Am 10. Oktober 2018 wurde Zanny Minton Beddoes, Chefredakteurin der Zeitschrift „The Economist“, in Berlin mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. In ihrer Preisrede stellt sie fest, dass die Liberalen mit ihren Überzeugungen in die Defensive geraten sind. Es gebe viel zu tun: Der Liberalismus müsse sich gewissermaßen neu erfinden, ähnlich wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Sehr geehrte Mitglieder der Ludwig-Erhard Stiftung, verehrte Gäste, es ist mir eine große Freude, heute Abend vor einem so hochrangigen Publikum eine Auszeichnung entgegenzunehmen, die den Namen Ludwig Erhards trägt. Zweifellos war Dr. Erhard einer der großen Vertreter des Liberalismus des 20. Jahrhunderts. Sein Vertrauen in den freien Wettbewerb und die freie Marktwirtschaft gepaart mit seinem Mut, die Fesseln staatlicher Kontrolle abzulegen, bildeten die Grundlage für das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit und halfen dabei, die Wesenszüge einer liberalen Wirtschaftsordnung in Europa, zumindest in den westlichen Ländern, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwickeln. Für die Chefredakteurin einer Zeitung, die als Verfechterin des Freihandels, freier Märkte und einer liberalen Grundüberzeugung im weitesten Sinne gegründet wurde, ist es daher eine besondere Ehre, mit diesem Preis ausgezeichnet zu werden.

Dass ich diese Auszeichnung in diesem Jahr erhalte, freut mich aus drei Gründen ganz besonders. Erstens spricht es für den großen Freigeist der Jury – oder vielleicht auch für ihren Sinn für die Ironie des Schicksals –, diesen renommierten deutschen Medienpreis einer Britin (die aber immerhin eine deutsche Mutter hat) zu verleihen, deren Land sich anschickt, in weniger als sechs Monaten die Europäische Union zu verlassen. Zu seiner Zeit war Dr. Erhard ein Verfechter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die Großbritannien und andere westliche Länder mit einschließen sollte. Unermüdlich warb er für freieren Handel und freieren Zugang zu den Märkten innerhalb Europas. Würde er heute noch leben, hätte er möglicherweise der Verleihung dieser Auszeichnung an mich nicht – oder im Gegenteil: erst recht – zugestimmt. Mit Sicherheit wäre er aber nicht mit dem Kurs einverstanden, auf dem sich mein Land gerade befindet. Handelsschranken inerhalb Europas werden eher auf- als abgebaut. Ich vermute, dass Dr. Erhard sehr schnell dargelegt hätte, dass sowohl Großbritannien als auch die EU nach dem Brexit schlechter dastehen werden.

Zweitens feiert „The Economist“ in diesem Jahr sein 175. Jubiläum. Diese Zeitung – tatsächlich bezeichnen wir uns schon immer als Zeitung – wurde im September 1843 vom schottischen Hutmacher James Wilson gegründet. Großbritannien befand sich damals mitten in einer harten politischen Auseinandersetzung, ob es den freien Handel befürworten und die sogenannten Corn Laws (Korn- oder Getreidegesetze) abschaffen sollte. Es handelte sich hierbei um hohe Getreidezölle zum Schutz der Großgrundbesitzer – jedoch zum Nachteil der Verbraucher, besonders der armen Bevölkerung in den Städten –, durch die die Brotpreise künstlich hoch gehalten wurden. Dieser Kampf um das Für und Wider spaltete die Konservative Partei Großbritanniens – genau wie es der Brexit 175 Jahre später tut. Gleichzeitig brachte dieser Kampf eine neue politische und intellektuelle Bewegung hervor, nämlich die des Liberalismus. Wilson gründete den Economist, um für freien Handel einzutreten, für freie Märkte und für die liberale Idee.

Um diese so wichtige historische Etappe zu würdigen, führten wir in den vergangenen sechs Monaten eine globale Diskussion unter dem Motto „Open Future“ über die Zukunft der freien Märkte und der offenen Gesellschaft. Wir luden Befürworter unserer Weltanschauung ebenso ein wie unsere Kritiker, sich an diversen Diskussionen zu einer ganzen Reihe von Themen zu beteiligen: von der Zukunft der freien Marktwirtschaft bis zu den Auswirkungen neuer Technologien; von Migration heute und in Zukunft bis zur Bedeutung der freien Meinungsäußerung. Wir debattierten auf allen uns zur Verfügung stehenden Kanälen der modernen Kommunikation: online im Internet genauso wie in Artikeln unserer Print-Ausgabe, in Form von Podcasts und mit von uns selbst produzierten Filmen. Vor ein paar Wochen brachten wir eine eigens dem Jubiläum gewidmete Sonderausgabe des Economist heraus mit unseren Vorschlägen zur Erneuerung des Liberalismus im 21. Jahrhundert. In Anbetracht all dessen war dieses Jahr ein ganz besonderes für den Economist, das nun mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik gekrönt wird.

Gegenwärtige Bedrohung liberaler Werte

Der dritte Grund, warum ich besonders dankbar für diese Auszeichnung am heutigen Tag bin, ist ein eher nicht so erfreulicher. Gegenwärtig sind die liberalen Werte, für die Ludwig Erhard stand, die zur Gründung des Economist führten und für die diese Zeitung stets eintrat, einem immer stärkeren und wachsenden Druck ausgesetzt.

Die offensichtlichste Bedrohung sind wachsender Populismus und Nationalismus auf beiden Seiten des Atlantiks. Dieser populistische Nationalismus erklärt zu einem großen Teil sowohl das Votum der Briten für einen Ausstieg aus der EU als auch die Tatsache, dass Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden konnte. Er erklärt auch das Erstarken von Parteien in vielen europäischen Ländern, die am äußersten rechten Rand und gegen das Establishment agieren. Dabei sind nicht alle Populisten gleich. Was sie aber eint, sind ihr Hass auf das sogenannte Establishment und die „Eliten“ sowie ihr Wunsch, „die Kontrolle wieder zurückzuerlangen“. Ihre selbstbezogenen Überzeugungen speisen sich aus Wut und Klagen besonders gegen Minderheiten. Die meisten Populisten stehen dem freien Welthandel skeptisch gegenüber und besonders einer liberalen Zuwanderungspolitik. Sie verachten die offene und pluralistische Gesellschaft. In der Globalisierung, die sie übrigens „Globalismus“ nennen, ein Begriff, der bewusst abwertend sein soll, sehen sie eine gescheiterte Ideologie, die nur einer ungebundenen globalen Elite Vorteile bringt auf Kosten der sogenannten normalen Bürger.

Eine ähnliche, aber noch unheimlichere Bedrohung geht von der wachsenden Zahl immer undemokratisch werdender, ja sogar autoritärer Regierungen aus, die wir überall in der Welt finden – und was besonders alarmierend ist: leider auch in Europa. In Polen und Ungarn erodieren in zunehmendem Maße die Kerninstitutionen einer liberalen Demokratie wie freie Presse oder unabhängige Justiz. In anderen Ländern wie der Türkei oder Russland wurden sie bereits so gut wie abgeschafft. Selbst in den dynamischsten Demokratien der Welt gibt es beunruhigende Entwicklungen. In Großbritannien zum Beispiel bezeichnet die Regenbogenpresse Richter als „Feinde des Volkes“, in den USA unterstellt der Präsident renommierten Medien „Fake News“ und hier in diesem Land wird das polemische wie verunglimpfende Wort „Lügenpresse“ wieder benutzt. Andererseits gibt es bisweilen auch eine unglaubliche Sorglosigkeit: Laut einer kürzlich in den USA veröffentlichten Studie findet es lediglich ein Drittel der Befragten unter 35 Jahre „entscheidend“, ob man in einer Demokratie lebt oder nicht.

Der letzte Grund, der Anlass zur Beunruhigung gibt, ist geopolitischer Natur. Die seit Ende des Zweiten Weltkriegs auf Regeln basierende Weltordnung ist enorm unter Druck geraten. Die USA, die aufgrund ihrer Führungsrolle und militärischen Stärke lange Zeit der Stützpfeiler dieser Weltordung waren, werden nun von einem Präsidenten regiert, der internationale Angelegenheiten als Nullsummenspiel betrachtet und der aufgrund seiner „America First“-Weltanschauung dem Multilateralismus höchst skeptisch gegenüber steht. Ist er doch davon überzeugt, dass Amerika von seinen Verbündeten über den Tisch gezogen wird. Gleichzeitig ist die aufstrebende Weltmacht China nicht nur eine Ein-Parteien-Diktatur, sondern wird mit wachsender Wirtschaftsstärke immer autoritärer und bestimmender, was seine politische Rolle in der Welt betrifft. Der Westen hatte lange gehofft, dass China mit zunehmender Prosperität und Integrierung ins Weltwirtschaftssystem liberaler werden würde, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Diese Hoffnung hat sich, zumindest im Moment, leider zerschlagen. Die aufstrebende Weltmacht des 21. Jahrhunderts wird bis auf absehbare Zeit eine Diktatur mit einer Quasi-Marktwirtschaft bleiben.

Der Reformgeist der Liberalen

In Anbetracht all dessen sind wir Liberalen mit unseren Überzeugungen in die Defensive geraten. Was können wir dagegen tun? Die Antwort, die ich darauf geben möchte, hat viel mit Ludwig Erhard zu tun: dass man nämlich ganz in seinem Sinne mutig erklären muss, was der Inbegriff seiner Idee einer liberalen, sozialen Marktwirtschaft eigentlich bedeutet. Die Liberalen des Jahres 2018 könnten eine Menge von seiner Weitsicht, Entschlossenheit und seinem Reformeifer beim Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg lernen.

Bevor ich Ihnen erkläre, warum, erlauben Sie mir zuerst einige Begriffserläuterungen. „Liberalismus“ ist zu einem Terminus mit unterschiedlichen Bedeutungen für unterschiedliche Menschen geworden. In den USA wird er mit eher linker staatlicher Regierungspolitik verbunden, in Frankreich dagegen hat er eine negative Konnotation als Kurzbezeichnung für einen ultra-freien Libertarismus. Ich meine aber den klassischen Liberalismus, wie ihn die Philosophen der Aufklärung von John Locke bis Adam Smith entwickelt haben und wie er von den Intellektuellen im Viktorianischen Zeitalter wie John Stuart Mill verfochten wurde. Es ist der Liberalismus des frühen 19. Jahrhunderts, der Anhänger in ganz Europa hatte. – Die ersten Politiker, die sich als „Liberale“ bezeichneten, gab es 1812 in Spanien während einer kurzen Phase des Parlamentarismus. – Dennoch handelt es sich hier um eine politische Bewegung, deren Zentrum Großbritannien war, das im 19. Jahrhundert die stärkste wirtschaftliche und politische Macht war.

Beim klassischen Liberalismus handelt es sich um eine Weltanschauung basierend auf der allgemeinen Anerkennung der individuellen Freiheit der Person, dem Glauben an die freie Marktwirtschaft und den Freihandel, eine begrenzte Regierung und dem Vertrauen in den menschlichen Fortschritt durch den öffentlichen Diskurs, freien Wettbewerb und Reformen. Liberale halten nicht viel von Machtkonzentration und festgeschriebenen, verbrieften Interessen. Im Gegensatz zu den Kommunisten sehen die Liberalen den Fortschritt nicht in irgendwelchen utopischen Zielen. Und anders als die Konservativen, die Wert auf Stabilität und Tradition legen, streben die Liberalen nach Fortschritt, sowohl wirtschaftlichem als auch sozialem. Entsprechend waren die Liberalen auch immer die Reformer, die für gesellschaftliche Veränderungen eintraten.

Es ist diesem reformistischen Geist zu verdanken, dass der Liberalismus in den letzten beiden Jahrhunderten die stärkste Antriebskraft für den Fortschritt war. Mit der Entstehung von Gesellschaften entwickelten sich politische Ideen und Programme für Reformen, die eine liberale Handschrift trugen. Der erste Chefredakteur des Economist James Wilson hatte einen fast göttlichen Glauben an die Freiheit der Unternehmen und war der Meinung, dass die staatliche Kontrolle so gering wie möglich sein sollte. In früheren Leitartikeln sprach sich der Economist daher zum Beispiel gegen mithilfe staatlicher Steuereinnahmen finanzierte Bildung aus. Im ausgehenden 19. Jahrhundert erkannten die Liberalen jedoch, dass eine progressive Besteuerung und ein staatliches Sozialsystem zur Sicherung der grundlegenden sozialen Bedürfnisse der Menschen notwendige Maßnahmen waren, um die Fehlentwicklungen der freien Marktwirtschaft zu korrigieren. In den USA wurde das Kartellrecht (das sogenannte Antitrust-Gesetz) erlassen gegen die Macht der sogenannten Raubritter-Monopole. Diesseits und jenseits des Atlantiks verschob sich das Verhältnis zwischen Staat und Markt zugunsten einer etwas größeren Rolle des Staates.

Washington Consensus

Infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 verschob sich das Verhältnis von Staat und freier Marktwirtschaft erneut. Die Anhänger des britischen Ökonomen John Maynard Keynes begrüßten die Rolle des Staates bei der Steuerung der Nachfrage, um einerseits der Rezession entgegenzuwirken und andererseits für soziale Absicherung zu sorgen. Dagegen bereitete den Anhängern des österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek die in ihren Augen staatliche „Übergriffigkeit“ eher Kopfschmerzen. Sie wollten den staatlichen Einfluss wieder zurückdrängen.

Sowohl Keynes als auch von Hayek waren beide Liberale, beide waren Verfechter liberaler Werte, kamen jedoch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen, was das annehmbare Maß staatlichen Eingriffs sein sollte. Seit den 1930er Jahren haben diese beiden Schulen die Merkmale liberaler Wirtschaftslehre in Abgrenzung zu anderen umfassend definiert. Der politische Konsens hat sich in unterschiedlichen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten immer irgendwo dazwischen bewegt.

Die Nachkriegszeit, die Ludwig Erhard entscheidend mitgeprägt hat, war von der Multilateralisierung des Wirtschaftsliberalismus geprägt. Die Entstehung der Bretton-Woods-Institutionen, insbesondere des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT, aus dem später die Welthandelsorganisation WTO wurde, führte zu einem globalen System von Regeln und Institutionen zur Unterstützung des freien Welthandels. Ludwig Erhard ist es zu verdanken, dass Deutschland hierbei eine Vorreiterrolle einnahm. Mit seiner Entschlossenheit, Handelsbarrieren und -kontrollen zügig abzuschaffen, eine Währungsreform durchzuführen und parallel dazu Preisvorschriften aufzuheben, erwies sich Erhard als ein bemerkenswerter Wirtschaftsliberaler – und das weit mehr als einige der Alliierten. Darüber hinaus konzentrierte er sich auf die Schaffung jener Institutionen und Regelwerke, die freien und fairen Wettbewerb sowie die Freiheit des Bürgers auf dem Markt ermöglichten. Sie waren Teil des sogenannten Ordoliberalismus, eine speziell deutsche Variante von Wirtschaftsliberalismus, die außerhalb Deutschlands leider kaum bekannt ist.

Gleichzeitig entwarfen die Liberalen ihre Modelle für die sozialen Sicherungssysteme. Der britische Wohlfahrtsstaat mit dem National Health Service (dem Nationalen Gesundheitssystem) als seinem Flaggschiff, wurde von William Beveridge, einem klassischen Liberalen, entwickelt. Deutschland entwickelte unter Ludwig Erhard die Soziale Marktwirtschaft. In den 1970er Jahren verlangte der vorherrschende Teil der liberalen Volkswirtschaften infolge zunehmender staatlicher Maßnahmen im Sinne der keynesianischen Nachfragesteuerung erneut freiere Märkte. Ronald Reagan and Margaret Thatcher waren Verfechter von mehr Degulierung und Privatisierung. Spitzensteuersätze wurden reduziert, noch bestehende Kontrollen des Kapitalflusses abgeschafft.

Bis in die 1990er Jahre hinein hatte sich ein weitverbreitetes, marktfreundliches Wirtschaftsprogramm durchgesetzt, das auch unter dem Namen Washington Consensus oder im Deutschen „Washington-Konsens“ beziehungsweise „Konsens von Washington“ bekannt ist. Es diente vor allem der Globalisierung – insbesondere der freien Bewegung von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Die darin geforderten Strukturanpassungsmaßnahmen dienten der Deregulierung von nationalen Volkswirtschaften sowie Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Einrichtungen. Die Preise sollten durch die Geldpolitik unabhängiger, technokratischer Zentralbanken stabil bleiben. Regierungen sollten eine verantwortungsvolle Fiskalpolitik betreiben zur Finanzierung ihrer Staatshaushalte: aus einer Mischung von Einnahmen aus nationalen Abgaben und Steuern sowie notwendigen Ausgaben, ohne aber die Anreize für Investitionen und Arbeit zu schwächen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde der Washington-Konsens nicht nur zur vorherrschenden Maxime in den entwickelten Industrieländern, sondern auch in den Volkswirtschaften der aufstrebenden Staaten in Asien und Lateinamerika. Gerade als mit dem Ende des Kalten Krieges der Siegeszug der liberalen Demokratie begann, schien es so, als gäbe es auch einen Konsens unter den liberalen Volkswirtschaften.

Heil versprechende Sirenengesänge der Populisten

Jetzt bröckelt dieser Konsens aber. Immer mehr Menschen, besonders in den westlichen Demokratien, haben immer größere Zweifel daran, ob dieses liberale Wirtschaftssystem wirklich fair ist und ihrem Wohlstand dient. Sie erleben massive Einkommensunterschiede. Die Früchte der Globalisierung und der digitalen Revolution scheinen zum allergrößten Teil nur die Hochgebildeten und Vermögenden zu ernten, während die weniger Gebildeten und vor allem die Industriearbeiter die Kosten eines freieren Welthandels zu tragen haben.

Dieses System hat 2007/2008 eine katastrophale Finanzkrise verursacht, die auch den Euro in eine Krise stürzte, was dann zu einer Sparpolitik, hoher Arbeitslosigkeit und Verarmung vieler Menschen in Europa führte. Die Kassenlage der öffentlichen Haushalte ist angespannt, da global agierende Unternehmen oft dort ihren Sitz haben, wo sie keine oder wenig Steuern zahlen müssen. Diese wirtschaftlichen Verwerfungen führten zu wachsenden sozialen Ängsten, wie die Angst vor immer mehr Zuwanderern, die die vertrauten gesellschaftlichen Strukturen zu sehr und zu schnell verändern könnten. Zusätzlich befeuert durch die Echokammern in den sozialen Medien hat all das eine wachsende Zahl von Minderheiten in die Arme von nationalistischen Populisten getrieben, die mit falschen Versprechungen einfache Lösungen propagieren.

Wir haben einen Zustand erreicht, der, wie ich fürchte, weitaus bedrohlicher ist, als vielen Liberalen bewusst ist. Um die Wut der Menschen ernst zu nehmen und die Heil versprechenden Sirenengesängen der Wirtschaftspopulisten durch attraktivere Alternativen zu entlarven, sollten die Liberalen weniger Zeit darauf verwenden, ihre Kritiker als Idioten und Fanatiker abzutun, und sich stattdessen auf die wirkliche Lösung der Probleme konzentrieren. Obwohl das liberale Wirtschaftsprogramm im Großen und Ganzen bislang sehr erfolgreich war und ist, läuft vieles falsch.

Von den Errungenschaften der Globalisierung profitieren überproportional die höheren Bildungsschichten. Die Finanzkrise hat uns die Gefahren durch einen kaum regulierten Finanzsektor sehr deutlich vor Augen geführt. Chinas merkantilistische Handelspolitik hat zu einer angespannten Situation im Welthandel geführt. Der von Präsident Trump angefachte Handelskrieg durch die Verhängung von Strafzöllen gegen China ist nicht die richtige Antwort darauf. Aber er hat auf ein tatsächliches Problem aufmerksam gemacht. Viele Aspekte des derzeitigen Gesellschaftsvertrags sind nicht nachhaltig genug oder passen nicht mehr ins 21. Jahrhundert. Rentensysteme werden aufgrund einer höheren Lebenserwartung der Menschen und sinkender Geburtenraten unbezahlbar. Die sozialen Sicherungssysteme und Arbeitsgesetze wurden für eine Arbeitswelt im 20. Jahrhundert konzipiert, in der es vor allem lange und unbefristete Arbeitsverträge gab, und nicht für die Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts mit vorrangig Kurzzeit- oder gar keinen Verträgen. Unsere Bildungssysteme haben sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts kaum verändert, obwohl sich die Anforderungen an das Fachwissen für wirtschaftlichen Erfolg in unserem Zeitalter von Big Data und Künstlicher Intelligenz erheblich verändert haben. Die Wettbewerbspolitik muss neu überdacht werden angesichts der Vorherrschaft riesiger digitaler Unternehmen. Langfristig betrachtet, und das ist die wohl größte Herausforderung für die liberale Lebensphilosophie überhaupt, müssen wir nachhaltige und schnelle Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel finden.

Neustart für den Liberalismus

Kurz gesagt, es gibt viel zu tun! Daher muss sich der Liberalismus gewissermaßen neu erfinden, ähnlich wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Reformeifer von 1948, der Dr. Erhard ausgezeichnet hat, muss wiederbelebt werden. Die Liberalen müssen aus ihrer Selbstzufriedenheit aufwachen, die sich in den vergangenen drei Jahrzehnten breit gemacht hat. Sie müssen sich von der Selbstverständlichkeit verabschieden, mit der sie sich im Establishment und als Teil der erfolgreichen Elite eingerichtet haben. Sie müssen gegen angestammte Pfründe vorgehen, auch wenn sie selbst davon betroffen sind. Es gilt, den Reformeifer wieder zu entdecken, für den der Liberalismus einst gestanden hat. In manchen Bereichen kann man dabei von der Vergangenheit lernen: Man sollte sich tatsächlich auf die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Gewährleistung fairen Wettbewerbs konzentrieren, die Teil des Ordoliberalismus sind. Das wäre eventuell ein vernünftiger Ansatz, zum Beispiel zur Sicherung des Dateneigentumsrechts und des Wettbewerbs in der Welt von Big Data und Künstlicher Intelligenz. In anderen Bereichen, wie beim Kampf gegen den Klimawandel, brauchen wir vollkommen neue Herangehensweisen.

Wie kann aber nun der Neustart für den Liberalismus aussehen? Vielleicht muss man Parteistrukturen komplett umstülpen, so wie Emmanuel Macron es in Frankreich getan hat? Vielleicht braucht man dafür eine neue Generation von Politikern? Was man aber auf jeden Fall braucht, ist der Wille, neue, große Konzepte zu entwickeln und offen zu diskutieren. Und dafür braucht man wiederum viele Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung, vor allem von gut informierten Quellen und in bester und ehrlichster Absicht, damit die Ideen und Konzepte schonungslos debattiert werden können und auf den Prüfstand kommen. Ludwig Erhard hatte genau das erkannt. Er war ein Meister der Kommunikation seiner großartigen Gedanken. Der Economist schrieb dazu 1958: „Wenn es irgendeine besondere Gabe gibt, die den westdeutschen Wirtschaftsminister von seinen Amtskollegen anderer Länder unterscheidet, dann ist es seine Publizität, seine Fähigkeit, die deutschen Verbraucher zur Verteidigung ihrer Interessen am Diskurs von Wirtschaftsfragen in einer für alle verständlichen Sprache teilhaben zu lassen.“

Genau diese Aufgabe hat auch der Wirtschaftsjournalismus. The Economist hat stets versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden. In seinem Gründungsjahr 1843 hat James Wilson den Sinn und Zweck der Zeitung erklärt: „Wir wollen uns an dem harten Wettbewerb beteiligen zwischen nach vorn gewandten intelligenten Konzepten und einer unwürdigen, von Angst geprägten Ignoranz, die unserem Fortschritt im Wege steht.“ (to take part in „a severe contest between intelligence, which presses forward, and an unworthy, timid ignorance obstructing our progress”.). Diese Worte werden jede Woche auf die erste Seite des Economist gedruckt. Sie sind seit 175 Jahren unser Leitmotiv und werden es auch weiterhin bleiben, wenn nun, wie ich hoffe, die Ära der Neuerfindung des Liberalismus beginnt. – Herzlichen Dank!

Neben Zanny Minton Beddoes wurde Dr. Peter Rásonyi, Leiter der Auslandsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung, mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik 2018 ausgezeichnet. Lesen Sie die Preisrede von Peter Rásonyi. Hier geht es zur Dokumentation der Preisverleihung.

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