Prof. Dr. Dr. Nils Ole Oermann
Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Ludwig-Erhard-Stiftung und Direktor des Instituts für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung an der Leuphana Universität Lüneburg

„Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt, komm mit deinem Scheine, süßes Engelsbild! Magst du nie dich zeigen der bedrängten Welt, führest deinen Reigen nur am Sternenzelt? Wo sich Gottes Flamme in ein Herz gesenkt, das am alten Stamme treu und liebend hängt; wo sich Männer finden, die für Ehr und Recht mutig sich verbinden, weilt ein frei Geschlecht“ (Text: Max von Schenkendorff (1813)/ Melodie: Karl Groos (1818)).

Die gesellschaftliche Diskussion über Werte im Allgemeinen und über das Wesen und die Kultur der Freiheit als für eine Demokratie zentralen Wert ist so aktuell wie problematisch. Wer etwa mit dem Bundesverfassungsgericht nach der Freiheit fragt, im Wald zu reiten,1Die Verdoppelung des Altenquotienten in den nächsten Jahrzehnten ist kaum noch aufzuhalten. Das impliziert entweder eine Halbierung der Versorgungsleistungen oder eine Verdoppelung der Belastung der Beitragszahler oder wesentliche längere Lebensarbeitszeiten. Vgl. Herwig Birg, Die alternde Republik und das Versagen der Politik, Berlin 2015. oder mit der Hanseatischen Kaufmannschaft nach der Definition des „ehrbaren Kaufmanns“ strebt, oder wer nach einem „Werte- oder Kulturwandel“ im Finanzwesen oder nach verschriftlichten „Grundwerten“ in Parteiprogrammen ruft, der scheint sich über den Wertbegriff und dessen Fundierung im Klaren.

Aber kann, sollte und darf man das sein? Was sind Werte aus philosophischer Sicht? Wie entstehen sie, und wie kann man sie definitorisch eingrenzen? Welche Werte genau bewertet man positiv und welche nicht und warum? Geht Freiheit dem Gemeinwohl vor, oder ist es umgekehrt, und handelt es sich bei beiden gar um „zeitlose Werte“?

Denn wer scheinbar zeitlose Werte propagiert, tut das vor dem Hintergrund eines bestimmten wie höchstpersönlichen und damit stets subjektiven Wertbewusstseins. Und hinter diesem steht anthropologisch im Sinne der vierten Grundfrage Kants „Was ist der Mensch?“ stets ein so konkretes wie individuelles Menschenbild. Wenn etwa im zitierten Liedtext von „Freiheit, die ich meine“ vom Wert der Freiheit die Rede ist, dann ist diese Freiheit, die in diesem Lied besungen wird, christlich, männlich, astronomisch sowie deutsch konnotiert und der Text nicht zufällig im Jahre 1813 gedichtet. Will heißen: Selbst bei diesem scheinbar simplen Beispiel ist der Freiheitsbegriff stark kontextuell, aber gleichzeitig hoch bewertet.

Kann aber der Freiheits- als Wertbegriff zumindest definitorisch so eindeutig abgrenzbar, ja ein zeitloser „Grundwert“ sein, wie die Beiträge gerade der Juristen in diesem Band zu insinuieren scheinen? Gibt es gar eine eigene „Kultur der Freiheit“, wie Udo di Fabio annimmt, und was unterscheidet dann die Freiheitskultur des Jahres 1813 etwa von der des Jahres 1989 oder 2016?2Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005. Angesichts all dieser offenen Fragen besteht ein Aufklärungsbedarf darüber, was inhaltlich eigentlich gemeint ist, wenn – besonders häufig in Zeiten der Krisis – von unterschiedlichen politischen Strömungen ein neues Wertbewusstsein eingefordert und nach scheinbar „zeitlosen“ Werten gerufen wird. Eine Rückbesinnung auf Werte fordern viele; nur auf welche genau und in welchem Kontext? Und wer ist hier auskunftsfähig? In welcher Fakultät findet sich dazu überhaupt eine historische Expertise? Kurz: Woher kommt der Wertbegriff?

Um gleich zu Anfang nur eines der vielen Missverständnisse in diesem Bereich aufzuklären: Auch und vor allem in der Theologie stößt man häufig auf die Rede von den christlichen Werten und dem christlichen Menschenbild: Andere verwenden den Wertbegriff eher sparsam und wieder andere aus Überzeugung gar nicht. So betonte die ehemalige Bischöfin Margot Käßmann bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit der Bundesfamilienministerin zum „Bündnis für Erziehung“ im April 2006, dass sie sich eine starke Rolle der christlichen Kirchen als „Anbieter auf dem Markt der Werte“ wünsche – ohne allerdings eine Lokalisierung des Marktplatzes dafür vorzunehmen.3„Gegen innere Armut und Beliebigkeit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2006. Auch Hans Küng spricht in der Grundsatzerklärung zum „Weltethos“ davon, dass man in allen Religionen einen gemeinsamen Bestand von „Kernwerten“ finde. Auch von „Grundwerten“, „Lebenswerten“ und „spirituellen Werten“ ist bei ihm die Rede.4Hans Küng/Karl-Josef Kuschel, Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen, München 1993. Auf evangelischer Seite bemühen sich Eberhard Jüngel und andere, den Wertbegriff aus der Theologie ganz herauszuhalten und stattdessen von „Wahrheit“ zu sprechen.5Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, 2. Auflage, Tübingen 2003. Auch wenn sich einwenden lässt, dass sich die Diskussion um Werte spätestens mit der philosophischen Fundamentalkritik Martin Heideggers erledigt habe, und dass mit Eberhard Jüngels Ausführungen zur „wertlosen Wahrheit des Evangeliums“6Ebenda für die Theologen alles Notwendige gesagt sei, ebbt die Diskussion nicht ab. Offenbar gibt es höchst unterschiedliche Arten, mit dem Wertbegriff umzugehen. Was aber ist der Grund für die besonders an diesem Beispiel so offensichtlich zutage tretende Ambivalenz und die dahinter stehende Unsicherheit im Umgang mit dem Wertbegriff?

Der Wertbegriff – Eine kurze Begriffsgeschichte

Wie ist der Wertbegriff überhaupt in die Sphäre von Theologie und Philosophie gelangt, bevor er über die Ökonomie bis hin zu Karl Marx‘ Mehrwerttheorie seinen Siegeszug in die Alltagssprache und selbst das Recht gefunden hat, in dem doch klare Definitionen essenziell für dessen Anwendung sind? Begriffsgeschichtlich ist der Wertbegriff ursprünglich kein philosophisch zentraler Terminus. Platon und Aristoteles mit ihrem Tugendbegriff oder Thomas von Aquin, der sich nicht auf Werte, sondern Wahrheit und Naturrecht fokussiert, kommen vorzüglich ohne den Wertbegriff aus. Der neuzeitliche Wertbegriff etabliert sich erst mit der Ökonomie, wenn sich Anbieter und Käufer über die Frage zu einigen versuchen: „Was ist mir etwas wert?“. Anknüpfend an Aristoteles und Thomas von Aquin differenziert Adam Smith zwischen dem Tausch- und dem Gebrauchswert einer Sache. So hat etwa ein goldener Käfig aufgrund seines Materials einen hohen Tauschwert, aber einen relativ niedrigen Gebrauchswert. In der Philosophie rezipiert wurde der Wertbegriff durch Rudolf Hermann Lotze und in der Folge bei den Neukantianern wie Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert, denen an der Verobjektivierung des Wertbegriffs gelegen war. Aufgegriffen, aber grundlegend anders gefüllt wurde er später in den wertphilosophischen Hierarchisierungen eines Max Scheler.

Wer hier das Material raffen muss, scheint gut beraten, sich auf zwei Namen zu konzentrieren, nämlich Max Scheler und Friedrich Nietzsche, denn sie haben die Debatte über den Wertbegriff am nachhaltigsten geprägt. Während Scheler und an ihn anknüpfend Nicolai Hartmann auf der Suche nach ewig geltenden Werten waren, die sich einer rationalen Objektivierung entzogen, war es Nietzsche, der die „Umwertung aller Werte“ verlangte, was deren prinzipielle Veränderlichkeit voraussetzt.7Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe, Band 5, Berlin 1999. Nietzsches Arbeit hat in drei Richtungen Impulse gegeben: erstens zur empirischen Weiterarbeit an Ursprung und Entstehung der Werte, zunächst vor allem bei Max Weber; zweitens zu einer philosophischen Wertlehre bei Max Scheler; und letztlich drittens zu einer radikalen Kritik an der philosophischen und anderweitigen Verwendung des Wertbegriffs bei Heidegger und anderen. Scheler hat den Versuch unternommen, den Wertbegriff zum Fundament seiner materialen Ethik zu machen.8Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch eines ethischen Personalismus, 4. Auflage, Bern 1954. Für ihn ist es zwingend notwendig, Werten als Teil eines großen Ganzen doch wieder ein Sein zuzuschreiben, sie also zu Entitäten einer metaphysischen Konstruktion zu machen. Dieses Sein der Werte soll sich allerdings vom realen Sein des existierenden Wirklichen als ein ideales Ansichsein unterscheiden, wobei phänomenologisch erschlossene Werte in eine angeblich a priori bestehende Hierarchie gebracht werden. Und von dieser Hierarchie behauptet er, sie erschließe sich intuitiv. Dieser letzte Schritt hat Schelers Werttheorie freilich ins Bodenlose geführt, da mit Intuition kaum normative Ethiken zu entwickeln sind. Denn wie vermittle ich intuitive Werte Andersdenkenden, die sich weigern, meiner Intuition zu folgen und deren Quelle zu teilen? Das heißt nicht, dass Schelers Wertdenken ohne Einfluss blieb. Im Gegenteil, es wirkt bis tief hinein in die bundesrepublikanische Rechtswissenschaft: Im deutschen Strafrecht fragt man nach dem „Unwert“ einer Tat, und die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts bemisst sich am „Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“. Das Bundesverfassungsgericht geht sogar davon aus, dass sich in den Grundrechtsbestimmungen eine „objektive Wertordnung“ verkörpert, „die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt“.9Vgl. „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 7, 198. Auch entfaltete der Wertbegriff seine Wirkung in der katholischen Soziallehre, wo Oswald von Nell-Breuning und andere versuchten, allerdings nicht ganz in Schelers Sinn, den Wertbegriff dem traditionellen ethischen Begriff des Guten anzugleichen und so in die Naturrechtstradition einzufügen. So liest man in der sechsten Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft zum Stichwort „Wert“: Die Wirklichkeit […] zeigt sich bei allem Seienden also in der ihr eigentümlichen gestuften Vollkommenheit, die als Güte (bonitas) oder Wert bezeichnet werden kann.10Max Müller/Alois Halder, Art. Wert I. In Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Band VIII, 6. Auflage, Freiburg 1963, Sp. 596–601 (597).

Heidegger hätte sich durch diesen Satz wohl in seiner Diagnose bestätigt gefühlt: Der „Wert und das Werthafte“ seien „zum positivistischen Ersatz für das Metaphysische“ geworden.11Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot”, in: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1977, Seiten 209–267 (227). Erkennbar hängt Heideggers Kritik an der Wertphilosophie zentral mit seinen eigenen philosophischen Einsichten zusammen, die hier im Einzelnen nicht zur Debatte stehen. Aber auch wenn man nicht Heideggers Alternative folgen will: Er hat jedenfalls deutlich gemacht, dass der Anspruch der Wertphilosophie, ein Reich von objektiv geltenden Werten auf einer verschwommenen ontologischen Grundlage zu konstruieren, in die Irre führen musste.

Der Mehrwert des Wertbegriffs

Aber hat nicht der Wertbegriff und in der Folge die Freiheit als scheinbar wichtigster „Grundwert“ trotz aller mit ihm verbundenen Probleme zumindest einen hohen praktischen Gebrauchswert? Wie zu Anfang festgestellt ist er nicht zufällig äußerst populär, weil er etwa im Bereich des Geldwesens, des Rechts oder auch in der Politik nur schwer Vergleichbares miteinander vergleichbar macht: Die Teilnahme an einer Theateraufführung wie der Besitz eines Autos haben einen miteinander vergleichbaren Preis in Form eines von einer Zentralbank garantierten Geldwertes. Und mittlerweile haben im Bereich des Bankwesens selbst Prozessrisiken einen im Milliarden-Euro-Bereich bilanzierbaren Preis. Kann der Wertbegriff vielleicht doch dazu beitragen, das in vielen Bereichen unserer Gesellschaft bestehende Problem der Geltung von Normen, vermeintlichen „Grundwerten“ und Grundsätzen, angemessen zu lösen? Das bislang erreichte Resultat lässt nur eine Antwort auf diese Frage zu: Dann und nur dann, wenn der Wertbegriff keine absolute Geltung beansprucht. Eine andere Antwort wäre nur berechtigt, wenn es sich hätte zeigen lassen, dass eine allgemein nachvollziehbare, philosophische Reflexion die absolute Geltung idealer Werte belegen kann, wie sie Scheler und andere behaupten. Wer aber individuell fragt „Was ist mir etwas wert?“, der tut dies eben nicht kollektiv oder normativ, sondern zunächst als Einzelperson. Mit diesem Ergebnis wird nun keineswegs einem ethischen Relativismus das Wort geredet. Im Gegenteil: Dass bestimmte Werte im Allgemeinen und die Freiheit im Besonderen normative Geltung haben, soll überhaupt nicht bestritten werden. Nur kann der normative Status von Geltungsansprüchen in Vermeidung eines naturalistischen Fehlschlusses in keinem Fall daraus resultieren, dass diese Werte „Grund-Werte“ sind. Sie tragen ihren Geltungsgrund nicht in sich. Werte „sind“ nicht.

Der Wertbegriff ist aber in der Praxis dort wertvoll, wo er im Sinne Carl Schmitts „das Inkommensurable kommensurabel“ macht, sodass „ganz verschiedenartige Güter, Ziele, Ideale und Interessen (…) vergleichbar und kompromissfähig werden“.12Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 9–43 (13). Ein nützliches praktisches Instrument also, aber es darf dem Benutzer nicht über den Kopf wachsen, darf kein Eigenleben gewinnen. Sonst geht es uns wie dem Zauberlehrling mit dem Besen, und es droht die „Tyrannei der Werte“13Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“, in: Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 45–75 (49). (Nicolai Hartmann), bei der ein Wert alle anderen zu dominieren droht. Wie geht man mit diesem Dilemma um? Weiterführend ist an dieser Stelle das Denken in diskursethischen Kategorien: Nach Ansicht von Jürgen Habermas komme Normen eine „allgemeine Verbindlichkeit“, Werten dagegen nur eine „spezielle Vorzugswürdigkeit“ zu.14Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992, Seite 315. Daraus folgt, dass es bei einer Arbeit mit und am Wertbegriff notwendig und durchaus möglich ist, vom idealen Geltungsanspruch der Werte abzugehen. Die Erkenntnis, dass Werte von bestimmten Gruppen geteilte Präferenzen sind, muss keineswegs in einen ethischen Relativismus oder einen engführenden Rechtspositivismus übergehen. Sie kann vielmehr in die Forderung münden, den Normendiskurs auf andere Weise zu führen, in dem Werte- und Normendiskurs immer aufeinander bezogen bleiben müssen. Denn Werte bedürfen verpflichtender Normen zu ihrer Kontrolle und zeigen andererseits, wie und warum sich Menschen in ihrem Handeln tatsächlich an bestimmte Regeln binden. Die Gefahr von individuellen Wertvorstellungen jenseits normativ-gesetzlicher Kontrolle macht der amerikanische Religionssoziologe Peter L. Berger am Toleranzbegriff und den Grenzen dieses Wertes von Verfassungsrang anhand des folgenden einprägsamen Beispiels fest: „Die Kinder aufrechter, durch und durch protestantischer amerikanischer Durchschnittsbürger werden zu libertären Bohemiens, die alles tolerieren außer Intoleranz: ‚Ach, Sie sind Kannibale? Wie interessant! Ich glaube, wir würden allesamt viel gewinnen, wenn wir Ihren Standpunkt besser verstünden‘. Deren Kinder wiederum neigen dazu, jeden religiösen, politischen oder ästhetischen Fanatismus, der ihnen begegnet, mitzumachen. Und was mit Individuen passieren kann, das kann auch mit größeren Gruppen, ja mit ganzen Gesellschaften passieren.“15Peter L. Berger, Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt am Main/New York 1994, Seite 75.

Will heißen: Jeder Mensch wertet und wertschätzt, und Normen allein wiederum können menschliches Handeln nicht stiften, wohl aber kontrollieren, regulieren und an einem verbindlichen Maßstab messen. Werte werden von uns definiert, aber nicht erfunden, nicht durch Philosophie oder Theologie konstituiert, sondern durch diese relativiert, bestätigt, verworfen oder in eine Rangfolge gebracht.16Vgl. Hartmut von Hentig, Ach, die Werte! Ein öffentliches Bewusstsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert, München/Wien 1999, Seite 69. Werte haben ihre Wurzel im wertenden Subjekt, das sie allerdings nicht für den Verkauf auf dem Wertemarkt bereitstellt oder abschafft, sondern anerkennt oder verleugnet. Dass und wie Werte im menschlichen Leben eine Rolle spielen, ist dadurch determiniert, dass der Mensch ein kommunizierendes und lernendes Wesen ist, wobei auch die Entstehung der Werte ein kommunikativer Vorgang ist. Unser Handeln ist, bevor wir noch anfangen, selbst darüber zu reflektieren, durch unsere Einbettung in soziale Institutionen, durch Erziehung und Nachahmung von Vorbildern oder deren kritische Infragestellung bestimmt. Der Wertbegriff entfaltet dort seine Möglichkeiten, wo man vom präskriptiven Bereich auf den deskriptiven übergeht, wenn man also nicht mehr die Frage bedenkt: „Was soll ich tun?“, sondern: „Warum tue ich, was ich tue?“. Dann stellt sich heraus, dass den Werten als der zum Subjekt gewendeten Seite der Zwecke in diesem Bereich faktisch eine ganz entscheidende, eine existentielle Bedeutung zukommt.

Wechselt man jetzt die Perspektive weg von der Theologie und Philosophie hin zur Ökonomie, dann stellt sich die Ausgangsfrage, ob und wie man Werte allgemein vermitteln sollte, in ganz anderem Licht. Gefragt werden muss jetzt: Kann es theologisch verantwortet werden, den beschriebenen Beitrag des Wertbegriffes in die Ökonomie zu inkorporieren, und – gesetzt, man antwortet prinzipiell bejahend: Wie kann dieser Beitrag genau aussehen?17Vgl. T. Hüttenberger, Was leistet der Wertbegriff für die Aufgaben von Theologie und Kirche?, in: A.-K. Finke/J. Zehner (Hrsg.), Zutrauen zur Theologie, Berlin 2000, Seiten 316–332.

Bei dem Versuch der Konkretion wird schnell ein spezifisches Dilemma deutlich, beinahe eine Quadratur des Kreises, wie es im Zitat von Margot Käßmann vom „Markt der Werte“ anfangs zutage trat. Agiert man etwa als Theologe oder Ethiker im marktwirtschaftlichen Raum, wird man häufig mit folgender Erwartungshaltung konfrontiert: „Sagen Sie mal was zu Werten, ist doch Ihr Bereich!“ Dabei wird von Ethik erwartet, auf ein gesellschaftliches Interesse zu reagieren und gleichzeitig eben dieses Interesse aktiv zu formen oder umzuleiten. Ein weiteres Dilemma ist wie ausgeführt, dass sich gesellschaftliche Erwartungen ambivalent und zuweilen diffus begegnen: Einen Wertewandel fordern viele, Konservative und Progressive, kalte Krieger und Pazifisten. Sollte und kann man solch ambivalente Erwartungen erfüllen und, wenn ja, wie? Etwa als einer von vielen Anbietern auf dem „Wertemarkt“ neben Gewerkschaften, Vereinen und Parteien, als Erfahrungsraum oder Mediator? Und was wäre die Alternative?

Ethik, ob nun als Wirtschaftsethik, theologische oder politische Ethik, muss sich auf dieses gesellschaftliche Anliegen einlassen, indem sie es wissenschaftlich prüft, um gegebenenfalls mit ihren eigenen Worten sagen zu können, wie es mit ihrer Aufgabe und ihrem Selbstverständnis vereinbar ist, ihren Beitrag zur Wertorientierung zu leisten. Kritisch also im Sinne von krinein, nämlich involviert und gleichzeitig distanziert, konstruktiv und gleichzeitig kritisch. Und dieser Beitrag ist etwa die spezifisch theologische Wahrheitserfahrung, die anders als der Wertbegriff aus Sicht Eberhard Jüngels stets die Eigenart hat, „dass sie die menschliche Existenz eindeutig zu deren Gunsten unterbricht“.18Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“, in Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 45–75 (49). Hat man diesen christlichen Begriff Freiheit auch und gerade im Kontrast mit anderen Freiheitsvorstellungen im Blick, erweist sich im Licht der „wertlosen Wahrheit des Evangeliums“ das aus weltlicher Sicht ökonomisch oder politisch Wertvolle oft als „wertlos”. Insofern ist die grundsätzliche protestantische Einsicht in die Rechtfertigung des Menschen sola gratia immer auch eine radikale Kritik bestehender Institutionen und Werte. Es geht darum, dass aus der Erfahrung des Glaubens die gesamte Welt gewissermaßen in ein neues Licht rückt, dass der Glaubende die Erfahrung neuartiger Freiheit macht. Die Freiheit des Christenmenschen lässt sich nicht skalieren, sie hat keinen Platz auf der Werteskala, weil sie alle Einträge auf dieser Skala transzendiert und aufhebt. Sie ist wertlos, aber wertlos in dem Sinne, wie es das englische Wort „priceless“ meint. Werte sind und bleiben stets intersubjektiv.

Hans Joas hat diese existentielle Spannung im Umgang mit dem Wertbegriff in seinem Buch „Die Entstehung der Werte“ mit einem Zitat untermauert: „Streng genommen gibt es Gewissheiten nicht; es gibt nur Menschen, die ihrer Sache gewiss sind.“19Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1999, Seite 6. Dem wäre hinzuzufügen: Genau darum sind nur Menschen moralfähig. Eine Bank ist weder gut noch schlecht, sondern nur die für sie Handelnden. Darum gibt es auch abstrakt keine Werte, die ein eigenes „Sein“ besäßen, sondern nur Menschen, die Werte leben. Theologen, Juristen, Ökonomen wie Philosophen können und müssen den Anspruch der Werte auf normative Geltung, wenn er denn erhoben wird, kritisieren. Gleichzeitig aber können sie vermitteln, in welcher Weise in persönlichen Überzeugungen gegründete Wertvorstellungen unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaftsordnung sind, da der Staat ordnungspolitisch im Sinne des Böckenförde-Diktums von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann und darf.

Fazit

Nur mit dieser Klarheit über die Möglichkeiten und Grenzen des Wertbegriffs kann seine angemessene Benutzung gelingen und sinnvoll sein. In der Analyse des Wertbegriffs hat sich gezeigt, dass der Umgang mit Werten immer als sein Korrektiv die Reflexion über Normen enthalten muss, da ansonsten ein konkretes Verhalten von konkreten Individuen zu einem beliebigen und damit unverbindlichen Austausch von Befindlichkeiten, Intuitionen und Meinungen würde. Wertorientierung gelingt nur, wenn über die Erkenntnis dessen, was ich immer schon bin, das Nachdenken über das geschieht, was ich sein sollte, darf und kann. Konkret für die Freiheit als Wert und Recht heißt das: Freiheit kann nur der gestalten, der sich dieser Herausforderung individuell stellt, denn Freiheit ist nicht kollektiv delegierbar. Diese Erkenntnis führt letztlich zurück zu Kants Grundfrage der Ethik „Was soll ich tun?“ Während die Ethik mit Kant auf rationalem Weg nach universalisierbaren Normen sucht, die die Werte in ihrem Anspruch prüfen, führen Erfahrung und Regeln zu einer konstitutiven, subjektiven Kritik menschlicher Werte. Theologie, Ökonomie, Recht und Ethik sind je verschiedene Aspekte des Menschlichen, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Sie befruchten einander, wenn sie zunächst ihrem eigenen Anspruch gerecht werden – ob in der Marktwirtschaft auf Märkten, im Verfassungsstaat vor Gericht oder in der Gesellschaft in Parlamenten. Moralfähig sind dabei aus den dargestellten Gründen nur natürliche Personen, wie auch nur natürliche Personen in einem konkreten lebensweltlichen Zusammenhang Werte bilden und leben können. Deswegen ist die Ausgangsfrage, ob Freiheit ein zeitloser Wert ist, klar zu beantworten: Kein Wert ist zeitlos – man denke an „Freiheit, die ich meine“ ganz zu Anfang als die Freiheit christlicher, deutscher Männer des Jahres 1813. Oder man erinnere sich daran, dass Sklaverei für Aristoteles schon darum wünschenswert war, da in seiner Zeit eben nicht alle Menschen frei und gleich an Rechten waren.

Für die Ausgangsfrage, ob Freiheit ein zeitloser Wert an sich sei, bedeutet dies, dass eine materielle Prüfung des Inhalts des Freiheitsbegriffs und seiner Grenzen gar nicht notwendig war. Denn ohne den Versuch unternommen zu haben, Freiheit zu definieren, ist nach den obigen Ausführungen die Frage, ob „Freiheit“ ein zeitloser Wert ist, eindeutig mit „Nein“ zu beantworten, denn Werte sind nie zeitlos. Unbestritten ist aber auch, dass viele Menschen durch die Zeiten hindurch Freiheit einen sehr hohen Wert beimaßen. All das ist richtig. Ein ewiger „Grundwert“ kann Freiheit hingegen nie sein, denn sie will immer wieder neu zu allen Zeiten von Individuen, die sie wertschätzen oder gar für ihr Leben für unverzichtbar halten, verteidigt werden. Wenn es heißt, dass Freiheit – übrigens wie Vertrauen – zu Fuß kommt und zu Pferde flieht, oder wenn im Wappen der Friesen zu lesen ist „Lever duad us slav“ – freilich nicht zu verwechseln mit „Lieber rot als tot“ –, dann spiegeln sich darin individuelle Werte und Erfahrungen von Menschen just mit dieser ihrer persönlichen Freiheit. Sich daran immer neu zu erinnern und Freiheit zu leben, ist darum zwar kein zeitloser Wert, aber dennoch ein hohes Gut.

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Fussnoten

  • 1
    Die Verdoppelung des Altenquotienten in den nächsten Jahrzehnten ist kaum noch aufzuhalten. Das impliziert entweder eine Halbierung der Versorgungsleistungen oder eine Verdoppelung der Belastung der Beitragszahler oder wesentliche längere Lebensarbeitszeiten. Vgl. Herwig Birg, Die alternde Republik und das Versagen der Politik, Berlin 2015.
  • 2
    Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005.
  • 3
    „Gegen innere Armut und Beliebigkeit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2006.
  • 4
    Hans Küng/Karl-Josef Kuschel, Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen, München 1993.
  • 5
    Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, 2. Auflage, Tübingen 2003.
  • 6
    Ebenda
  • 7
    Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe, Band 5, Berlin 1999.
  • 8
    Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch eines ethischen Personalismus, 4. Auflage, Bern 1954.
  • 9
    Vgl. „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 7, 198.
  • 10
    Max Müller/Alois Halder, Art. Wert I. In Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Band VIII, 6. Auflage, Freiburg 1963, Sp. 596–601 (597).
  • 11
    Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot”, in: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1977, Seiten 209–267 (227).
  • 12
    Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 9–43 (13).
  • 13
    Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“, in: Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 45–75 (49).
  • 14
    Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992, Seite 315.
  • 15
    Peter L. Berger, Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt am Main/New York 1994, Seite 75.
  • 16
    Vgl. Hartmut von Hentig, Ach, die Werte! Ein öffentliches Bewusstsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert, München/Wien 1999, Seite 69.
  • 17
    Vgl. T. Hüttenberger, Was leistet der Wertbegriff für die Aufgaben von Theologie und Kirche?, in: A.-K. Finke/J. Zehner (Hrsg.), Zutrauen zur Theologie, Berlin 2000, Seiten 316–332.
  • 18
    Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“, in Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 45–75 (49).
  • 19
    Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1999, Seite 6.
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Fussnoten

  • 1
    Die Verdoppelung des Altenquotienten in den nächsten Jahrzehnten ist kaum noch aufzuhalten. Das impliziert entweder eine Halbierung der Versorgungsleistungen oder eine Verdoppelung der Belastung der Beitragszahler oder wesentliche längere Lebensarbeitszeiten. Vgl. Herwig Birg, Die alternde Republik und das Versagen der Politik, Berlin 2015.
  • 2
    Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005.
  • 3
    „Gegen innere Armut und Beliebigkeit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2006.
  • 4
    Hans Küng/Karl-Josef Kuschel, Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen, München 1993.
  • 5
    Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, 2. Auflage, Tübingen 2003.
  • 6
    Ebenda
  • 7
    Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe, Band 5, Berlin 1999.
  • 8
    Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch eines ethischen Personalismus, 4. Auflage, Bern 1954.
  • 9
    Vgl. „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 7, 198.
  • 10
    Max Müller/Alois Halder, Art. Wert I. In Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Band VIII, 6. Auflage, Freiburg 1963, Sp. 596–601 (597).
  • 11
    Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot”, in: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1977, Seiten 209–267 (227).
  • 12
    Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 9–43 (13).
  • 13
    Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“, in: Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 45–75 (49).
  • 14
    Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992, Seite 315.
  • 15
    Peter L. Berger, Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt am Main/New York 1994, Seite 75.
  • 16
    Vgl. Hartmut von Hentig, Ach, die Werte! Ein öffentliches Bewusstsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert, München/Wien 1999, Seite 69.
  • 17
    Vgl. T. Hüttenberger, Was leistet der Wertbegriff für die Aufgaben von Theologie und Kirche?, in: A.-K. Finke/J. Zehner (Hrsg.), Zutrauen zur Theologie, Berlin 2000, Seiten 316–332.
  • 18
    Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“, in Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, Seiten 45–75 (49).
  • 19
    Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1999, Seite 6.