Dr. Peter Westerheide
Chefvolkswirt der BASF SE und Research Associate am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat mit dem Gutachten 2018/19 wieder eine umfassende Analyse der wirtschaftspolitischen Entwicklungen vorgelegt und im Sinne des Sachverständigenratsgesetzes „Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung aufgezeigt“ – das Gesetz verbietet bekanntlich Empfehlungen für konkrete sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen.

Die Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung:
Prof. Dr. Peter Bofinger
Prof. Dr. Dr. Lars P. Feld
Prof. Dr. Christoph M. Schmidt, Vorsitzender
Prof. Dr. Isabel Schnabel
Prof. Volker Wieland, Ph.D.

Schwierige Konjunkturprognose in unsicheren Zeiten – deutliche Korrektur der Prognose vom Frühjahr 2018

Das weltwirtschaftliche Umfeld ist derzeit durch massive Unsicherheiten geprägt, die die Wachstumsperspektiven für die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft eintrüben. Für 2018 musste der Sachverständigenrat seine Prognose um 0,7 Prozentpunkte deutlich nach unten korrigieren. Nachdem er im März noch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 2,3 Prozent erwartet hatte, lautete seine letzte Prognose für 2018 auf nur noch 1,6 Prozent. Damit lag der Rat sogar noch etwas über dem vorläufigen Ergebnis von 1,5 Prozent, welches das Statistische Bundesamt Mitte Januar verkündet hat. Der Rat begründet seine erhebliche Prognosekorrektur im Wesentlichen mit einer geringer als erwartet ausgefallenen Auslandsnachfrage, wenngleich er im Überblick zu den wichtigsten wachstumsdämpfenden Einflussfaktoren vor allem auf die hohe Kapazitätsauslastung der Unternehmen und die daraus resultierenden Angebotsengpässe verweist. Darüber hinaus führt er die Produktionsprobleme in der Autoindustrie im Zusammenhang mit der Einführung der Abgasnorm WLTP als Störfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung an. Schließlich belasteten auch die steigenden Ölpreise die Handelsbilanz und verringerten die Kaufkraft der Verbraucher.

Insgesamt wirkt die Argumentation zur aktuellen Wachstumsschwäche Deutschlands damit wenig homogen, sie ist allerdings auch der komplexen Gemengelage geschuldet. Aus statistischer Sicht befindet sich Deutschland nach wie vor in der Hochkonjunktur, da die Produktionskapazitäten überausgelastet sind. Der Sachverständigenrat beziffert die sogenannte Produktionslücke – also die Differenz zwischen Produktionspotenzial und aktuellem Output – auf rund plus 1,4 Prozent. Während die zumeist verzögert reagierenden Arbeitsmarktindikatoren (Beschäftigung, Fachkräfteengpässe, Lohnentwicklung) nach wie vor auf eine hohe wirtschaftliche Dynamik hindeuten, zeigen die konjunkturellen Frühindikatoren (Auftragseingänge, insbesondere aus dem Ausland) einen anhaltenden Wachstumsrückgang an.

Darüber hinaus unterscheiden sich die Perspektiven verschiedener Sektoren: Während das exportorientierte Verarbeitende Gewerbe unter der schwächeren Auslandsnachfrage und die kraftfahrzeugnahen Branchen insbesondere unter den Problemen in der Autoindustrie leiden, blieb die Nachfrage in der Bauindustrie ungebrochen, und die Kapazitäten waren dort voll ausgelastet.

Für das Jahr 2019 erwartet der Sachverständigenrat ein robustes Wachstum des privaten Verbrauchs um 1,8 Prozent (2018: 1,4 Prozent), da die Reallöhne derzeit kräftige Steigerungen aufweisen und die Beschäftigung weiter zunimmt. Darüber hinaus ergibt sich im Saldo ein positiver Impuls für die Einkommen der Arbeitnehmer aus der Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags, der Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung und der Umstellung des Zusatzbeitrags zur Krankenversicherung auf die paritätische Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Auch die Staatsausgaben sollen mit 2 Prozent stärker steigen als im Vorjahr (1,2 Prozent), unter anderem weil die verzögerte Regierungsbildung die Haushaltsführung im vergangenen Jahr belastet hat. Der Außenbeitrag bleibt dagegen voraussichtlich leicht negativ. Auch die Ausrüstungsinvestitionen wachsen im sich verschlechternden weltwirtschaftlichen Umfeld mit 2,5 Prozent deutlich langsamer als im Vorjahr (3,9 Prozent). Die Bauinvestitionen – die vornehmlich von Kapazitätsengpässen gebremst werden – schwächen sich dagegen weniger stark ab (2019: 2,5 Prozent, 2018: 2,9 Prozent). Insgesamt erwartet der Sachverständigenrat damit ein Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts von nur noch 1,5 Prozent im Jahr 2019, das nur noch geringfügig über dem geschätzten mittelfristigen Anstieg des Produktionspotenzials von 1,4 Prozent p.a. liegt. Der Rat liegt damit aber immer noch deutlich über der im neuen Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung prognostizierten Wachstumsrate von nur noch 1,0 Prozent für 2019.

Der Aufschwung am Arbeitsmarkt wird sich nach Prognose des Rates etwas verlangsamen. Dennoch wird die Arbeitslosenquote weiter zurückgehen, von 5,2 Prozent im Jahr 2018 auf 4,9 Prozent 2019. Die international vergleichbare Erwerbslosenquote sinkt von 3,4 Prozent im Jahr 2018 auf voraussichtlich nur noch 3,2 Prozent 2019. Dann wären in Deutschland allerdings immer noch knapp 2,2 Millionen Personen arbeitslos und weitere 3,1 Millionen Personen unterbeschäftigt.

Wirtschaftspolitische Weichenstellungen

Seinen Detailanalysen stellt der Sachverständigenrat wie in jedem Jahr ein Kapitel mit wirtschaftspolitischen Ratschlägen voran. Wie auch schon im letzten Jahr ist dies allerdings keine reine Zusammenfassung von Vorschlägen, die sich aus den Detailanalysen in den folgenden Kapiteln des Gutachtens ergeben. Vielmehr beziehen sich einzelne Vorschläge auf Analysen in früheren Gutachten, andere wiederum speisen sich ausschließlich aus Exkursen in diesem Eingangskapitel. So werden die Herausforderungen der Digitalisierung (mit Ausnahme der Aspekte, die das Gesundheitssystem betreffen) ausschließlich hier angesprochen. Dies gilt auch für den aus dem demografischen Wandel resultierenden Handlungsbedarf sowie für die eher kursorischen und recht allgemeinen Anmerkungen zur Industriepolitik. Wie üblich schließt sich an das erste Kapitel sogleich ein Minderheitsvotum von Peter Bofinger an, in dem er dieses Mal im Schwerpunkt die Auffassung der Ratsmehrheit zur Industriepolitik kritisiert.

Kontroverse Auffassungen zur Industriepolitik

Seiner ordnungspolitischen Tradition folgend spricht sich die Mehrheit des Sachverständigenrates gegen jegliche Form einer lenkenden Industriepolitik aus, „die es als staatliche Aufgabe ansieht, Zukunftsmärkte und -technologien als strategisch bedeutsam zu identifizieren“ (TZ 158). Der Staat solle sich auf die Bereitstellung der erforderlichen Infrastruktur konzentrieren und für eine Regulierung sorgen, die neue Geschäftsmodelle und Anbieter nicht diskriminiert, wie dies zum Beispiel durch die Preisbindung auf E-Books, das Verbot von „bestimmten Taxidienstleistungen“ (sprich „Uber“), oder das Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln geschieht. „Besser wäre eine generelle Regulierung, die neue Geschäftsmodelle mit einschließt“ (TZ 160). Als wichtigste Regulierungsdimensionen sieht der Rat die Sicherung des fairen Wettbewerbs, nicht-diskriminierende steuerliche Rahmenbedingungen für digitale wie konventionelle Anbieter, gleiche Mindestanforderungen für neue wie etablierte Anbieter beim Marktzugang, erforderliche Flexibilisierungen von Arbeitszeit und Anstellungsverhältnis, und eine angemessene Ausgestaltung des Datenschutzes, die inländische Anbieter nicht gegenüber ausländischen diskriminiert.

Peter Bofinger wendet sich in seinem ausführlichen Minderheitsvotum ausdrücklich gegen die grundsätzliche Ablehnung staatlicher industriepolitischer Aktivitäten durch die Ratsmehrheit. Er verweist auf aktuelle Literatur zur Industriepolitik, die ein industrie- und innovationspolitisches Eingreifen des Staates dann legitimiere, wenn

  • große Unsicherheit besteht, die für einzelne Unternehmen allein nicht tragbar sei,
  • Netzwerkeffekte und Externalitäten vorliegen, die koordiniertes Handeln vieler Akteure erfordern,
  • Pfadabhängigkeiten existieren, die Unternehmen dazu veranlassen könnten, an veralteten Technologien festzuhalten.

Gerade die Erfolge der Industriepolitik in China (Solarzellen) und in den USA (Entwicklung zentraler Komponenten von Smartphones als Ergebnis staatlicher Forschungsförderung) einerseits sowie die Abwanderung anwendungsorientierter Forschung von Deutschland nach China (genannt werden Siemens, Bosch und Schaeffler) andererseits lassen nach Ansicht von Bofinger durchaus industriepolitischen Handlungsbedarf erkennen. Er führt in diesem Zusammenhang auch die Europäische Batterieallianz als positives Beispiel an, die es sich zum Ziel gesetzt hat, eine einheimische Batteriezellfertigung zu etablieren: „Hier ist es bereits gelungen, ein ‚Ökosystem‘ von rund 260 Akteuren aus den Bereichen Industrie und Innovation aus allen Bereichen der Batterie-Wertschöpfungskette zu mobilisieren und zu koordinieren“ (TZ 175).

Als besondere Bedrohung für den Standort Deutschland wird in dem Minderheitsvotum Chinas Strategie „Made in China 2025“ erwähnt: „Bei dem hohen Industrieanteil und der zugleich hohen Bedeutung von Hochtechnologie-Industrie zählt Deutschland zu den Ländern, die von dieser Strategie in besonderer Weise betroffen sind. Da davon auszugehen ist, dass sich im globalen Wettbewerb um moderne Technologien diejenigen Länder durchsetzen werden, die innovationsfreundliche Ökosysteme schaffen, gehen die aktuellen industriepolitischen Bestrebungen der Bundesregierung durchaus in die richtige Richtung“ (TZ 177).

Keine demografieblinden Aktionen

In seinen wirtschaftspolitischen Analysen geht der Rat ausführlich auf die demografischen Herausforderungen ein. Noch befindet sich Deutschland in einer „demografischen Atempause“ (TZ 86), da die geburtenstarken Jahrgänge noch im Arbeitsprozess sind. Das ändert sich in naher Zukunft: Schon 2030 steigt die Alterslastquote (das Verhältnis der über 64-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen) von heute 35 Prozent auf dann 50 Prozent. Um diese Lasten zu schultern, müsse das vorhandene Arbeitskräftepotential durch Flexibilisierung von Arbeitszeiten und einen flexibleren Renteneintritt bestmöglich genutzt und durch Zuwanderung von Fachkräften auch aus dem Nicht-EU-Ausland erweitert werden. Hier sendet der Rat deutliche Signale: „Eine dauerhaft hohe Zuwanderung dürfte für die Sicherung des Wohlstands in Deutschland unverzichtbar sein […] Im Inland gilt es insbesondere, die Akzeptanz von Zuwanderung zu stärken und eine Integrationskultur zu etablieren“ (TZ 96). Um zu hohe Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und eine zu starke Senkung des Rentenniveaus zu vermeiden, empfiehlt der Rat eine an die Erhöhung der ferneren Lebenserwartung gekoppelte Erhöhung des Renteneintrittsalters nach der Faustregel: Je drei Jahre mehr Lebenserwartung zwei Jahre längere Arbeitszeit. Harsche Kritik erfahren dagegen „demografieblinde Maßnahmen“ (TZ 109) wie die Rente mit 63 für langjährige Versicherte und die Erhöhungen der Mütterrente.

Normalisierung der Geldpolitik in der Eurozone und Verzicht auf zusätzliche Fiskalkapazität

Entschieden plädiert das Gutachten wie schon in den Vorjahren für eine schnellere geldpolitische Normalisierung. Die Bilanz des Eurosystems hat zum Ende des Jahres 2018 einen Umfang von rund 4700 Milliarden Euro erreicht, das entspricht knapp 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Euroraums. Zwar hat die EZB angekündigt, seit Jahresende 2018 keine neuen Anleihen mehr zu kaufen, aber dennoch werden auslaufende Anleihen weiterhin ersetzt, sodass die Bilanzsumme der EZB weiter auf diesem hohen Niveau bleiben wird. Zudem werden die Zinsen zunächst niedrig bleiben; die EZB hat angekündigt, dass Leitzinserhöhungen nicht vor dem Sommer 2019 zu erwarten sind. Die aktuelle Zentralbankkommunikation lässt zudem erwarten, dass dieser Termin noch weiter hinausgeschoben wird.

Der anhaltend expansive Kurs der Zentralbank birgt nach Ansicht des Rates eine Reihe von Problemen: Zum einen nehmen die Zinsänderungsrisiken für die Geschäftsbanken zu, da langfristigen Krediten zu niedrigen Zinsen – sichtbar etwa bei den Wohnungskrediten, deren Zinsbindungsfrist tendenziell steigt – kurzfristige Refinanzierungen gegenüberstehen. Darüber bestehe die Gefahr der fiskalischen Dominanz der Geldpolitik: „Da ein Zinsanstieg die Finanzierungskosten für hochverschuldete Staaten erhöht, nimmt der politische Druck auf die Notenbank zu, eine Straffung der Geldpolitik zu vermeiden“ (TZ 343). Der Rat verweist auf Wachstumsprognosen der EZB und der EU-Kommission, wonach für die nächsten Jahre ein Wachstum oberhalb des Produktionspotenzials zu erwarten sei. Der Inflationsdruck auf die Verbraucherpreise würde damit ebenso steigen wie die Gefahr von Übertreibungen bei den Vermögenspreisen. Auf der Basis eigener Schätzungen quantifiziert das Gutachten den derzeit angemessenen geldpolitischen Leitzins auf 2 bis 3 Prozent.

Ebenfalls kritisch setzen sich die Sachverständigen mit Vorschlägen für einen weiteren Finanzierungstopf (Fiskalkapazität) auseinander, mit dessen Hilfe Mitgliedsländer unterstützt werden können, die von asymmetrischen Schocks getroffen werden. Einerseits gebe es bereits den Europäischen Stabilisierungsmechanismus ESM. Zudem sei es schwierig, entsprechende Schocks frühzeitig und zuverlässig genug zu identifizieren. Schließlich bestünde die Gefahr, dass hier dauerhafte und nicht nur temporäre Transfers stattfinden. Simulationsrechnungen für die Vergangenheit zeigten, dass es zu hohen und langanhaltenden Nettotransfers käme, wenn man die Entwicklung der Arbeitslosenquote als Kriterium für Ausgleichszahlungen verwende: „Es zeigt sich, dass eine Versicherungsfunktion durch eine Fiskalkapazität in der Praxis kaum von quasi-permanenten Transfers zu trennen ist“ (TZ 433). Insgesamt seien mit diesem Instrument negative fiskalpolitische Anreize verbunden, und es könne darauf hinauslaufen, „eine Fiskalunion durch die Hintertür einzuführen“ (TZ 454).

Allerdings teilen nicht alle Ratsmitglieder die oben geschilderte Mehrheitsmeinung des Rates: Zur Fiskalkapazität erstattet Isabel Schnabel ein Minderheitsvotum. Sie ist der Auffassung, dass die Hürden zur Inanspruchnahme des ESM hoch seien und seine Hilfen erst dann einsetzten, wenn bereits eine Krise ausgebrochen ist. Zudem hätten die Beispielrechnungen für die Vergangenheit die potenziellen positiven makroökonomischen Effekte der Hilfszahlungen nicht berücksichtigt. Außerdem könne man die Unterstützung eines Mitgliedsstaats auch von dessen vorheriger Regeltreue abhängig machen: „Insgesamt ergibt sich, dass eine anreizkompatibel ausgestaltete Fiskalkapazität, vorzugsweise in Form einer Arbeitslosenrückversicherung, durchaus Teil eines Reformpakets für den Euroraum sein könnte“ (TZ 463).

In seinem Minderheitsvotum zu diesem Kapitel rechnet Peter Bofinger zum Ende seiner Amtszeit im Rat noch einmal mit der Mehrheitsmeinung zur Geldpolitik in den letzten sechs Gutachten ab. Insgesamt habe die EZB eine erfolgreiche Geldpolitik betrieben, die von der Ratsmehrheit befürchteten Inflationseffekte und die negativen Effekte auf die Finanzstabilität seien „zumindest bislang“ (TZ 466) nicht eingetreten.

Weiterentwicklung der Bankenunion

Wie auch in den früheren Gutachten befasst sich der Sachverständigenrat ausführlich mit der Entwicklung des europäischen Bankensektors und dessen Regulierung. Hier werden weitere Fortschritte angemahnt. Ein ceterum censeo des Rates ist die Forderung nach der Abschaffung des Privilegs von Staatsanleihen bei der Eigenkapitalunterlegung in den Bankbilanzen. Staatsanleihen müssen nicht mit Eigenkapital unterlegt werden, auch gelten keine Großkreditgrenzen für die Anlage in Staatsanleihen. Dies führt zu erheblichen Klumpenrisiken gerade in den bonitätsmäßig schwächeren Euroländern. So übersteigen die Werte der nur noch knapp über dem Junkbond-Status eingestuften Staatsanleihen Italiens und Portugals in der Summe das Eigenkapital der einheimischen Institute.

Der Rat spricht sich daher dafür aus, Großkreditgrenzen mit risikoadäquater Eigenkapitalunterlegung oder – um harte Klippen zu vermeiden – Konzentrationszuschläge auf das erforderliche Eigenkapital einzuführen. Auch hier gibt es Pro und Kontra im Rat: Peter Bofinger kann die Mehrheitsmeinung nicht mittragen, da eine entsprechende europäische Regulierung einen internationalen Wettbewerbsnachteil für die heimischen Banken bedeuten würde, die deutschen Banken zur Diversifikation in weniger sichere Staatsanleihen anderer Euroländer gezwungen würden und die Banken ihre Stabilisierungsfunktion in einer schweren Krise nicht mehr erfüllen könnten.

Auch die Ausgestaltung der fiskalischen Letztsicherung (Backstop) für den Einheitlichen Abwicklungsfonds, der die Abwicklung von insolventen Banken finanzieren soll, wird vom Rat kritisch diskutiert. Im Kern ist hier eine Kreditlinie des von allen Eurostaaten finanzierten Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM für den von den Banken finanzierten Abwicklungsfonds vorgesehen. Es müsse verhindert werden, dass Risiken über den Backstop vergemeinschaftet werden, die eigentlich vom Abwicklungsfonds getragen werden müssen. Hier hat das Single Resolution Board, das über die Verwendung der Fondsmittel entscheidet, nach Ansicht des Rats zu große Ermessensspielräume, um einzelne Gläubigerklassen der Banken zu schonen. Zu diesem Komplex liegen allerdings neue Beschlüsse des EU-Gipfels im Dezember vor, die im Gutachten noch nicht bewertet werden konnten. So wurden zum Beispiel Einzelfallentscheidungen des ESM-Direktoriums für Auszahlungen aus der Letztsicherung vereinbart.

Im Hinblick auf die Vertiefung der Bankenunion werden auch die Notwendigkeit und die Voraussetzungen für eine gemeinsame europäische Einlagensicherung (EDIS) diskutiert. Dieser Sicherungsmechanismus soll die vorhandenen nationalen Einlagensicherungssysteme ergänzen. Dafür spreche, dass der Nexus zwischen Banken und einzelnen europäischen Staaten reduziert würde, schließlich gebe es „einen impliziten fiskalischen Backstop durch den Sitzstaat der Banken“ (TZ 513). Dies könne allerdings nicht das einzige Argument für das Eintreten der europäischen Einlagensicherung sein: „Vielmehr muss ein klares europäisches Interesse erkennbar sein, etwa indem Ansteckungseffekte vorsorglich vermieden werden können“ (TZ 516). Bevor dieses Instrument implementiert werde, sollten zunächst die Risiken in den nationalen Bankensektoren reduziert werden, vor allem durch eine adäquatere Eigenkapitalunterlegung von Staatsanleihen und die Reduzierung des Volumens notleidender Kredite: „Eine Einführung von EDIS ist nur in Kombination mit einer Beendigung der regulatorischen Privilegierung von Forderungen gegenüber Staaten denkbar“ (TZ 523). Zudem solle man die Prämien für den gemeinsamen Sicherungsfonds anreizkompatibel ausgestalten und nach Länder- und Bankenrisiken differenzieren.

Deutschland hat Nachholbedarf im Steuerwettbewerb

Im Zuge der jüngsten Steuerreform in den USA wurde die Einkommen- und Unternehmensteuer durch Anpassungen der Tarifverläufe, der Steuerbemessungsgrundlagen und durch eine zeitlich befristete Sofortabschreibung auf Investitionen deutlich gesenkt. Neben den USA haben auch europäische Nachbarländer ihre Steuersätze verringert oder zumindest entsprechende Senkungen angekündigt, darunter Frankreich und Italien. Deutschland gerät damit im internationalen Steuerwettbewerb zusehends ins Hintertreffen.

Um Nachteile für den Steuerstandort Deutschland zu vermeiden, sollte die Steuerbelastung nach Auffassung des Sachverständigenrates hierzulande gesenkt werden. Der Sachverständigenrat fasst dabei neben einer moderaten Senkung des Körperschaftsteuertarifs besonders den Solidaritätszuschlag ins Auge: „Eine vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags würde für die Kapitalgesellschaften in etwa den Anstieg der tariflichen Steuersätze bei der Gewerbesteuer seit dem Jahr 2008 ausgleichen“ (TZ 559). Der Koalitionsvertrag sehe zwar die teilweise Abschaffung des Solidaritätszuschlags ab 2021 vor, aber es sei unklar, ob sich das auch auf die Körperschaftssteuer oder nur auf die Einkommensteuer bezieht. Zudem werde diskutiert, höhere Einkommen oberhalb einer Freigrenze weiterhin zu belasten. Das hält der Sachverständigenrat für anreizfeindlich: „Dadurch würden die meisten Gewerbetreibenden und Selbständigen weiterhin mit der Zusatzabgabe belastet“ (TZ 591).

Darüber hinaus wird im aktuellen Jahresgutachten ausführlich die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung diskutiert. Unterschieden wird dabei zwischen inputseitiger Förderung von F+E-Ausgaben durch überproportionale steuerliche Absetzbarkeit und outputseitiger Förderung durch eine geringere Besteuerung etwa von Lizenzerträgen auf Patente (sog. Patentboxen). In Deutschland findet keines der beiden Instrumente Anwendung. Es gibt lediglich eine direkte Forschungsförderung durch Einzelmaßnahmen, etwa im Rahmen von Förderprogrammen der KfW oder der europäischen Forschungsförderung. Im internationalen Vergleich fällt der Anteil der staatlich geförderten privaten Forschungsausgaben mit weniger als 0,05 Prozent des Bruttoinlandsprodukts daher viel geringer aus als in allen vom Rat betrachteten Vergleichsländern, unter ihnen die USA, Japan, Frankreich und das Vereinigte Königreich.

Die empirische Evidenz zu den Wirkungen der steuerlichen Forschungsförderung ist uneinheitlich. In einer Abwägung der Anreizwirkungen der verschiedenen Instrumente präferiert der Sachverständigenrat im Gegensatz zu den aktuell in Deutschland diskutierten Plänen eine outputseitige, an den Innovationserträgen ansetzende steuerliche Förderung. Diese Förderung soll zudem voraussetzen, dass das steuerzahlende Unternehmen an der Entwicklung des geistigen Eigentums wesentlich beteiligt gewesen sein muss (Nexus-Prinzip der OECD), um steuerlich motivierte Gewinnverlagerungen zu minimieren.

Unerwähnt bleibt bei Abwägung zwischen input- und outputorientierter Förderung allerdings das Problem des unterschiedlichen zeitlichen Anfalls von Forschungsaufwendungen und -erträgen: Die steuerliche Förderung über Patentboxen stellt zwar einen steuerlichen Anreiz zur F+E-Tätigkeit dar. Sie entlastet Unternehmen aber gerade nicht während der Phase, in der Aufwendungen getätigt, aber noch keine Erträge erzielt werden. Darüber hinaus belohnt sie Unternehmen nur für erfolgreiche Innovationen, die ihren Niederschlag in entsprechenden Erträgen finden. Die output-orientierte Förderung verringert dagegen nicht das finanzielle Risiko des Scheiterns von Forschungsprojekten bei einzelnen Unternehmen – was gesamtwirtschaftlich aufgrund der damit verbundenen höheren Innovationsanreize durchaus vorteilhaft sein könnte. Lediglich Peter Bofinger weist in seinem Minderheitsvotum zur Steuerpolitik auf empirische Evidenz zur stärkeren Wirksamkeit inputorientierter steuerlicher Förderung hin, allerdings ohne die möglichen Gründe dafür explizit zu diskutieren.

Kritisch setzt sich der Sachverständigenrat mit den Vorschlägen zur gesonderten Besteuerung digitaler Unternehmen auseinander. Anlass ist die Tatsache, dass steuerlich motivierte Gewinnverlagerungen hier besonders einfach sind: „Da nationale Besteuerungsrechte eine physische Präsenz in Form einer Betriebsstätte voraussetzen, können sich digitale Unternehmen einer Besteuerung häufig entziehen, weil ihre Geschäftsmodelle nicht zwingend einer physischen Präsenz am Ort ihrer wirtschaftlichen Präsenz bedürfen“ (TZ 616). Alternativ muss demnach eine sogenannte digitale Betriebsstätte definiert werden. Hier liegt aber der Teufel im Detail, da die entsprechende Definition im Einklang mit internationalen Besteuerungsgrundsätzen stehen und geklärt werden muss, ob die Definition am Ort der Datenentstehung oder der Datennutzung ansetzen solle. Auch der pragmatische Vorschlag, bis zur Klärung dieser komplexen Fragen auf eine Sondersteuer auf den Umsatz digitaler Unternehmen auszuweichen, findet keine Zustimmung, unter anderem weil „diese Sondersteuer als einseitiger Zoll der EU gegen die Vereinigten Staaten interpretiert werden“ (TZ 620) dürfte.

Zur Verbesserung der Attraktivität des Standorts Deutschlands spricht sich der Sachverständigenrat darüber hinaus – wie in vielen vorherigen Gutachten – für die Abschaffung der steuerlichen Diskriminierung der Eigenkapital- gegenüber der Fremdkapitalfinanzierung aus. Der Rat vertritt hier seit langem das Konzept der Zinsbereinigung des Grundkapitals, also des Ansatzes kalkulatorischer steuerlich abzugsfähiger Zinsen für das Grundkapital. Das sei den gegenwärtig diskutierten Plänen zur Abschaffung der Abgeltungsteuer auf Zinserträge vorzuziehen, die auch mit der Finanzierungsformneutralität begründet werden. Hier werde vor allem die Mittelschicht belastet. An dieser Stelle bleibt die Argumentation bemerkenswert unscharf, da die aus der Abschaffung der Abgeltungsteuer folgende Erhöhung der Fremdkapitalkosten für die Unternehmen mit Argumenten zu den Verteilungseffekten der Steuerinzidenz beim Zinseinkommensbezieher vermischt wird, aber nur indirekt auf die Veränderung der steuerlichen Belastung zwischen Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung eingegangen wird: „Diese Maßnahme erhöht den Aufwand für Steuerzahler und Verwaltung, dürfte jedoch nur begrenzt zu höheren Steuereinnahmen führen“ (TZ 644).

Keine schnellen Lösungen in der Wohnungspolitik

Der Wohnungspolitik widmet der Sachverständigenrat im aktuellen Jahresgutachten ein Sonderkapitel. Die starken Preissteigerungen am Immobilienmarkt insbesondere in den sieben größten Städten (Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Stuttgart) können auf die steigende Anzahl an Haushalten und die anhaltende Zuwanderung in die Städte zurückgeführt werden. Hinzu kommen die niedrigen Zinsen für Immobilienkredite, die bei gleichen Einkommen höhere Kaufpreise zu finanzieren erlauben. Insgesamt ergeben sich aus verschiedenen Analysen, u.a. durch die Deutsche Bundesbank, deutliche Anhaltspunkte dafür, dass sich die Immobilienpreise von den fundamental gerechtfertigten Preisen entfernt haben und in den großen Städten eine Überbewertung vorliegt. Eine Wende bei den langfristigen Zinsen könnte hier durchaus problematisch werden: „Bei einem abrupten Zinsanstieg wäre ein spürbarer Preisrückgang nicht auszuschließen“ (TZ. 676). Allerdings lassen sich derzeit keine Anzeichen für eine übermäßige Bautätigkeit – also den Beginn eines typischen Schweinezyklus: zeitverzögerte Fertigstellungen treffen auf nachlassende Nachfrage – erkennen. Im Gegenteil: Viele Indikatoren deuten darauf hin, dass die Wohnungsbautätigkeit immer noch hinter dem mittelfristigen Bedarf zurückbleibt.

Auch für das Finanzsystem lassen sich prima facie zunächst keine übermäßigen Risiken feststellen, da die Verschuldung der privaten Haushalte für Immobilien nicht besonders kräftig gestiegen sind. Zudem gebe es keine Anzeichen für besonders lockere Kreditvergabestandards. Dennoch gibt der Rat hier keine vollständige Entwarnung, da die Banken angesichts längerer Zinsbindungsfristen ein zunehmendes Zinsänderungsrisiko eingehen und der Wert der Kreditsicherheiten – also der beliehenen Immobilien – stärker als erwartet schrumpfen könnte. Um die Risiken im Finanzsystem zu mindern, spricht sich der Rat u.a. dafür aus, einkommensbezogene Kriterien für die Schuldentragfähigkeit auf makroprudenzieller Ebene (aufsichtsrechtliche Instrumente zur Sicherung der Stabilität des Finanzsystems) einzuführen, also bestimmte Obergrenzen für das Verhältnis von Schulden zu Einkommen des Kreditnehmers. Bisher kann die Aufsicht lediglich Obergrenzen für das Verhältnis von Darlehenssumme und Immobilienwert sowie für die Tilgungsdauer setzen: Diese Instrumente mindern zwar das Risiko der Bank, sie „haben jedoch nur einen geringen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Zahlungsausfall kommt“ (TZ 691).

Was aber ist nun zu tun, um das Wohnungsangebot zu steigern und die steigenden Wohnungsbedarfe zu für die wohnungssuchenden Haushalte vertretbaren Kosten zu decken? Erwartungsgemäß lässt der Rat kein gutes Haar an der Mietpreisbremse, die die Wohnungsmarktprobleme wegen der damit verbundenen negativen Investitionsanreize nur verschärfe. Zwar können davon einige Mieter profitieren, aber letztlich verschärfe die Mietpreisbremse die soziale Selektion. Es komme zu einem klassischen Insider-Outsider-Problem, bei dem Bestandsmieter und Neumieter mit guten sozialen Kriterien (Insider) einen Vorteil gegenüber neuen „Mietern mit einer ungünstigeren sozialen Situation“ (Outsider) (TZ 353) haben. Zudem lasse sich die Mietpreisbremse aushebeln, etwa indem man eine Wohnung möbliert anbiete, da für die Möblierung ein – nicht näher zu definierender – Aufschlag gegenüber dem Mietspiegel erlaubt sei. „Insgesamt handelt es sich bei einer preisregulierenden Maßnahme wie der Mietpreisbremse um eine Symptomtherapie, die kurzfristig denjenigen Mietern hilft, die als ‚Insider‘ in den Genuss einer günstigen Wohnung kommen.“ (TZ 708).

Stattdessen spricht sich der Rat für eine Anpassung des Wohngeldes aus, die allerdings nicht näher spezifiziert wird. Dem Gutachten lässt sich lediglich entnehmen, dass die Anpassungen von Einkommensgrenzen und Wohngeldhöhe bisher zu selten erfolgt sind (nämlich im Abstand von sieben Jahren). Auch das sei aber nur eine vorübergehende Lösung. Die beste Lösung wäre eine Reform des gesamten Transfer-Systems, die Arbeitslosengeld 2, Wohngeld und Kinderzuschlag in ein einheitliches Transfer-System überführt, um Sprungstellen zu vermeiden und eine konstante Transferentzugsrate von 60 Prozent mit steigenden Einkommen enthält.

Überraschenderweise wird neben der Subjektförderung durch das Wohngeld auch die Objektförderung durch den Sozialen Wohnungsbau positiv konnotiert, da sie Wohnraum für Bezieher geringer und mittlerer Einkommen schafft und für die soziale Durchmischung von Stadtvierteln sorgen kann. Explizit wird hier das Bayerische Wohnraumfördergesetz hervorgehoben, da hier der Mietzuschuss, den die Unternehmen erhalten, nach der Einkommenshöhe der Mieter gestaffelt ist, regelmäßige Einkommensüberprüfungen stattfinden und die Einkommensgrenzen recht hoch angesetzt sind, aber zugleich für alle Einkommensgruppen Quoten eingehalten werden müssen.

Um das Wohnungsangebot auszuweiten, muss auch mehr Bauland ausgewiesen werden. Gleichwohl spricht sich der Sachverständigenrat gegen eine gesonderte Grundsteuer (Grundsteuer C) auf unbebaute Grundstücke aus, u.a. weil neben der spekulativen Hortung von Baugrund viele andere Gründe für die Nicht-Bebauung sprechen können. Aber auch die derzeit anstehende Reform der Grundsteuer B auf Wohngrundstücke wird ausführlich kommentiert. In der Abwägung zwischen flächen- und wertorientierten Modellen plädiert der Rat für ein Hybridmodell, das zum einen den grundlegenden Besteuerungsprinzipien der steuerlichen Leistungsfähigkeit und der Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen (Äquivalenzprinzip) gerecht wird, zum anderen aber soziale Segregationseffekte vermeidet. Eine ausschließlich an Werten orientierte Steuer würde dagegen den Trend zu hohen Mieten in guten Lagen noch verstärken.

Darüber hinaus spricht sich der Rat für einen Abbau von Regulierungen aus, übrigens auch im Bereich der Energieeffizienz-Richtlinie. Besser wäre es, Energiesparanreize über einen einheitlichen CO2-Preis zu setzen, der auch den Wohnungssektor einbezieht.

Erleichterungen für den privaten Wohnungserwerb könnten durch einen Freibetrag bei der Grunderwerbssteuer geschaffen werden. Auch Notar- und Grundbuchkosten tragen mit im Durchschnitt 1,5 bis 2 Prozent des Kaufpreises erheblich zu den Kosten des Immobilienerwerbs bei. Hier gibt das Gutachten lediglich den lapidaren Hinweis: „Die staatlich festgelegten Gebührenordnungen sollten kritisch geprüft werden.“ Kritisch setzt sich das Gutachten mit der Förderung des Immobilienerwerbs durch das Baukindergeld auseinander, insbesondere weil damit erhebliche Mitnahmeeffekte verbunden seien und die Befristung auf drei Jahre in eine Phase stark ausgelasteter Kapazitäten in der Bauwirtschaft falle. Die Förderung trage damit zur weiteren Überhitzung des Marktes bei. Als Alternative zu Einzelmaßnahmen wie dem Baukindergeld spricht der Rat – leider nur kurz – eine integrierte Förderung des Immobilienerwerbs in die Förderung der privaten Vermögensbildung an. So ist zum Beispiel in der Schweiz der Vorbezug von Mitteln der betrieblichen Altersvorsorge zum Erwerb einer selbstgenutzten Immobilie möglich.

Dauerbaustelle Gesundheitswesen

Zum wiederholten Male analysiert der Sachverständigenrat die Probleme im Gesundheitswesen. Auf diesen Sektor kommen durch die Alterung der Bevölkerung, die steigende Lebenserwartung und den medizinisch-technischen Fortschritt große Herausforderungen zu. Dazu müsse die Effizienz im Gesundheitswesen durch mehr Wettbewerb gesteigert werden, und es müssten Fachkräfte in erforderlichem Umfang zur Verfügung stehen. Schließlich kann auch in diesem Sektor die Digitalisierung einen erheblichen Beitrag zur Deckung der Bedarfe und zur Effizienzsteigerung leisten.

Gemessen am Durchschnitt der OECD-Länder sind die Deutschen sehr gut medizinisch versorgt, Gesundheitsausgaben, Pfleger, Ärzte und Krankenhausbetten je Kopf liegen deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Dem steht aber keine längere Lebenserwartung gegenüber, was zum Teil durch höhere verhaltensbedingte gesundheitliche Risiken (Alkoholkonsum, Rauchen, Fettleibigkeit) erklärt werden kann. Die Diskrepanz zwischen Mitteleinsatz und Ergebnis weise aber auch auf Effizienzdefizite hin. Das auf Sachleistungen basierende gesetzliche Krankenversicherungssystem schafft möglicherweise Anreize zu risikoreicherem und wenig kostenbewusstem Handeln der Versicherten. Darüber hinaus sei der Markt typischerweise durch erhebliche Informationsasymmetrien zwischen Arzt und Patienten geprägt, sodass Patienten den Nutzen von Zusatzangeboten der Ärzte nur schwer abschätzen könnten. Die weitgehende Trennung zwischen ambulantem und stationärem Sektor ist nach Ansicht der Sachverständigen eine weitere Ursache für Effizienzverluste. Insgesamt sei das Gesundheitssystem in Deutschland „in Teilen überversorgt“ (TZ 810), auch wenn zugleich in Einzelfällen (Fachrichtungen, Regionen) Versorgungsdefizite vorliegen könnten.

Bereits in naher Zukunft dürfte sich der Fachkräftemangel im Gesundheitssektor drastisch verschärfen. Dazu tragen sowohl die alterungsbedingt steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen als auch das aus denselben Gründen sinkende Angebot an Arbeitskräften bei. Nach den Projektionen einer vom Rat in Auftrag gegebenen Detailanalyse ergibt sich aus einer reinen Trendfortschreibung eine Lücke von 1,3 Millionen Fachkräften im Gesundheitswesen bis 2030. Allein steigende Löhne können dieses Problem nicht lösen. Aus diesem Grund spricht sich der Rat für eine verstärkte Anwerbung qualifizierter Fachkräfte im Ausland aus. Darüber hinaus müsse die Attraktivität der Pflegeberufe durch bessere Entlohnung, weniger Bürokratie und günstigere Betreuungsschlüssel gesteigert werden. Auch könne die durchschnittliche Arbeitszeit je Beschäftigten durch Verlängerung der Arbeitszeiten von Teilzeitbeschäftigten erhöht werden, wenn es diesen zum Beispiel durch Ausbau der Ganztageskinderbetreuung gelänge, Familie und Beruf besser miteinander in Einklang zu bringen.

Schließlich könne auch die Digitalisierung in verschiedenen Bereichen dazu beitragen, die Versorgung zu verbessern. Der deutsche Gesundheitssektor ist hier sowohl gegenüber anderen Wirtschaftszweigen als auch gegenüber dem EU-Durchschnitt im Rückstand. Die Digitalisierung kann sowohl in der Prävention (Vorbeugung, schnelle Erkennung von Krankheitsbildern) als auch in der Behandlung (Telemedizin) gute Dienste leisten. Zudem können vernetzte Assistenzsysteme in der Pflege von Nutzen sein. E-Health-Anwendungen und auch der digitale Austausch von Patientendaten bieten also viele Möglichkeiten der Effizienzsteigerung. Allerdings weist der Rat auch auf die Gefahren hin, etwa wenn Datenerfassung seitens der Ärzte als Kontrollinstrument interpretiert wird oder Krankenversicherungen über immer spezifischere Risikoprofile ihrer Versicherten das Versicherungsprinzip letztlich aushebeln. Insgesamt warnt das Gutachten, die Potenziale der Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht zu überschätzen.

Auch in seiner aktuellen Analyse empfiehlt der Rat wieder, die Finanzierungsstrukturen im Gesundheitssystem zu ändern. Zum einen wirbt er abermals für das Konzept der einkommensunabhängigen Bürgerpauschale mit steuerfinanziertem Sozialausgleich für die Krankenkassen. Die Zusatzbeiträge der Krankenkassen stellten einen ersten Schritt in diese Richtung dar, sie haben nach Ansicht des Rates durch die höhere Preistransparenz den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen bereits intensiviert. Unklar bleibt hier allerdings, warum die seit 2015 wieder einkommensabhängigen Zusatzbeiträge als Einstieg in ein einkommensunabhängiges System gewertet werden und warum die Preistransparenz hier erheblich höher sein soll als in einem System mit unterschiedlichen Beitragssätzen der Krankenkassen.

Abschließend wiederholt der Sachverständigenrat seine Forderung, die Krankenhausfinanzierung von der dualen Finanzierung der Investitionskosten durch die Bundesländer und der Betriebskosten durch die Krankenhäuser auf eine einheitliche (monistische) Finanzierung umzustellen, um eine effizientere Planung der Ausgaben zu gewährleisten.

Das Gutachten steht unter www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de zum Download bereit.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, herausgegeben von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, ISSN 2366-021X

DRUCKEN
DRUCKEN