Dr. Paul Jansen
Ministerialdirektor a. D.

Im Rahmen einer „Pflegereform 2021“ will der Bundesminister für Gesundheit Jens Spahn noch in dieser Legislaturperiode grundlegende Änderungen im Bereich Pflege auf den Weg bringen. Vorgesehen sind dabei sowohl deutlich verbesserte Pflegeleistungen als auch eine veränderte Finanzierung. Die Vorstellungen bedeuten einen Bruch mit bisherigen Grundsätzen der sozialen Pflegeversicherung.

Die vorgesehenen Maßnahmen des Bundesgesundheitsministers im Rahmen der „Pflegereform 2021“ ebnen den „Weg für Vollkasko in der Pflege“.1Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 2020. Erhebliche Kostensteigerungen mit ungeklärter Finanzierung würden zu einer weiteren Last für die jüngere Generation.

Entwicklung der sozialen Pflegeversicherung

Die Pflegepflichtversicherung in Deutschland wurde zum 1. Januar 1995 eingeführt. Vorausgegangen waren lange und heftige politische Debatten um den „richtigen“ Weg zum Umgang mit dieser gesellschaftlichen Herausforderung, vor allem auch in der CDU und CSU. Statt kapitalgedeckter Vorsorge fiel die Entscheidung für eine Umlagefinanzierung.

Konzipiert wurde die soziale Pflegeversicherung als eine nicht bedarfsdeckende Grundsicherung nach dem Prinzip „ambulant vor stationär“ und ohne den Anspruch, weder im häuslichen noch im stationären Bereich den gesamten Bedarf bei Pflegebedürftigkeit abzudecken. In den im 4-Jahres-Rhythmus vorzulegenden Berichten des Bundesministeriums für Gesundheit an den Deutschen Bundestag findet sich entsprechend durchgehend der Hinweis, dass die Pflegeversicherung keine Vollversicherung sei, die alle Kosten im Zusammenhang mit der Pflegebedürftigkeit übernimmt.

Die Zahl der Leistungsempfänger wie auch die Einnahmen und Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung zeigen eine ausgeprägte Entwicklungsdynamik. Dahinter stehen fortgesetzte und vielfältige Leistungserweiterungen, vor allem mit den Pflegestärkungsgesetzen (PSG I und II) von 2015 und 2017. Wenige Zahlen veranschaulichen dies. Gemessen an den gegenüber dem Ausgangsjahr 1995 aussagekräftigeren Zahlen des Jahres 1996

  • hat sich die Zahl der Leistungsempfänger bis 2019 von 1,546 Millionen um 2,453 Millionen (plus 158 Prozent) auf 3,999 Millionen erhöht. Gut die Hälfte des Zuwachses entfiel dabei auf die drei Jahre 2017 bis 2019, maßgeblich als Folge des PSG II mit einem erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriff (seither werden fünf Grade der Pflegebedürftigkeit statt der vormaligen drei Pflegestufen unterschieden);
  • sind die Beitragseinnahmen im selben Zeitraum von 11,9 Milliarden Euro auf 46,5 Milliarden Euro (plus 291 Prozent) und die Leistungsausgaben von 10,3 Milliarden Euro auf 40,7 Milliarden Euro (plus 297 Prozent) angestiegen. Allein von 2017 bis 2019 erhöhten sich die Ausgaben um 12,4 Milliarden Euro;
  • stieg der Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung von 1,7 Prozent in Stufen auf 2,05 Prozent, bevor er 2015 auf 2,35 Prozent, 2017 auf 2,55 Prozent und 2019 auf 3,05 Prozent des beitragspflichtigen Entgelts in der Kranken- und Pflegeversicherung angehoben wurde. Von Kinderlosen wird seit 2005 ein Zusatzbeitrag von 0,25 Prozent erhoben.

Die mit den beiden Pflegestärkungsgesetzen beschlossenen Verbesserungen folgten der im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD im Dezember 2013 vereinbarten Linie. Mit Blick auf die erwarteten Kostenfolgen enthielt der Koalitionsvertrag auch konkrete Aussagen zur Finanzierung. Entsprechend wurden die beiden vorgesehenen Anhebungen des Beitragssatzes um 0,3 Prozentpunkte (2015) und 0,2 Prozentpunkte (2017) auch umgesetzt.

Es stellte sich dann aber bald heraus, dass der Finanzierungsbedarf durch die stark wachsende Zahl der Leistungsempfänger und die vorgenommenen Leistungserweiterungen/-verbesserungen deutlich unterschätzt worden war. Mit Beginn der neuen Wahlperiode – Jens Spahn war inzwischen Hermann Gröhe als Bundesminister für Gesundheit nachgefolgt – galt es deshalb, den Beitragssatz weiter anzuheben. Dies geschah mit dem Pflegeversicherungs-Beitragssatzanpassungsgesetz 2019 – die Erhöhung um weitere 0,5 Prozentpunkte auf die derzeitigen 3,05 Prozent seit Januar 2019.

Laufende Wahlperiode des Deutschen Bundestages

Wenige Monate vorher war der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD für die laufende Legislaturperiode beschlossen worden. Ähnlich wie der Koalitionsvertrag von 2013 enthält auch der von 2018 weitreichende Erklärungen zur Pflege. Eingangs heißt es im Text: „In der vergangenen Legislaturperiode haben wir die Pflegeversicherung mit den Pflegestärkungsgesetzen grundlegend reformiert. Auch in den kommenden Jahren werden wir nicht nachlassen, die Pflege und die häusliche Versorgung zu verbessern, die Unterstützung für pflegende Angehörige auszubauen und die Arbeitsbedingungen von Fachkräften und Betreuern in der Pflege so attraktiv zu machen, dass ausreichend Menschen den Pflegeberuf ergreifen, beibehalten und damit die Versorgung sicherstellen.“ Anders als im Koalitionsvertrag von 2013 fehlen allerdings Aussagen, wie diese Maßnahmen finanziert werden sollen.

In einem ersten Schritt wurde Ende 2018 das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz beschlossen. Es ermöglicht die Einstellung von bis zu 13.000 zusätzlichen Pflegefachkräften in der Altenpflege – mit Finanzierung weitgehend über die gesetzliche Krankenversicherung (im Gesetzentwurf ist von 640 Millionen Euro ab 2019 für die Finanzierung der zusätzlichen Stellen in Pflegeheimen die Rede). Bundesminister Spahn erkannte in diesem Gesetz „ein ganz wichtiges Zeichen für die Pflege in Deutschland“ und bezeichnete es als „größte(n) Schritt in der Pflege seit 20 Jahren“.2Debatte im Deutschen Bundestag vom 9. November 2018.

Um die Kräfte zur Umsetzung der Ziele des Koalitionsvertrags zu bündeln, haben – auf gemeinsame Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – Bund, Länder, Kommunen und alle relevanten Akteure die „Konzertierte Aktion Pflege“ (KAP) ins Leben gerufen. In deren Rahmen erfolgte im Juni 2019 die Verständigung auf ein umfassendes Maßnahmenpaket für mehr Ausbildung, mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Entlohnung.3Vgl. Abschlussbericht der Konzertierten Aktion Pflege, Juni 2019.

Im November 2020 haben die Ministerin und die beiden Minister der drei Ressorts den ersten Umsetzungsbericht der KAP vorgelegt. Er zeigt ein zügiges Vorankommen in den verschiedenen Arbeitsfeldern. Beispielhaft erwähnt seien Verbesserungen in der Entlohnung4Der Einsatz für eine bessere Entlohnung könnte dahin fehlgedeutet werden, dass pflegerische Tätigkeit allgemein schlecht bezahlt wird. Allerdings zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Trägern der Altenpflege (https://www.pflege-online.de/Altenpflege-welche-traeger-richtig-gutes-gehalt-zahlen vom 10. August 2020). Wäre Pflege durchgehend schlecht bezahlt, hätte es kaum die Verdoppelung der Beschäftigtenzahlen in den letzten rund 20 Jahren gegeben. In der Ausbildung stehen die Pflegefachfrau und der Pflegefachmann inzwischen sogar an vorderer Stelle der bestbezahlten Berufe. sowie der Personalbemessung und -gewinnung:

  • Das Ende 2019 verabschiedete Pflegelöhneverbesserungsgesetz sieht kontinuierlich steigende und ab 1. September 2021 bundesweit einheitliche Mindestlöhne von 12,50 Euro pro Stunde für qualifizierte Pflegehilfskräfte und ab 1. Juli 2021 von 15 Euro pro Stunde für Pflegefachkräfte vor. Für Pflegebedienstete soll es zudem neben dem gesetzlichen Urlaubsanspruch einen Anspruch auf zusätzlichen bezahlten Urlaub geben. Nach den Vorstellungen von Bundesminister Spahn soll „Pflege regelhaft besser entlohnt werden. Dafür soll … die Zahlung einer Entlohnung nach Tarif sozialrechtlich verankert werden.“5Ziffer 5.5 des ersten Umsetzungsberichts der Konzertierten Aktion Pflege, November 2020.
  • Der Tarifabschluss 2020–2022 für den Öffentlichen Dienst begünstigt die Beschäftigten in Krankenhäusern sowie Pflege- und Betreuungseinrichtungen durch vereinbarte Zulagen besonders. Neu eingeführt wurde eine Pflegezulage. Sie beträgt ab März 2021 monatlich 70 Euro, ein Jahr später wird sie auf 120 Euro monatlich angehoben. Die Intensivzulage in den kommunalen Krankenhäusern wird ab März 2021 von 46,02 Euro auf 100 Euro mehr als verdoppelt. Zugleich wird die Zulage für Beschäftigte, die ständig Wechselschicht leisten, ab März 2021 von 105 Euro monatlich auf 155 Euro monatlich erhöht.
  • Bis zu 20.000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte in der stationären Altenpflege sollen durch das Ende November 2020 vom Deutschen Bundestag beschlossene Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz geschaffen werden. Auf der Basis gewonnener Erkenntnisse zur Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen soll dies ein erster Schritt hin zu einer bedarfsgerechten Personalausstattung sein. Die Kostenfolgen für die soziale Pflegeversicherung werden im Gesetzentwurf mit 340 Millionen Euro für 2021 und 680 Millionen Euro für die Folgejahre beziffert.

Andere Stichworte des ersten Umsetzungsberichts sind die Gründung der Deutschen Fachagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe, die die Gewinnung internationaler Pflegekräfte unterstützt, sowie die „Ausbildungsoffensive Pflege“ (2019–2023), unter anderem mit neuen Pflegeausbildungen seit 2020 und der neu eingeführten Hochschulbildung mit aktuell rund 30 Studiengängen.

Begünstigt durch eine Öffentlichkeit, die dem Gesundheitssektor in dieser Corona-belasteten Zeit besondere Aufmerksamkeit und Wertschätzung sichert, dürfen die politischen Akteure, voran der Bundesminister für Gesundheit, auf Zustimmung der Bevölkerung bei allen Maßnahmen rechnen, die das Gesundheitswesen im Allgemeinen und die Pflege im Besonderen zu stärken geeignet erscheinen. Die Frage nach den Kostenfolgen und den Trägern der entstehenden Lasten bleibt im Hintergrund.

Erkennbar ist aber das Bestreben, die Beiträge der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen zur Finanzierung der Pflegekosten gering zu halten oder zu begrenzen. So bestimmt das Angehörigen-Entlastungsgesetz vom November 2019, dass Kinder (und Eltern), die gegenüber Beziehern von Sozialhilfe unterhaltsverpflichtet sind, künftig erst ab einem Jahresbruttoeinkommen von 100.000 Euro zur Mitfinanzierung ihrer pflegebedürftigen Eltern (und Kinder) beitragen sollen. Und auch die einzige Aussage zur „Finanzierung“ im ersten Umsetzungsberichts der KAP zeigt die Richtung: „Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Pflegebedürftigen mit den von ihnen zu tragenden Eigenanteilen finanziell nicht überfordert werden dürfen. … Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat zur betragsmäßigen und zeitlichen Begrenzung von Eigenanteilen Überlegungen vorgelegt, welche aktuell diskutiert werden.“6Ziffer 5.6 des ersten Umsetzungsberichts der Konzertierten Aktion Pflege, November 2020.

Eckpunkte der Pflegereform 2021

Dies leitet unmittelbar über zur „Pflegereform 2021“, die nach Absicht von Bundesminister Spahn noch in der laufenden Wahlperiode auf den Weg gebracht werden soll. Geleitet sind seine Vorstellungen von der These: „Pflege ist die soziale Frage der 20er Jahre“.7Interview Bild am Sonntag vom 4. Oktober 2020. Eckpunkte der Reform sind in einem Papier des Gesundheitsministeriums mit Stand 4. November 2020 beschrieben: „Pflegeversicherung neu denken: Eckpunkte der Pflegereform 2021“. In den Worten des Ministers soll die Reform auf drei Säulen beruhen:

  • „Der Eigenanteil für die Pflege im Heim soll gedeckelt werden. Künftig soll niemand für stationäre Pflege länger als 36 Monate mehr als 700 Euro pro Monat zahlen. Der Eigenanteil für Pflege umfasst nicht die Kosten für Unterkunft und Verpflegung.
  • Die Pflege zu Hause soll verbessert werden und einfacher zu organisieren sein. Deshalb soll ein jährliches Pflegebudget eingeführt werden, mit dem Kurzzeit- und Verhinderungspflege gezahlt wird (gilt für Pflegebedürftige ab Pflegegrad 2). Wer Angehörige zu Hause pflegt, soll außerdem mehr Leistungen bekommen. Pflegegeld und Pflegesachleistungen sollen kontinuierlich nach festen Sätzen erhöht werden.
  • Pflege soll regelhaft besser entlohnt werden. Dafür sollen nur die ambulanten Pflegedienste und Pflegeheime zugelassen werden, die nach Tarif oder tarifähnlich bezahlen.“

Hinter diesen Säulen verbergen sich Vorstellungen, die auf einen deutlichen Bruch mit bisherigen Grundsätzen der sozialen Pflegeversicherung hinauslaufen und überdies geeignet sind, die Pflegeversicherung für alle Beteiligten zu einem unkalkulierbaren Risiko werden zu lassen.

  • Die im Interesse aller Pflegebedürftigen – ob häuslich oder stationär – gewiss begrüßenswerten Fortschritte bei der Gewinnung von qualifiziertem Pflegepersonal durch verbesserte Stellenausstattung und höhere Entlohnung führt auf der anderen Seite zu einem überdurchschnittlichen Anstieg der Personalkosten. Dieser wird sich – zumal bei der Vorgabe einer Bezahlung nach Tarif oder tarifähnlich – fortsetzen, zumindest solange, als ein Mangel an Pflegepersonal konstatiert wird. Dabei hat sich die Zahl der Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen (ambulant und stationär) nach den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes8Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2019 – Deutschlandergebnisse, 15. Dezember 2020. von 1999 bis 2019 bereits verdoppelt – auf 1,218 Millionen Beschäftigte oder umgerechnet rund 865.000 Vollzeitkräfte. Wenn man bedenkt, dass mehr als 70 Prozent der Kosten von Pflegeeinrichtungen auf Personalausgaben entfallen, vermitteln die Zahlen ansatzweise eine Vorstellung von den zu finanzierenden Mehrausgaben bei überdurchschnittlich steigender Entlohnung und zugleich beschleunigtem Personalzuwachs.
  • Die Deckelung der Eigenanteile für die Pflege im Heim auf 700 Euro monatlich bei Begrenzung der Zahlungspflicht auf längstens drei Jahre lässt sowohl bei den Anbietern als auch bei den Nachfragern von Pflegeleistungen Kostenaspekte in den Hintergrund treten. Wenn, was heute schon in vielen Gegenden Deutschlands der Fall ist, der Eigenanteil für stationäre Pflege oberhalb von 700 Euro monatlich liegt, wird sowohl seitens der Pflegeeinrichtungen als auch seitens derer, die einen Pflegeplatz suchen, der Anreiz zu kostengünstigen Lösungen und zur Kostendisziplin ausgehöhlt. In kürzester Zeit dürften so die von dritter Seite (soziale Pflegeversicherung/öffentliche Haushalte) zu finanzierenden Differenzbeträge beträchtliche Größenordnungen erreichen.
  • Weiter verstärkt würde dieser Effekt durch die als Folge einer Begrenzung der Eigenanteile möglichen Verschiebungen zwischen häuslicher und stationärer Pflege. Die Deckelung kann – trotz erweiterter Leistungen auch in der häuslichen Pflege – für die, die sich in einer schwierigen häuslichen Pflegesituation befinden, Anreiz sein, sich in eine in den Kostenfolgen nun kalkulierbare stationäre Pflege zu begeben. Das gilt umso mehr dann, wenn – ebenfalls der Vorstellung von Bundesminister Spahn entsprechend – die von den stationär Pflegebedürftigen zu leistenden Beiträge zu den Investitionskosten künftig durch Zahlungen von Länderseite gemindert würden (monatlicher Zuschuss von 100 Euro je vollstationär Versorgtem). In den Jahren 2018 und 2019 wurden jeweils knapp 79 Prozent der Pflegebedürftigen ambulant, gut 21 Prozent stationär versorgt. Die Leistungsausgaben für die stationäre Pflege liegen nach den Faustformeln des Bundesgesundheitsministeriums bei ungefähr dem Zweieinhalbfachen der häuslichen Pflege. Anteilsverschiebungen hin zu mehr stationärer Pflege wären daher ein zusätzlicher Kostentreiber.
  • Die Zahl der – häuslich oder stationär – Pflegebedürftigen wird unabhängig von einer Pflegereform aus demographischen Gründen weiter deutlich wachsen. So wird sich die Zahl der über 80-Jährigen in Deutschland binnen der nächsten 20 Jahre um rund 30 Prozent erhöhen. Für diesen Personenkreis lag nach Berechnungen des Gesundheitsministerium die Pflegewahrscheinlichkeit bei zuletzt 38,5 Prozent. Aber auch die Zahl der 60- bis unter 80-Jährigen, für die das Ministerium eine Pflegewahrscheinlichkeit von 7,5 Prozent ermittelt hat, wird steigen. Ein erweitertes Leistungsangebot im Zuge der Pflegereform würde – wie die Erfahrungen mit den beiden Pflegestärkungsgesetzen von 2015 und 2017 zeigen – zusätzliche Nachfrage nach Pflegeleistungen schaffen. Damit besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für weitere Mehrausgaben in der Pflege.
  • Fortlaufende Mehrausgaben für die soziale Pflegeversicherung/die öffentlichen Haushalte wären des Weiteren Folge der vorgesehenen Dynamisierung von Leistungen. Bei der häuslichen Pflege sollen Pflegegeld und Pflegesachleistungen kontinuierlich nach festen Sätzen erhöht werden. Bei der stationären Pflege würde der Dynamisierungseffekt von der Kappungsgrenze der monatlichen Zuzahlung von 700 Euro verdeckt und gänzlich unsichtbar, sobald auch die kostengünstigste stationäre Pflegeeinrichtung einen Eigenbeitrag von 700 Euro erhebt – er wäre gleichwohl aber wirksam. Es würde zugleich ein Novum auf dem weiten Feld staatlicher Transferzahlungen geschaffen. Bislang hat der Gesetzgeber keine derartig weitreichenden Regelungen für automatisch wirksam werdende Leistungsanpassungen in Kraft gesetzt. Aus gutem Grund sollte es auch hier bei diskretionären Entscheidungen bleiben.

Abschätzung der Kostenfolgen

Nach dem deutlichen Anstieg der Leistungsausgaben der Pflegeversicherung durch die Pflegestärkungsgesetze von 2015 und 2017 würden die jetzt von Bundesminister Spahn angestrebten Entscheidungen zu einem noch deutlicheren Kostenanstieg führen. Durch die drei eingebauten Dynamisierungsfaktoren (demographische Entwicklung mit fortgesetzt wachsendem Pflegepersonalbedarf bei strukturell verbesserter Entlohnung, gedeckelte Eigenanteile der Pflegebedürftigen, kontinuierliche Erhöhung von Pflegegeld und Pflegesachleistungen) wären zudem weitere laufende Kostensteigerungen programmiert.

Eine Abschätzung dieser Kostenfolgen fehlt jedoch. Für die parlamentarische Beratung eines entsprechenden Gesetzes ist sie allerdings vorgeschrieben. Zugleich ist sie leistbar, denn alle vorgenannten Ableitungen lassen sich in konkrete Annahmen und Bewertungen fassen.

Absehbar ist, dass eine Finanzierung der Mehrkosten über höhere Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung eine kräftige Erhöhung des Beitragssatzes erforderlich machen würde: von den aktuell 3,05 Prozent rasch in Richtung 4 Prozent und in der Perspektive deutlich darüber hinaus. Dies kommt, abgesehen vom Wahljahr, aus zwei Gründen ungelegen:

Erstens soll eine Mehrbelastung der Beitragszahler nach Möglichkeit vermieden werden. Ein Beitragssatz von 4 Prozent entspräche einer Beitragserhöhung um rund ein Drittel. Der aktuelle Höchstbeitrag von 142,96 Euro monatlich ab einem Einkommen von 4.687,50 Euro würde sich um 44,54 Euro auf 187,50 Euro monatlich (beim Satz von 4 Prozent) erhöhen.

Zweitens würde das von der Bundesregierung verfolgte Ziel, die Lohnnebenkosten auf höchstens 40 Prozent des versicherungspflichtigen Einkommens zu begrenzen, durch eine Anhebung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung verletzt. Unter Hinweis darauf, dass der 40-Prozent-Rahmen bereits voll ausgeschöpft ist, ist für die soziale Pflegeversicherung lediglich eine Anhebung des Beitragssatzes für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent angedacht. Das zu erwartende, begrenzte Mehraufkommen soll allerdings voll in den 2015 eingerichteten Pflegevorsorgefonds fließen und nicht der Deckung der laufenden Ausgaben dienen (Mittelbestand des Fonds Ende 2019: 7,18 Milliarden Euro).

Angestrebte Finanzierung aus dem Bundeshaushalt

Um den allgemeinen Beitragssatz zur Pflegeversicherung nicht anheben zu müssen, schwebt Bundesminister Spahn eine Finanzierung aus dem Bundeshaushalt, also durch die Steuerzahler, vor. Den Mittelbedarf aus der Reform beziffert er – ohne dies näher herzuleiten – mit ungefähr 6 Milliarden Euro pro Jahr: rund 3 Milliarden Euro durch Deckelung der Eigenanteile, rund 2 Milliarden Euro wegen besserer Bezahlung der Pflegekräfte und rund 1 Milliarde Euro für Mehrleistungen in der häuslichen Pflege.9 Interview Bild am Sonntag vom 4. Oktober 2020.

Wie sich dieser Einstieg in eine Finanzierung über Steuern statt über Beitragserhöhungen entwickeln könnte, hat das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherung unter Zugrundelegung der genannten Mehrkosten von 6 Milliarden Euro und der weiterlaufenden demographischen Entwicklung untersucht. Es beziffert die vom Bundeshaushalt zu schulternde Last für die Jahre von 2021 bis 2030 mit insgesamt rund 109 Milliarden Euro, allein für das Eckjahr 2030 mit gut 16 Milliarden Euro.10Frank Wild, Abschätzung der in Zukunft benötigten Steuermittel für die geplante Pflegereform des Bundesministers für Gesundheit, Wissenschaftliches Institut der PKV, WIP-Kurzanalyse Oktober 2020. Das entspräche aktuell mehr als einem vollen zusätzlichen Beitragspunkt zur gesetzlichen Pflegeversicherung. Dabei dürfte schon der Ausgangsbetrag von 6 Milliarden Euro tatsächlich höher liegen; Bernd Raffelhüschen, Leiter des Forschungszentrums Generationenverträge an der Universität Freiburg, sieht ihn eher bei 7 bis 8 Milliarden Euro.11Zitiert nach Stiftung Marktwirtschaft, Soziale Pflegversicherung: Geplante Vollversicherung ist das falsche Signal, Oktober 2020.

Nicht nur für die Pflegeversicherung, sondern für alle Zweige der Sozialversicherung gilt, dass sie vor wachsenden Ungleichgewichten zwischen Einnahmen und Ausgaben stehen. In besonderer Weise betrifft das die gesetzliche Krankenversicherung, deren Finanzen die Frankfurter Allgemeine Zeitung „vor der Explosion“ sieht.12Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 2020, Seite 15. Der Hauptgrund dafür liegt nach Einschätzung der Krankenversicherungen in „der finanziellen Wucht der Spahnschen Gesetze“.13Martin Litsch, Chef des AOK-Bundesverbandes, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. November 2020. Durch deren erhebliche Kostenfolgen drohe ein Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbetrags zur gesetzlichen Krankenversicherung von 1,3 auf 2,5 Prozent. Damit würde die Begrenzungslinie von 40 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Einkommens überschritten. Um dies zu verhindern, wurde mit dem oben erwähnten Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz ein ergänzender einmaliger Bundeszuschuss von 5 Milliarden Euro für das Jahr 2021 beschlossen, des Weiteren die Zuführung von 8 Milliarden Euro aus den Finanzreserven der gesetzlichen Krankenkassen an den Gesundheitsfonds.

Es ist allerdings völlig ausgeschlossen, dass hier wie dort dauerhafte Finanzierungen aus dem Bundeshaushalt die Lösung bringen könnten.

  • Auf den Bereich Soziale Sicherung entfiel in den letzten Jahren bereits gut die Hälfte der Ausgaben des Bundeshaushalts (2019: 177,1 Milliarden Euro von 343,2 Milliarden Euro); allein etwa ein Drittel dient der Finanzierung der Sozialversicherungen (2019: 119 Milliarden Euro), besonders der Allgemeinen Rentenversicherung (2019: 89,2 Milliarden Euro). Weil sich die über Jahrzehnte immer weiter angewachsenen Ausgaben für Soziales jährlicher politischer Gestaltung weitgehend entziehen, hat sich die Struktur des Bundeshaushalts zunehmend verfestigt. Der Haushaltsmittelanteil, der zur Aufgabenerledigung in allen sonstigen Politikbereichen verbleibt, ist entsprechend kleiner geworden, zumal bei Einhaltung der Vorgaben der Schuldenbremse. Jede weitere Erhöhung des Anteils der Sozialausgaben würde den politischen Gestaltungsspielraum der Bundesregierung weitergehend einengen.
  • Die Grenzen der Schuldenbremse, wie sie in normalen Zeiten gelten, dürfen wegen der Ausnahmesituation der Corona-Krise überschritten werden; Einnahmen und Ausgaben des Bundeshaushalts driften derzeit wie nie zuvor und in bis vor Kurzem unvorstellbarer Weise auseinander. Das Jahr 2020 wird mit der weitaus höchsten Nettokreditaufnahme der deutschen Nachkriegsgeschichte abschließen, der 2. Nachtragshaushalt 2020 weist einen Fehlbetrag im Bundeshaushalt von 218 Milliarden Euro aus. Und der aktuell beschlossene Bundeshaushalt 2021 ist mit einem Defizit von rund 180 Milliarden Euro geplant. In nur zwei Jahren würde sich damit die zuvor über Jahrzehnte angewachsene Verschuldung des Bundes von 1.078 Milliarden Euro Ende 2019 um mehr als ein Drittel erhöhen.
  • Bei dieser Ausgangslage in der kommenden Wahlperiode des Deutschen Bundestages wieder zum Bundeshaushalt, wie er für Normalzeiten vorgesehen ist, zurückzufinden, wird eine nie dagewesene Herkulesaufgabe sein. Sie wird – wenn überhaupt – ohne veränderte Weichenstellungen auf der Einnahmen- wie der Ausgabenseite nicht zu leisten sein. Sie sollte keinesfalls mit einer Zementierung neuer Ausgabenverpflichtungen für die Sozialversicherungen, weder für die gesetzliche Pflegeversicherung noch für die gesetzliche Krankenversicherung, erschwert werden.14Dies gilt umso mehr, als von der Bundesrepublik Deutschland in Zukunft höhere Ausgaben für die Verteidigung zu leisten sind (zuletzt Zusage der Bundeskanzlerin an den neu gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten), höhere Ausgaben für andere dringliche politische Gestaltungsaufgaben einzuplanen sind und daneben eine sachgerechte Mittelbereitstellung für die Aufgaben der übrigen Bundesressorts zu gewährleisten ist.

Verbesserte private Vorsorge

Zur Deckung der künftigen Pflegekosten sollen die Bürger mehr als bisher private Vorsorge leisten. Um dazu weiteren Anreiz zu geben, soll nach dem Eckpunktepapier die bestehende, zum Jahresbeginn 2013 vom damaligen Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr eingeführte staatliche Förderung von 5 Euro pro Monat bei Abschluss einer privaten Pflegezusatzversicherung auf bis zu 15 Euro pro Monat erhöht werden. Nach Angaben des Verbands der Privaten Krankenversicherung verfügen aktuell rund 3,77 Millionen Menschen in Deutschland über eine private Pflegezusatzversicherung.

Eine Ergänzung der privaten Vorsorge sind tarifvertragliche Absicherungen des Pflegerisikos. Hier wurde mit dem jüngsten Tarifvertrag in der Chemischen Industrie ein Meilenstein gesetzt. Mit Monatsbeiträgen von 33,65 Euro werden 580.000 Chemie-Beschäftigte durch ihre jeweiligen Arbeitgeber ab dem 1. Juli 2021 pflegezusatzversichert. Durch die Absicherung aller Tarifbeschäftigten der Branche entfällt eine individuelle Gesundheitsprüfung.

Die Verträge sind für Leistungsaufstockungen wie auch für die Mitversicherung von Angehörigen offen, sie können zudem nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortgesetzt werden. Im Pflegefall leistet die Versicherung bei stationärer Unterbringung monatlich 1.000 Euro, bei häuslicher Pflege monatlich 300 Euro.15Pflege – aber richtig, PKV publik, Herbst 2020. Dies ist ein beispielgebender Abschluss, dem andere Tarifpartner folgen dürften.

Keine Entscheidung zur Pflegereform unter Zeitdruck

Die hohen Kosten der vorgeschlagenen Maßnahmen legen nahe, eine Pflegereform nicht unter Zeitdruck zu beschließen. Es gibt dazu auch keinen Grund, denn die These, Pflege sei die soziale Frage der 2020er Jahre, darf infrage gestellt werden. Keinem Pflegebedürftigen werden Leistungen aus dem seit 1995 stetig erweiterten Leistungskatalog verwehrt, wenn es ihm an eigenen Mitteln fehlt. Mit der „Hilfe zur Pflege“ als einer Form der Sozialhilfe bleibt das soziale Netz eng geknüpft. Heute beziehen weniger als 30 Prozent der stationär Pflegebedürftigen diese Hilfe gegenüber rund 80 Prozent bei Einführung der Pflegeversicherung.

Ein Notstand bei der Pflege besteht auch deshalb nicht, weil sich die Einkommens- und Vermögenssituation der heute Älteren sowohl im historischen Vergleich als auch in der Relation zwischen heute Älteren und Jüngeren recht positiv darstellt. Konkret auf das Risiko einer Unterbringungsnotwendigkeit in einem Pflegeheim angesprochen, gaben nicht weniger als zwei Drittel einer im Sommer dieses Jahres vom Institut der Deutschen Wirtschaft Befragten an, sie könnten sich die Eigenanteile für einen bis zu fünfjährigen Aufenthalt leisten. Rund 70 Prozent meinten, über genügend Mittel zur Finanzierung eines dreijährigen Pflegeheimaufenthalts zu verfügen.16 Pflege – aber richtig, PKV publik, Herbst 2020.

Orientierungen für eine finanzierbar bleibende Pflegeversicherung

Die gewonnene Zeit sollte genutzt werden, ein Konzept für eine Pflegereform zu entwickeln, das die Interessen der heutigen und künftigen Beitragszahler wie auch der Pflegebedürftigen gegeneinander abwägt und zum Ausgleich bringt.

Daraus ergibt sich erstens, auf den Ausbau der Pflegeversicherung zu einer Quasi-Vollversicherung zu verzichten. Die Pflegeversicherung wurde konzipiert als nicht bedarfsdeckende Grundsicherung nach dem Prinzip „ambulant vor stationär“ und ohne Anspruch, im häuslichen oder im stationären Bereich den gesamten Bedarf bei Pflegebedürftigkeit abzudecken. Dabei sollte es auch in Zukunft bleiben.

Statt immer weitergehender staatlicher Reglementierungen des Pflegebereichs, vielfach mit hoher kostentreibender Wirkung, sollte zweitens – wo immer möglich – stärker auf Eigenvorsorge und Wettbewerb als Mittel der Qualitätssicherung und Motor für bedarfsgerechte Angebote gesetzt werden. Sowohl bei den Anbietern als auch bei den Nachfragern von Pflegeleistungen gilt es, Kostenbewusstsein zu schärfen und Eigenverantwortung zu stärken. Das schließt eine Lohnfindung ein, die regionale Besonderheiten berücksichtigt. Nicht kompatibel damit sind Anpassungs- oder Dynamisierungsregeln, die es den Anbietern von Pflegeleistungen ermöglichen, Kostensteigerungen mühelos im Preis weiterzugeben, und die umgekehrt den Nachfragern eine kontinuierliche Erhöhung von Pflegegeld- und Pflegesachleistungen versprechen.

Drittens sollten die Arbeiten der „Konzertierten Aktion Pflege“ unter Wirtschaftlichkeitsaspekten erfolgen und unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Ohne eigene Kostenverantwortung wird dieses Gremium weitere Maßnahmen entwickeln und vorantreiben, die in der Öffentlichkeit mit Zustimmung rechnen können, auf die bei übergeordneter Interessenabwägung mit Blick auf die Tragfähigkeit des sozialen Netzes aber verzichtet werden sollte.

Um die Verantwortung aller für die Entwicklung der Pflegeaufwendungen sichtbar zu halten, sollte viertens von jeglicher Finanzierung aus dem Bundeshaushalt Abstand genommen werden. Die Entwicklung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung bleibt dann ein für alle erkennbarer Indikator, welches hohe Maß an Solidarität den Beitragszahlern (bereits) abverlangt wird und welche erheblichen Anstrengungen die Gemeinschaft der Beitragszahler zur Abfederung des individuellen Pflegerisikos leistet. Zugleich würde der vorgezeichnete weitere Anstieg des Beitragssatzes zur sozialen Pflegeversicherung aus demographischen Gründen zur Zurückhaltung bei neuen Leistungsversprechen mahnen. Eine Finanzierung aus dem Bundeshaushalt würde dies überdecken und die Forderungen nach Leistungsausweitung ins Grenzenlose steigen lassen.

Ein aktuelles Beispiel dafür ist der kürzlich von der Partei „Die Linke“ im Deutschen Bundestag eingebrachte Antrag „Solidarische Pflegeversicherung umsetzen“.17Bundestags-Drucksache 19/24448 vom 18. November 2020. Die Linke stellt den Finanzierungsweg über die soziale Pflegeversicherung zwar nicht infrage, geht aber bei den Vorstellungen zur Leistungsausweitung ins Extrem. Die Bundesregierung müsse, so heißt es im Antrag, „die Kostenbelastung der Menschen mit Pflegebedarf … sofort beenden“. Extrem sind auch die Vorstellungen zur Änderung und Erweiterung der Finanzierungsgrundlagen der Pflegeversicherung. Worauf das hinausläuft, hat Ludwig Erhard 1956 wie folgt formuliert: Der Versorgungsstaat ist besonders geeignet, „den Wagemut, das Leistungsstreben, die Bereitschaft zu freier Spartätigkeit, die persönliche Initiative und das Verantwortungsbewusstsein mehr und mehr zu lähmen, ohne die eine freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht existieren kann“.18Ludwig Erhard – Selbstverantwortliche Vorsorge für die sozialen Lebensrisiken, abgedruckt in: Ludwig Erhard – Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf/Wien/New York 1988, Seite 465.

Wahrung von Generationengerechtigkeit

Gleich welchen Finanzierungsweg man wählt – sei es über Beitragszahlungen oder über den öffentlichen Haushalt –, ändert dies nichts daran, dass sich das Thema der Generationengerechtigkeit umso schärfer stellt, je höher das Leistungsvolumen der sozialen Pflegeversicherung steigt. Und was für die soziale Pflegeversicherung gilt, gilt cum grano salis auch für die übrigen Zweige der Sozialversicherung. Immer weniger Beitragszahler haben in diesen umlagefinanzierten Systemen die Lasten für immer mehr Leistungsempfänger zu tragen.

Diese Last droht für unsere Kinder und Kindeskinder schier erdrückend zu werden. Sie wird auch als ungerecht empfunden werden, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die heutigen Beitragszahler für sich selbst im Ansatz nicht mehr das Leistungsniveau erwarten können, das sie heute für andere sichern – in der Pflegeversicherung noch lange Jahre auch für jene, die erst im Laufe ihres Berufslebens ab 1995 beitragspflichtig wurden, die aber vom ersten Tag an unter dem vollen Schutz dieser Absicherung standen.

Eine der wesentlichen Fragen für die Zukunft unseres Landes ist deshalb die nach einer generationengerechten Ausgestaltung unseres Steuer- und Sozial-/Abgabensystems. Sie wird auf der Tagesordnung stehen, wenn die neu gebildete Bundesregierung ab Ende 2021 vor der Aufgabe steht, wieder zu einem für Normalzeiten vorgesehenen Bundeshaushalt zurückzufinden und parallel dazu sowie abgestimmt darauf die sozialen Sicherungssysteme neu zu tarieren.

Ohne Erweiterung der Einnahmenmöglichkeiten einerseits und ohne Anpassung bisheriger Ausgabenstrukturen durch Kürzungen und Streichungen andererseits wird dies nicht gelingen. Dabei wird das eine wie das andere auf erbitterten Widerstand stoßen. Es muss sich dann zeigen, ob die Politik ihrer Verantwortung für langfristig tragfähige Rahmensetzungen gerecht werden will und kann oder ob – wie so häufig – kurzfristiges Denken die Entscheidungen dominiert.

Das Bewusstsein für die Tragweite der Aufgabenstellung ist in Politik und Gesellschaft weithin nicht vorhanden. Die jüngst in das Parteiprogramm von Bündnis 90/Die Grünen aufgenommene „Leitidee eines Bedingungslosen Grundeinkommens“ ist dafür nur ein aktueller Beleg. Insofern stehen die Chancen für einen ausgewogenen und nachhaltigen Interessenausgleich zwischen den Generationen mitnichten gut.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, herausgegeben von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, ISSN 2366-021X

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Fussnoten

  • 1
    Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 2020.
  • 2
    Debatte im Deutschen Bundestag vom 9. November 2018.
  • 3
    Vgl. Abschlussbericht der Konzertierten Aktion Pflege, Juni 2019.
  • 4
    Der Einsatz für eine bessere Entlohnung könnte dahin fehlgedeutet werden, dass pflegerische Tätigkeit allgemein schlecht bezahlt wird. Allerdings zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Trägern der Altenpflege (https://www.pflege-online.de/Altenpflege-welche-traeger-richtig-gutes-gehalt-zahlen vom 10. August 2020). Wäre Pflege durchgehend schlecht bezahlt, hätte es kaum die Verdoppelung der Beschäftigtenzahlen in den letzten rund 20 Jahren gegeben. In der Ausbildung stehen die Pflegefachfrau und der Pflegefachmann inzwischen sogar an vorderer Stelle der bestbezahlten Berufe.
  • 5
    Ziffer 5.5 des ersten Umsetzungsberichts der Konzertierten Aktion Pflege, November 2020.
  • 6
    Ziffer 5.6 des ersten Umsetzungsberichts der Konzertierten Aktion Pflege, November 2020.
  • 7
    Interview Bild am Sonntag vom 4. Oktober 2020.
  • 8
    Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2019 – Deutschlandergebnisse, 15. Dezember 2020.
  • 9
    Interview Bild am Sonntag vom 4. Oktober 2020.
  • 10
    Frank Wild, Abschätzung der in Zukunft benötigten Steuermittel für die geplante Pflegereform des Bundesministers für Gesundheit, Wissenschaftliches Institut der PKV, WIP-Kurzanalyse Oktober 2020.
  • 11
    Zitiert nach Stiftung Marktwirtschaft, Soziale Pflegversicherung: Geplante Vollversicherung ist das falsche Signal, Oktober 2020.
  • 12
    Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 2020, Seite 15.
  • 13
    Martin Litsch, Chef des AOK-Bundesverbandes, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. November 2020.
  • 14
    Dies gilt umso mehr, als von der Bundesrepublik Deutschland in Zukunft höhere Ausgaben für die Verteidigung zu leisten sind (zuletzt Zusage der Bundeskanzlerin an den neu gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten), höhere Ausgaben für andere dringliche politische Gestaltungsaufgaben einzuplanen sind und daneben eine sachgerechte Mittelbereitstellung für die Aufgaben der übrigen Bundesressorts zu gewährleisten ist.
  • 15
    Pflege – aber richtig, PKV publik, Herbst 2020.
  • 16
    Pflege – aber richtig, PKV publik, Herbst 2020.
  • 17
    Bundestags-Drucksache 19/24448 vom 18. November 2020.
  • 18
    Ludwig Erhard – Selbstverantwortliche Vorsorge für die sozialen Lebensrisiken, abgedruckt in: Ludwig Erhard – Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf/Wien/New York 1988, Seite 465.
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Fussnoten

  • 1
    Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 2020.
  • 2
    Debatte im Deutschen Bundestag vom 9. November 2018.
  • 3
    Vgl. Abschlussbericht der Konzertierten Aktion Pflege, Juni 2019.
  • 4
    Der Einsatz für eine bessere Entlohnung könnte dahin fehlgedeutet werden, dass pflegerische Tätigkeit allgemein schlecht bezahlt wird. Allerdings zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Trägern der Altenpflege (https://www.pflege-online.de/Altenpflege-welche-traeger-richtig-gutes-gehalt-zahlen vom 10. August 2020). Wäre Pflege durchgehend schlecht bezahlt, hätte es kaum die Verdoppelung der Beschäftigtenzahlen in den letzten rund 20 Jahren gegeben. In der Ausbildung stehen die Pflegefachfrau und der Pflegefachmann inzwischen sogar an vorderer Stelle der bestbezahlten Berufe.
  • 5
    Ziffer 5.5 des ersten Umsetzungsberichts der Konzertierten Aktion Pflege, November 2020.
  • 6
    Ziffer 5.6 des ersten Umsetzungsberichts der Konzertierten Aktion Pflege, November 2020.
  • 7
    Interview Bild am Sonntag vom 4. Oktober 2020.
  • 8
    Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2019 – Deutschlandergebnisse, 15. Dezember 2020.
  • 9
    Interview Bild am Sonntag vom 4. Oktober 2020.
  • 10
    Frank Wild, Abschätzung der in Zukunft benötigten Steuermittel für die geplante Pflegereform des Bundesministers für Gesundheit, Wissenschaftliches Institut der PKV, WIP-Kurzanalyse Oktober 2020.
  • 11
    Zitiert nach Stiftung Marktwirtschaft, Soziale Pflegversicherung: Geplante Vollversicherung ist das falsche Signal, Oktober 2020.
  • 12
    Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 2020, Seite 15.
  • 13
    Martin Litsch, Chef des AOK-Bundesverbandes, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. November 2020.
  • 14
    Dies gilt umso mehr, als von der Bundesrepublik Deutschland in Zukunft höhere Ausgaben für die Verteidigung zu leisten sind (zuletzt Zusage der Bundeskanzlerin an den neu gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten), höhere Ausgaben für andere dringliche politische Gestaltungsaufgaben einzuplanen sind und daneben eine sachgerechte Mittelbereitstellung für die Aufgaben der übrigen Bundesressorts zu gewährleisten ist.
  • 15
    Pflege – aber richtig, PKV publik, Herbst 2020.
  • 16
    Pflege – aber richtig, PKV publik, Herbst 2020.
  • 17
    Bundestags-Drucksache 19/24448 vom 18. November 2020.
  • 18
    Ludwig Erhard – Selbstverantwortliche Vorsorge für die sozialen Lebensrisiken, abgedruckt in: Ludwig Erhard – Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf/Wien/New York 1988, Seite 465.