Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Blum
Mitglied im Vorstand und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Ludwig-Erhard-Stiftung

Europa steht vor zwei großen Herausforderungen: Es muss dem Druck der internationalen Bevölkerungsmigration standhalten und folglich neben der Sicherung der Außengrenzen eine angemessene Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik entwickeln. Weiterhin muss es lernen, mit der neuen internationalen Arbeitsteilung, vor allem den Folgen für die wenig qualifizierten Beschäftigten, umzugehen. Beide Herausforderungen haben eine gemeinsame Wirkung entfaltet: Durch die Weltfinanzkrise in einer ersten Runde ausgelöst, hat sich eine Spirale der Deglobalisierung auf wirtschaftlicher Ebene entwickelt, die sich aufgrund politischer Prozesse, besonders durch Populismus an den politischen Rändern, immer stärker beschleunigt. Das zeigt, dass Europa eine Reihe politischer und wirtschaftspolitischer Defizite bei der Bewältigung seiner Aufgaben aufweist und deshalb dringend seine „Governance“ reformieren muss.

Leitgedanke muss dabei sein, dezentral Machbares auch dezentral erledigen zu lassen, und es nicht im Rahmen eines politischen Profilierungs- und Erfolgswahns auf die Ebene der Europäischen Union zu ziehen. Eine derartige Beschäftigungstherapie in den Etagen der Europäischen Union, vor allem durch überflüssige Regulierungen im Rahmen europäischer Pseudo-Vereinheitlichungen, würde nur zu dem immer mehr greifbaren politischen Dissens und zu einer Ablehnung des europäischen Einigungsprozesses durch die Bevölkerungen beitragen. Umgekehrt ist es dringend erforderlich, die wirklich wichtigen Kernbereiche der EU künftig klar zu gestalten und auf der Unionsebene politisch zu behandeln. Zu diesen zählen neben der gemeinsamen Sicherheitspolitik natürlich auch die Sicherung der Außengrenzen der EU und eine gemeinsame Handelspolitik, also zwei Politikfelder, die gleichermaßen die Sinnkrise wie die faktische Krise betreffen.

Der Wunsch nach innerer Bindung der EU ist bisher unerfüllt

Tatsächlich steht Europa vor einem Globalisierungstrilemma, dem es nur unter Schwierigkeiten entfliehen kann: Der Supranationalstaat Europa hat aus den Nationalstaaten heraus bisher nicht die Bindungswirkung entfaltet, die sich die Väter des Einigungsprozesses erhofft hatten. Das Geleistete wird als selbstverständlich abgetan und die Defizite werden spürbar, besonders das nichteingehaltene Versprechen, die Bürger durch die Einheit vor den negativen Folgen der Globalisierung zu schützen. Weiterhin besteht ein beträchtliches Demokratiedefizit, weil das Europäische Parlament nicht dem System „one man one vote“ folgt. Schließlich wirken die offenen Grenzen für Güter, Kapital und Menschen auf einen zunehmenden Anteil der Wähler inzwischen mehr als Bedrohung denn als Gewinn.

Europa steht vor der Wahl, das Konzept der Demokratie auf europäischer Ebene fallenzulassen, sich auf eine Zollunion zu reduzieren und zentrale Aufgaben wie Grenzschutz, Sicherheitspolitik oder Handelspolitik damit unter nationale Verantwortlichkeit zu stellen. Das bedeutet weniger europäische Demokratie, dafür mehr Nationalstaat und eine klar definierte Beziehung zum Ausland. Alternativ kann es das Eliteprojekt der offenen Grenzen durchsetzen, würde aber damit nationalstaatliche Befindlichkeiten ebenso negieren wie die demokratische Verantwortlichkeit eliminieren – weil das Europäische Parlament demokratisch nichts verantworten kann, solange nicht die Konsequenzen des Handelns auch auf dieser Ebene verantwortet werden – was eben nicht geschieht. Wie man es auch wendet, die Führungsaufgabe der europäischen Politik wird offenbar und auch die Defizite, sie zu verfolgen.

Mehr Zentralismus, weniger Subsidiarität?

Welche Zukunft strebt Europa heute an? Ist es eine Zukunft, die sich die europäischen Eliten ausgedacht haben, ohne die Bevölkerung mitzunehmen, nämlich eine zentralistische, antisubsidiäre Entwicklung, die das große Risiko in sich trägt, schlussendlich zu zerfallen? Tatsächlich wurde mit dem Brexit und dem unglaublich hohen Druck, unter dem inzwischen die Europäische Zentralbank steht, „die Schrift an der Wand“ bereits sichtbar. Alternativ könnte man ein dezentrales Europa, das Europa der Vaterländer, ins Auge fassen, das die starken politischen, politökonomischen und kulturellen Divergenzen berücksichtigt und nur noch die Bereiche koordiniert, die, wie bereits oben ausgeführt, in einem übergreifenden Interesse liegen. Das würde der Europäischen Kommission natürlich eine Vielzahl ihrer Gestaltungsmöglichkeiten nehmen, ein Großteil des aufgetürmten Personals wäre überflüssig, weshalb eine derartige Entwicklung allein aus bürokratietheoretischer Sicht wohl kaum Chancen hätte, sich im natürlichen Wandel zu entwickeln.

Wer aber natürlichen Wandel verweigert, erzeugt Spannungen – eine Lehre, die im Untergang des Ostblocks manifest wurde. Insofern werden wir uns wohl daran gewöhnen müssen, dass Europa weiter unter gewaltigem Stress stehen wird. Das wird „gelenkte“ Demokratien bzw. die autoritären Systeme mit Sicherheit freuen, denn sie sehen mit Genuss, wie die moderne Komplexität die klassischen Demokratien unter Druck setzt. Will Europa nicht nur als geographische Bezeichnung überleben, dann bedarf es der politischen Führung, die in ihrem Führungsauftrag bereits das Abgeben von Führungsverantwortung sieht – was fast ein Widerspruch in sich ist!

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