerwähnt lässt und die – werden sie berücksichtigt – Erhards politische Ambitionen in ein völlig anderes Licht rücken, als sich aus Brackmanns Darstellung ergibt:

(1) Erhard hat sich von Oktober 1942 an intensiv mit den wirtschafts- und finanzpolitischen Problemen beschäftigt, die durch die Aufrüstung und die spezielle nationalsozialistische Finanzierungmethode im Zweiten Weltkrieg aufgeworfen werden. Er hatte damals seine Stelle am Nürnberger Institut für Wirtschaftsbeobachtung vorwiegend aus politischen Gründen räumen müssen. Erhard konnte nicht erwarten, dass er nach seiner Entlassung eine neue Stelle finden kann. Die treibenden Kräfte für seine Entlassung waren der Gründer des Instituts, Wilhelm Vershofen, und Walter Eickemeyer, ein NSDAP-Mitglied, das der Stadtrat 1933 einstimmig zum zweiten Bürgermeister Nürnbergs gewählt hat. Beide behinderten Erhards Bemühungen um eine neue Stelle, was nicht einfach war, weil – so klagt Eickemeyer – „Erhards Verflechtungen und Verfilzungen mit allen möglichen privaten Wirtschaftskreisen nicht durchschaut werden können“. Sie nannten ihn den „sattsam bekannten früheren stellvertretenden Geschäftsführer des Instituts für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware“ und behaupteten, Erhard habe der gemeinnützigen Verwaltung des Nürnberger Instituts „ständig Schwierigkeiten bereitet, weil er versucht hat, Gepflogenheiten durchzusetzen, die in der Privatwirtschaft vielleicht gangbar sein mögen“. – In dieser Situation blieb Erhard nichts anderes übrig: Er versuchte, sein Geld als „unabhängiger Wirtschaftssachverständiger“ zu verdienen und gründete dazu ein eigenes „Institut für Industrieforschung“.

(2) Erhard begann die Arbeit in seinem Institut mit der Erstellung einer umfangreichen Liste von dringlich zu leistenden Forschungsarbeiten. Er war der Meinung, es sei überaus wichtig, die materielle Lage, die sich durch den Krieg ergeben wird, möglichst genau abzuschätzen, damit man wenigstens „gedanklich auf die kommenden Aufgaben vorbereitet ist“. Angesichts der Hyperinflation, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ausgebrochen war und der Wissenschaftler wie Politiker hilflos gegenüber standen, erschien es ihm besonders wichtig, die Herausforderungen abzuschätzen, vor denen die Geld- und Währungspolitik nach Ende des Zweiten Weltkriegs stehen wird. Erhard besprach seine Aufgabenliste mit seinem Schwager Karl Guth und sandte sie in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung an den Leiter der Reichsgruppe Industrie Wilhelm Zangen und dessen Stellvertreter Rudolf Stahl. Er selbst begann unverzüglich mit der Datensammlung zum, aus seiner Sicht wichtigsten Punkt seines Forschungsprogramms, der Beschreibung der Modalitäten der nationalsozialistischen Kriegsfinanzierung und der Möglichkeiten, die angehäuften Schulden zu konsolidieren.

Wahrscheinlich hat Hermann von Siemens Erhards Forschungspläne gekannt, als er am 18. November 1942 vorgeschlagen hat, im Rahmen der Reichsgruppe Industrie eine „Fördergemeinschaft der deutschen Industrie“ zu gründen. Diese Einrichtung sollte helfen, die Gefahren abzuwenden, die der deutschen Wirtschaft „im Falle eines Niedergangs“ entstehen. Dem Antrag wurde stattgegeben. Die Fördergemeinschaft wurde gegründet. Sie hat ein halbes Jahr später, am 20. Mai 1943, die finanzielle Unterstützung von Erhards Arbeit für drei Jahre zugesagt und dafür einen Betrag von jährlich 150.000 Reichsmark bereitgestellt.

(3) Dank dieser Unterstützung konnte Erhard seine im Oktober 1942 begonnene Arbeit im März 1944 abschließen. Er gab ihr den Titel „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“. Wie Günter Schmölders 1977 anerkennend geurteilt hat, hat Erhard in seiner Denkschrift nicht nur die wirtschaftliche und finanzpolitische Lage nach Kriegsende „erstaunlich richtig“ eingeschätzt; er hat auch die NS-Politik der „unsichtbaren Kriegsfinanzierung“ durchschaut und als „Versteck spielen“ und „Verschleiern wollen“ kritisiert. Bemerkenswert ist auch, dass Erhard mehrfach darauf verweist, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme der Nachkriegszeit mit der finanzpolitischen Bereinigung der Kriegsschulden keineswegs gelöst werden können. Zugleich mit der Schuldenbereinigung müsse eine gerechte Verteilung der Kriegs- und Nachkriegslasten erfolgen. In Zusammenhang damit hat er auch die Grundzüge der nach dem Krieg anzustrebenden Wirtschaftsordnung skizziert und die Lenkungsmaßnahmen beschrieben, die in der ersten Phase nach Kriegsende veranlasst werden müssen, um die erstrebte Wirtschaftsordnung zu verwirklichen.

(4) Erhard hat seine Denkschrift nur sehr wenigen, ihm sehr vertrauten Personen ausgehändigt. Ein Exemplar hat er per Post an Carl Goerdeler geschickt, der in der zivilen Widerstandsbewegung gegen Adolf Hitler als zukünftiger Reichskanzler vorgesehen war. Erhard kannte Goerdeler persönlich. Er hatte ihn schon 1935 in seiner damaligen Funktion als Reichskommissar für die Preisüberwachung zu einem Referat nach Nürnberg eingeladen. Erhard wusste jedoch nicht, dass Goerdeler an der Planung des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 beteiligt war. Nach Goerdelers Verhaftung am 12. August 1944 – Goerdeler wurde am 2. Februar 1945 hingerichtet – fürchtete Erhard, dass seine Denkschrift bei Goerdeler gefunden worden sei und ihm damit ein „schlimmes Schicksal drohe“.

In dieser brenzligen Situation hielt es Erhard für geboten, dass er sich zu seiner Denkschrift offen bekennt und seine Arbeit notfalls damit rechtfertigt, dass er die Überlegungen verantwortungsbewusster Wirtschaftsführer aufgegriffen und kritisch betrachtet habe. Zur Unterstützung dieser Aussage schien es ihm sinnvoll, wenn im Rahmen der Reichsgruppe Industrie Diskussionen über die Fragen stattfinden, die er in seiner Denkschrift behandelt hat.

(5) Dementsprechend hatte Erhard nichts dagegen, dass Rudolf Stahl, der für die Reichsgruppe Industrie den Kontakt zum Reichswirtschaftsministerium pflegte, in einem Brief am 10. November 1944 Ohlendorf ersuchte, ein Gespräch mit Erhard führen zu wollen. Stahl hat diesem Gesuch einen selbst gefertigten Auszug aus Erhards Denkschrift beigelegt. Stahls Initiative hat dazu geführt, dass Erhard am 16. November 1944 zu einer Unterredung mit Ohlendorf in das Reichswirtschaftsministerium geladen wurde. – Erhard begegnete Ohlendorf an diesem Tag erstmals; und erst an diesem Tag bekam Ohlendorf die vollständige Fassung von Erhards Denkschrift zu Gesicht.

Ob Ohlendorf im Gespräch mit Erhard die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen Erhard und dem Reichswirtschaftsministerium angedeutet oder als wünschenswert bezeichnet hat, ist unwahrscheinlich, aber auch unerheblich, denn diese Zusammenarbeit kam nicht zustande. Ohlendorf hat Erhards Schriften einem seiner Referenten, Karl Günther Weiss, übergeben und ist Erhard niemals wieder begegnet. Einen von Ohlendorfs Sekretariat vorsorglich für eine weitere Besprechung mit Erhard blockierten Termin am 12. Januar 1945 nahm nicht Ohlendorf, sondern Weiss wahr. Weiss war es auch, der Erhards Denkschrift zusammen mit Expertisen von anderen Wissenschaftlern sorgfältig gebündelt und in einen Auslagerungsbunker im Harz verschickt hat. Erhards Denkschrift ist dort nie angekommen.

Weiss war der Einzige, der von Ohlendorf etwas über sein Vier-Augen-Gespräch mit Erhard erfahren hat. Weiss meinte, sich dafür verbürgen zu können, dass Erhards Besuch kurz, sehr kurz, gewesen sei und kaum eine Viertelstunde gedauert haben konnte, denn die Herren hätten sich offensichtlich gut verstanden: Sie hätten festgestellt, dass sie am gleichen Tag, aber im Abstand von zehn Jahren geboren wurden. Ohlendorf habe dazu angemerkt, dass der Altersunterschied zwischen ihnen auch ihre unterschiedlichen Bildungswege erkläre, womit Ohlendorf – so die Vermutung von Weiss – angedeutet habe, dass er wisse, dass Erhard von einem Juden, von Franz Oppenheimer, promoviert wurde.

Der hiermit geschilderte Ablauf zeigt, dass Brackmanns Ausführungen unhaltbar sind, und zwar sowohl seine Kritik an den angeblich unsozialen Zielen und Folgen der Währungs- und Wirtschaftsreform von 1948, als auch seine Unterstellung, dass Erhard einseitig nur Kapitalinteressen vertreten habe, vor allem aber seine fantasievolle Schilderung über eine einträgliche Zusammenarbeit von Erhard und Ohlendorf:

  • Was das Soziale der Erhard’schen Politik betrifft: Erhard hat seit 1944 darauf bestanden, dass zugleich mit der finanzpolitischen Schuldenbereinigung eine gerechte Verteilung der Kriegs- und Nachkriegslasten erfolgen muss. Er hat dafür gesorgt, dass im Homburger Plan nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Einzelheiten eines weit gehenden Lastenausgleichs festgehalten werden (§§ 25–32). Und zur prinzipiellen Orientierung seiner Politik hat er im Jahr 1948 unmissverständlich gesagt: „Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära, auch nicht das ,freie Spiel der Kräfte‘ und dergleichen Phrasen, mit denen man hausieren geht, sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persönlichkeit obenan stellt und der Leistung den verdienten Ertrag zugutekommen lässt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung.“
  • Brackmanns Behauptung, Erhard habe einseitig die Interessen der Wirtschaft begünstigt, ist viel zu pauschal, ja eigentlich nichtssagend, solange nicht präzisiert wird, welche Wirtschaftsinteressen damit gemeint sind. Selbstverständlich stand Erhard der Wirtschaft aufgeschlossen gegenüber, denn die Wirtschaft ist lebenswichtig. Aber Erhard hat nie „Partialinteressen“ vertreten, und gewiss auch nicht die Interessen von Kriegsgewinnlern und Rüstungskonzernen. Bei wirtschaftspolitischen Fragen stand Erhard stets auf der Seite der Verbraucher, weil Wirtschaften nach Erhard nur Sinn hat, wenn es Verbraucherwünsche erfüllt, und das ist nur mit einer leistungsfähigen Konsumgüterindustrie möglich. Aus dieser Sicht hat Erhard seit Kriegsbeginn darauf verwiesen, dass mit steigender Rüstungsproduktion eine Einschränkung der Konsumgüterproduktion erfolgen muss. Im Extrem – und diese Situation trat in Deutschland mit der Erklärung des „totalen Kriegs“ ein – kann die Grundversorgung der Bevölkerung nicht mehr garantiert werden.
  • Es gibt noch zahlreiche ungeklärte, hier nicht erwähnte Umstände, die Brackmanns Behauptung entgegengehalten werden könnten. Im Hinblick auf die von Brackmann behauptete Zusammenarbeit von Erhard mit Ohlendorf wäre vor allem Brackmann selbst zu fragen, ob er wirklich glaube, dass die Amerikaner nichts von Erhards Zusammenarbeit mit dem in den Nürnberger Prozessen angeklagten und verurteilten Nationalsozialisten Otto Ohlendorf wussten, als sie dem von ihnen als Ministerpräsidenten in Bayern eingesetzten Wilhelm Hoegner im November 1945 veranlasst haben, Ludwig Erhard als Staatsminister für Wirtschaft zu berufen.

2. Ist Soziale Marktwirtschaft eine zielstrebige Politik oder ein ergebnisoffenes Gesellschaftsspiel?

Bekanntlich war Erhard nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler, der vornehmlich durch seine Weigerung ausgelöst wurde, Verschuldungen des Bundeshaushalts hinzunehmen und durch Staatskredite zu finanzieren, in Gegnerschaft mit zahlreichen Politikern und Hochschullehrern geraten, die von den Vorzügen der keynesianischen Politik überzeugt waren und eine ihr entsprechende Politik forderten. Erhards Weigerung führte dazu, dass Politiker alsbald „Opas Marktwirtschaft“ verspotteten und Wissenschaftler die Theorien, die Erhards Politik zugrunde lagen, antiquiert nannten. So war es kein Wunder, dass in der 1973 von neoliberalen Hochschullehrern herausgegebenen Festschrift zum 25. Jahrestag der Währungs- und Wirtschaftsreform nichts über Erhard und seine Politik zu lesen war. Der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckte Beitrag von Nils Goldschmidt zum diesjährigen 70. Jahrestag der Währungs- und Wirtschaftsreform scheint diese Tradition fortsetzen zu wollen.

Ausgehend von der „generellen Einsicht“ eines an der Harvard-Universität lehrenden Professors, von Dani Rodrik – eigentlich der banalen Feststellung, dass Wirtschaftspolitik „je nach den spezifischen Bedingungen unterschiedlich gestaltet werden muss“ und dass „gesellschaftliche, kulturelle und historische Unterschiede dazu zwingen, Institutionen an das jeweilige Umfeld anzupassen und mit Blick auf gesellschaftliche Akzeptanz und zum Wohle der Menschen zu gestalten“, sieht Goldschmidt in sämtlichen Etappen und Wendungen der deutschen Wirtschaftspolitik der letzten 70 Jahre Anpassungen an „neue Kontexte“ und „Modernisierungen der Sozialen Marktwirtschaft“. Er meint, diese Veränderungen seien „das eigentliche Lebenselixier der Sozialen Marktwirtschaft“.

Wenn Goldschmidt verlangt, dass die Politik „mit Blick auf gesellschaftliche Akzeptanz“ gestaltet wird, heißt das wohl, dass sich die Politik an den jeweils vorherrschenden Interessen orientieren soll. Man könnte dieses Verlangen ein Bekenntnis zum „demokratischen Sozialismus“ nennen, denn es lässt sich kaum vorstellen, dass auf diese Weise eine Modernisierung der Sozialen Marktwirtschaft stattfindet, denn der Weg, den Goldschmidt zu gehen empfiehlt, ist einer, vor dem nahezu alle Ordo- und Neoliberalen ausdrücklich gewarnt haben.

Beispielsweise hat ihn Wilhelm Röpke „den Weg zur Aushöhlung des Staates“ genannt und beschrieben, was geschieht, wenn die zunehmende Ausnutzung des Staates zur Befriedigung von Gruppenwünschen zugelassen wird und sich damit zur Beherrschung des Staates durch die organisierte Gruppenmacht steigern wird: „Wenn der Staat zur Beute wird, an der sich die Gruppen unter gegenseitigen Toleranzabreden und unter möglichstem Ausschluss schwächerer Gruppen beteiligen, geschieht zweierlei: erstens werden die vorhandenen Tendenzen zur Überlastung des Staates außerordentlich verstärkt, zweitens aber wird der Staat selbst durch den Interessenkampf zersetzt und der Würde einer der Allgemeinheit dienenden Anstalt beraubt, mit der sich die Regierten über alle Gruppen und Schichten hinweg willig identifizieren können.“

Erhard hat diese Gefahr ähnlich wie Röpke gesehen und während seiner Amtszeit permanent und entschieden gegen Lobbyisten und Funktionäre gekämpft, denn: „Die Funktionäre treiben Politik nur in eigener Sache zur Aufwertung ihrer Person und um ihre Daseinsberechtigung nachzuweisen. Das führt zu einem Wettlauf um immer neue Forderungen. Und wenn die Kassen leer sind, dann wird mit großem Pathos die Erfüllung der großen und hehren Gemeinschaftsaufgaben gefordert, für die angeblich gar nichts getan wurde.“

Erhard ist davon ausgegangen, dass der Sinn von Politik darin liegt, Missstände zu beseitigen. Wenn das gelingt – so meinte er –, ergebe sich eine neue Situation, in der nicht erwartet werden könne, dass die in dieser Situation herrschenden Schwierigkeiten und Herausforderungen mit der bisherigen Politik bewältigt werden können, denn mit ihr sind die Probleme, die zukünftig gelöst werden müssen, ja entstanden.

Erhard nannte seine Auffassung von Politik ein „dialektisches Rezept“, das streng beachtet werden sollte. Das heißt: Er hielt es für falsch, politische Maßnahmen – wie es oft geschieht – allein wegen der Erfolge zu ergreifen, die vormals mit ihnen erreicht wurden. Gerade eine erfolgreich praktizierte Politik brauche den Wandel. Leider hat Erhard nur selten von dem notwendigen Wandel der Politik gesprochen. Er hielt ihn für selbstverständlich. Viel öfter hat er betont, dass die Politik unbeirrt an einmal gewählten Grundsätzen festhalten muss. Sie dürfe nicht nach der Choreographie der „Echternacher Springprozession“ – zwei Schritte vor, einen zurück – betrieben werden.

Stetiger Wandel und zugleich unbedingtes Beharren? – Wenn das kein unlösbarer Widerspruch ist, kann es nur ein Gegensatz sein, der in einem Kompromiss aufgelöst werden muss. Erhard hat eine dritte Lösung vertreten. Er hielt beides für gleich wichtig und hat beiden einen eigenständigen Wirkungsbereich zugewiesen. Politik brauche ein konzeptionell stabiles, normatives Grundgerüst; sie brauche aber auch die Freiheit, um auf diesem Gerüst die erforderlichen Programme zeit- und sachgerecht durchführen zu können.

Dieser Dualismus von konzeptioneller Stetigkeit und programmatischem Wandel hat sich in Erhards praktischer Politik deutlich niedergeschlagen:

  • In der Wiederaufbauphase – mit der Währungs- und Wirtschaftsreform, dem Jedermann-Programm, der Europäischen Wiederaufbauhilfe (Marshallplan) und dem Investitionshilfegesetz – ging es Erhard programmatisch um die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen und konzeptionell um den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung, in der in erster Linie die Bedürfnisse der Verbraucher befriedigt werden.
  • In der anschließenden, etwa bis 1957 dauernden Konsolidierungsphase wurde versucht, die noch nicht marktwirtschaftlich geordneten Bereiche in die marktwirtschaftliche Ordnung einzubinden. Daneben wurden verschiedene, intensiv diskutierte Programme durchgesetzt: Mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wurde der Wettbewerb als tragende Säule der Sozialen Marktwirtschaft legislativ stabilisiert. Infolge seiner im Bundeskabinett erkämpften Federführung bei den EWG-Verhandlungen gelang Erhard eine Verankerung von marktwirtschaftlichen Grundprinzipien in den Römischen Verträgen, auf deren Grundlage die Wirtschaftsgemeinschaft ausgebaut werden sollte. Die von Erhard für nötig gehaltene grundlegende Reform des Sozialversicherungssystems musste allerdings verschoben werden, nachdem Konrad Adenauer für diesen Bereich auf seiner Richtlinienkompetenz als Bundeskanzler beharrt hatte. Erst nach seiner Wahl zum Bundeskanzler konnte Erhard seine sozialpolitischen Absichten mit der Berufung einer Sozialenquête-Kommission wieder aufgreifen.
  • In der letzten Phase seiner Politik hat Erhard von einer „Formierten Gesellschaft“ gesprochen: von einem Wirtschaftsleben, in dem keine grundsätzlichen Konflikte bestehen und vor allem keine Verteilungskämpfe geführt werden müssen. Er versuchte, in der Bevölkerung das Bewusstsein dafür zu wecken, dass dank der jahrzehntelangen marktwirtschaftlich orientierten Politik in Deutschland eine wirklich „Soziale“ Marktwirtschaft entstanden ist. Erhard war der Ansicht, dass mit Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung und leistungsgerechter Entlohnung erreicht wurde, dass alle Werktätigen am wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben und dass auf diesem Weg die Umverteilung von Einkommen – die häufigste Ursache von Verteilungskämpfen – minimiert wurde und infolge des breit verteilten Wohlstands auch ein hohes Niveau von Kooperationsbereitschaft, Solidarität und sozialer Fürsorge garantiert ist.

Erhards Nachfolger haben Erhards Konzeption verworfen. Sie haben 1967 mit der Einführung der „Konzertierten Aktion“ und der „Globalsteuerung“, die später zur angebotsorientierten Politik umgewandelt wurde, Erhards Bemühen um den Erhalt und den Ausbau der marktwirtschaftlichen Ordnung aufgegeben und sind zu einer pragmatischen Politik übergegangen, weil sie glaubten, mit ihr die vorherrschenden Wirtschafts- und Sozialinteressen optimal befriedigen zu können. Diese „Neue Politik“ hatte exakt die Folgen, vor denen Röpke gewarnt und gegen die Erhard angekämpft hat. Dass sich Nils Goldschmidt, der Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, angesichts der sichtbaren Folgen dieser Politik mit dem seit 1967 fortgesetzt ausgeweiteten staatlichen Interventionismus und Dirigismus abfindet und sie sogar als notwendige Fortentwicklungen der Soziale Marktwirtschaft rechtfertigt, ist niederschmetternd.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, herausgegeben von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, ISSN 2366-021X

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