Prof. Dr. Henrik Uterwedde
Deutsch-Französisches Institut, Ludwigsburg

Die deutsch-französische Fähigkeit zum Brückenbauen und zur Kompromissfindung ist für die Fortentwicklung der Europäischen Union unersetzlich.

Die Europäische Union wird durch eine Reihe von Krisen erschüttert, die ihre Substanz, wenn nicht sogar ihre Existenz berühren: Grexit-Debatte, Euro- und Flüchtlingskrise, europafeindlicher Populismus … Wie immer, wenn es um derartige Herausforderungen geht, richtet sich der Blick auf Frankreich und Deutschland. Denn nur wenn beide Länder zusammen an einem Strang ziehen, gibt es eine Chance auf substanzielle europäische Fortschritte. Aber wie steht es derzeit um die deutsch-französische Kooperation? Hat sie noch die Kraft zum gemeinsamen Handeln, oder droht sie, ebenfalls ein Opfer der wachsenden Europafeindlichkeit und des Rückzugs auf das Nationale zu werden?

Wir wollen dieser Frage im Folgenden am Beispiel der Wirtschafts- und Währungspolitik nachgehen. Um sie zu beantworten, ist zunächst ein Blick auf Frankreich geboten. Denn die deutsch-französische Partnerschaft kann ihre Kraft nur entfalten, wenn sich beide Partner in einer guten Verfassung befinden und in der Lage sind, miteinander „auf Augenhöhe“ zu handeln. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall, denn in den vergangenen zehn Jahren hat sich ein bedenkliches Wirtschaftsgefälle zwischen Deutschland und Frankreich gebildet. Kann sich Frankreich aus seiner Krise befreien, oder versinkt es in seinen Reformblockaden?

Des Weiteren geht es um die Fähigkeit beider Regierungen, gemeinsame tragfähige Lösungen vorzuschlagen und dafür die Zustimmung der europäischen Partner zu erlangen. Auch hier gibt es große Fragezeichen. Gab es nicht seit Ausbruch der Krise der Währungsunion 2010 fortwährend Streit zwischen beiden Ländern? Ist dies nicht Ausdruck einer tiefen Divergenz in den Grundsatzfragen der Währungsunion? Wie hoch ist angesichts dessen die Bereitschaft und die Fähigkeit zu Kompromissen?

Das deutsch-französische Wirtschaftsgefälle

Frankreichs Wirtschaft ist in einem krisenhaften Zustand. Seit der Jahrtausendwende hat sich ihre Leistungsfähigkeit allmählich, aber stetig verschlechtert. Die französische Wirtschaft verlor Marktanteile im internationalen Wettbewerb, ihre industrielle Basis ist geschrumpft, und seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 hat sie ihre Wachstumsdynamik eingebüßt. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 10 Prozent, die öffentlichen Defizite wuchsen bedrohlich. So öffnete sich die Schere zwischen der deutschen und der französischen Wirtschaftsentwicklung.

Die Krise hat überwiegend strukturelle Ursachen. Das französische Wirtschafts- und Sozialmodell, das nach 1945 Frankreichs rasante Modernisierung und den Weg in die Wohlstandsgesellschaft bewirkt hatte, ist durch veränderte Rahmenbedingungen wie die Globalisierung zunehmend in Schwierigkeiten geraten und muss gründlich erneuert werden.1Dies ist das zentrale Argument von drei renommierten französischen Ökonomen; vgl. Philippe Aghion/Gilbert Cette/Elie Cohen, Changer de modèle, Paris 2014. Zu den Strukturproblemen zählen:

  • die trotz mancher Umbrüche weiterhin umfassende Präsenz des Zentralstaates im Wirtschaftsleben, die sich unter anderem in einer sehr hohen Staatsquote zeigt (sie ist mit 57 Prozent die höchste in Europa gegenüber 44 Prozent in Deutschland);2Die Staatsquote misst die Summe aller öffentlichen Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt.
  • die hohe öffentliche Verschuldung, die neben konjunkturellen auch strukturelle Gründe hat, weil der sehr umfangreiche Leistungs- und Wohlfahrtsstaat laufend Defizite verursacht;
  • die zahlreichen bürokratischen Reglementierungen der Wirtschaft, die sich als Hürden für die Entwicklung gerade junger und kleinerer Unternehmen erweisen;
  • die hohe Steuer- und Abgabenbelastung der Unternehmen;
  • die starre Arbeitsmarktregulierung, die zu einer Spaltung des Arbeitsmarkts führt und vor allem Neueinsteigern hohe Hindernisse in den Weg legt: 85 Prozent der Neueinstellungen sind sehr kurz befristete Arbeitsverträge (überwiegend weniger als ein Monat!);
  • das System der beruflichen Ausbildung, das oft keine betrieblichen Elemente wie im dualen System Deutschlands enthält, jungen Menschen den Übergang zwischen Schule und Berufsleben stark erschwert und damit verantwortlich ist für die seit Jahrzehnten hohe Jugendarbeitslosigkeit;
  • Probleme der Wettbewerbsfähigkeit bei den Arbeitskosten, aber auch und vor allem im qualitativen Bereich (höherwertige, innovative Industriegüter).3Zu den Strukturproblemen zusammenfassend Henrik Uterwedde, Zeit für Reformen: Frankreichs Wirtschaft im Wahljahr, DGAP Analyse 5/2012 (http://tinyurl.com/hzsuq2k).

Obwohl diese Strukturprobleme seit langem offenkundig und durch zahlreiche Sachverständigenberichte hinreichend dargestellt worden sind, fand die Politik nur selten den Mut zu entsprechenden Reformen. Meist blieb es trotz aller vollmundigen Reformankündigungen bei halbherzigen Maßnahmen, auch beim konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy (2007–2012). Sein sozialistischer Nachfolger François Hollande (seit 2012), der sich im Wahlkampf als „Feind der Finanzwelt“ und Protagonist einer linken Verteilungs- und Beschäftigungspolitik stilisiert hatte, war bei seinem Amtsantritt schlecht vorbereitet, weil er das ganze Ausmaß der Krise sträflich unterschätzt hatte. Ausgerechnet er wurde zu einem Kurswechsel genötigt, der auf das Gegenteil dessen hinauslief, was er seiner linken Wählerschaft versprochen hatte: Schrittweise, zögerlich und teilweise widerwillig schwenkte Hollande ab 2013 auf eine Angebotspolitik um, die vor allem die Rahmenbedingungen für die Unternehmen verbessern sollte. Die seither beschlossenen Maßnahmen sind trotz mancher Halbherzigkeiten in ihrer Summe beachtlich: Entlastungen der Unternehmen von Steuern und Abgaben in Höhe von 40 Milliarden Euro, Lockerungen des Kündigungsschutzes, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Abbau bürokratischer Hürden vor allem für mittelständische Unternehmen, Forschungs- und Innovationsförderung, Liberalisierung einiger Wirtschaftsbereiche (zum Beispiel Bus-Fernverkehr), Sparmaßnahmen im Sozialstaat, Abbau der öffentlichen Defizite durch Ausgabenreduzierung, Stärkung der Sozialpartner und ihrer Fähigkeit zu konstruktiven Verhandlungen.4Zu den wesentlichen Reformgesetzen vgl. ausführlich Henrik Uterwedde, Hollandes Wirtschaftspolitik, in: Richard Rill (Hrsg.), Frankreich im Umbruch. Innerer Reformdruck und außenpolitische Herausforderungen, München 2015, Seiten 33–43 (http://tinyurl.com/j9mlnsj).

Ist diese Politik geeignet, Frankreich einen Weg aus der Krise zu weisen? Wie immer streiten die Experten darüber, ob die Reformen ausreichen oder ob sie zu halbherzig ausgefallen sind. Auf jeden Fall geht der eingeschlagene Kurs in die richtige Richtung. Der Verzicht auf radikale Maßnahmen zugunsten schrittweiser Veränderungen ist angesichts vieler Widerstände nachvollziehbar. Allerdings brauchen die meisten Maßnahmen Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten. Umso wichtiger ist, dass der Kurs klar kommuniziert und auch konsequent durchgehalten wird, um bei den wirtschaftlichen Akteuren neues Vertrauen zu schaffen.5Vgl. Etudes économiques de l‘OCDE, France, Paris, März 2015, Seite 10. Ähnlich Patrick Artus, Quelles sont les réformes structurelles les plus urgentes pour redresser la croissance de long terme? Natixis, Flash problèmes structurels, 144, 19. Februar 2015 (http://tinyurl.com/zyvwxk7).

Genau daran bestehen allerdings erhebliche Zweifel. Zu lange hat es Hollande versäumt, den Reformkurs kraftvoll und offensiv zu begründen. Stattdessen ließ er zu, dass führende sozialistische Regierungspolitiker (unter anderem der Wirtschaftsminister!) den Kurs offen als Irrtum infrage stellten, und nährte damit ständig Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner neuen Politik. Erst im März 2014, nach der Ernennung des entschiedenen Reformpolitikers Manuel Valls zum Premierminister (Wirtschaftsminister wurde der umtriebige, vor Tabubrüchen der Linken nicht zurückschreckende Reformer Emmanuel Macron), wurde der Reformkurs klarer sichtbar. Dafür wuchs die Ablehnungsfront in der Sozialistischen Partei und bei ihren Abgeordneten. An die 50 sozialistische Parlamentarier verweigerten der Regierung bei zwei wichtigen Reformgesetzen ihre Zustimmung, sodass die Regierung die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verbinden musste. 25 von ihnen haben im Mai 2016 sogar zusammen mit anderen linkssozialistischen Parlamentariern vergeblich versucht, einen Misstrauensantrag gegen die eigene Regierung zustande zu bringen. Die gegenwärtig noch laufenden parlamentarischen Beratungen zum Gesetz über die – insgesamt gemäßigte – Arbeitsmarktreform sind zu einer wahren Kraftprobe zwischen der Regierung, großen Teilen der Sozialistischen Partei und manchen Gewerkschaften geworden. So hat die Gewerkschaft CGT versucht, mit Aktions- und Protesttagen, wiederholten politischen Streiks sowie einer Blockade der Raffinerien das Land zu paralysieren und eine soziale Mobilisierung zu erzeugen, um das Arbeitsmarktgesetz noch zu Fall zu bringen.

All dies schafft ein politisches und soziales Klima der Polarisierung, des Misstrauens, ja der Intoleranz, in dem moderate und differenzierte Stimmen zugunsten rechts- und linkspopulistischer Vereinfachungen zunehmend an den Rand gedrängt werden. Hollande und seine Regierung verzeichnen einen in dieser Form noch nicht erlebten Vertrauensverlust seitens der Bevölkerung. Die Sozialisten erlitten heftige Schlappen bei den Kommunal- und Regionalwahlen, von denen die rechtsextreme „Nationale Front“ (Front national) mehr noch als die Konservativen profitierte. Die bewundernswerte Geschlossenheit, mit der Gesellschaft und Politik den blutigen Terroranschlägen begegnet sind, war nur von kurzer Dauer.

Derzeit deutet wenig auf eine Verbesserung der Lage hin. Die leichte wirtschaftliche Erholung, die sich in diesem Frühjahr abzeichnet, ist in erster Linie externen Faktoren geschuldet (Ölpreisverfall, sinkender Eurokurs, niedrige Zinsen) und noch zu ungewiss, um die politische Stimmung zu verändern. Eine Regierung ohne eigene gestalterische Mehrheit, eine zutiefst gespaltene Regierungspartei, eine ebenfalls wenig geschlossene, von persönlichen Machtkämpfen beherrschte konservative Opposition, starke Populisten auf der Linken und vor allem auf der Rechten sowie eine verbreitete Politikverdrossenheit: Frankreich droht ein politischer Immobilismus bis zu den entscheidenden Präsidentschaftswahlen im April/Mai 2017.

Dennoch gibt es auch Zeichen der Hoffnung. Frankreichs Wirtschaft – das wird bei aller Schwarzmalerei oft vergessen – verfügt über eine Reihe von Stärken und Potenzialen: leistungsfähige öffentliche Infrastrukturen (Verkehr, Kommunikation, Energie, Datennetze, öffentliche Daseinsvorsorge, Forschungseinrichtungen), starke Wettbewerbspositionen in zahlreichen Branchen (zum Beispiel Luft- und Raumfahrt, Energie, Straßen- und Schienenfahrzeuge, Rüstungs- und Luxusgüter, kommunale Dienstleistungen, Hoch- und Tiefbau) mit entsprechend weltweit erfolgreichen Großunternehmen, um nur die wichtigsten zu nennen.6Vgl. dazu Henrik Uterwedde, Frankreichs Wirtschaft. Potenziale und Herausforderungen, in: Politische Studien 447/2013, Seiten 60–70 (http://tinyurl.com/znvujso). Es gibt ferner, auch und gerade bei jungen Menschen, einen ausgeprägten Unternehmungsgeist und viel Kreativität, was sich in einer hohen Zahl von Unternehmensgründungen und Start-ups niederschlägt – eine Entwicklung, die leider durch zahllose bürokratische Überregulierungen gehemmt wird. Darüber hinaus verfügt die französische Gesellschaft mit ihrer hohen Geburtenrate über eine Dynamik, die sich in den kommenden Jahren als Vorteil auswirken kann. Schließlich weist die aus Reformblockaden, ideologischen Polarisierungen und sozialen Verkrampfungen bestehende Betonmauer zunehmend Risse auf, weil ihr Widerspruch zur realen Welt immer offenkundiger wird. Immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, dass ein krampfhaftes Festhalten an überholten Strukturen in die Sackgasse führt und dass das französische Politik-, Wirtschafts- und Sozialmodell der Erneuerung bedarf, um sich auch im 21. Jahrhundert behaupten zu können. Entsprechende Reformkräfte finden sich in allen Parteien, aber auch bei der mittlerweile stärksten Gewerkschaft CFDT. Die kommenden Monate und auch die Wahlen 2017 werden zeigen, inwieweit diese Kräfte der Erneuerung sich gegen ideologischen Immobilismus und politische Blockaden durchsetzen können.

Die schwierige Suche nach deutsch-französischen Kompromissen

Auf jeden Fall wird Frankreich Zeit benötigen, um wieder ein starker, selbstbewusster Partner zu werden. Selbst dann bleibt die Frage: Ziehen Frankreich und Deutschland überhaupt an einem Strang? Die zahlreichen Auseinandersetzungen seit Ausbruch der Euro-Krise 2010 scheinen eine andere Sprache zu sprechen. Ob es sich um Hilfen für Griechenland handelte, um die Einrichtung eines Rettungsfonds, die Stabilitätsregeln oder die Vergemeinschaftung von Schulden: Immer wieder prallten deutsche und französische Positionen aufeinander, oft begleitet von wechselseitigen Vorwürfen und Unterstellungen in den Medien.7Zu den wechselseitigen Wahrnehmungen in den Medien vgl. Claire Demesmay/Christine Pütz/Hans Stark (Hrsg.), Frankreich und Deutschland – Bilder, Stereotype, Spiegelungen, Baden-Baden 2016.

Hintergrund dieser Auseinandersetzungen ist, dass beide Länder mit der Wirtschafts- und Währungsunion unterschiedliche, teils sogar gegensätzliche Vorstellungen und Erwartungen verbinden. Das ist nicht neu: Schon in den Anfängen der europäischen Integration standen Deutschland und Frankreich für zwei unterschiedliche Leitbilder, was die wirtschaftspolitische Rolle der Europäischen Union betrifft. Für Frankreich sollte die EU ein wirtschaftspolitischer Akteur sein, der mit entsprechenden Kompetenzen und Instrumenten ausgestattet sein sollte, um auf verschiedenen Feldern intervenieren zu können. Aus deutscher, vom Ordoliberalismus beeinflusster Sicht sollte die EU in erster Linie eine ordnungspolitische, regulative Funktion ausüben: Setzung der Rahmenbedingungen und Spielregeln des Binnenmarktes und später der Wirtschafts- und Währungsunion, aber keine interventionistische Rolle. Dazu kommen Unterschiede in den wirtschaftspolitischen Präferenzen, die sich mit den jeweiligen historischen Problemen und Herausforderungen beider Länder in der Nachkriegszeit erklären lassen: Wachstum und Beschäftigung in Frankreich, Preis- und Haushaltsstabilität in Deutschland.8Vgl. dazu Jean-Marc Trouille/Henrik Uterwedde, Frankreich, Deutschland und die europäische Wirtschaftspolitik. Kooperation mit Hindernissen, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.), Frankreich-Jahrbuch 2012, Wiesbaden 2013, Seiten 123–139.

Was die Währungsunion betrifft, so hatte Deutschland seine Vorstellungen im Maastricht-Vertrag von 1991 weitestgehend durchgesetzt. Als in der Krise die Grenzen und Schwächen dieser Konstruktion sichtbar wurden, brachen die Gegensätze aber wieder auf. Die Suche nach Kompromissen war auch deshalb erschwert, weil man sich gegenseitig unlautere Hintergedanken unterstellte: In Deutschland gab es den Verdacht, dass Frankreich und einige andere Partner im Süden die Krise nutzen wollten, um die Maastricht-Architektur nach ihrem Gusto umzuschreiben und zum Beispiel unbequeme Stabilitätsregeln abzuschaffen; in Frankreich kursierten Vorwürfe, die Deutschen seien egoistisch und wollten den Nachbarn eine – als Ursache der Wirtschaftskrise empfundene – „Austeritätspolitik“ aufzwingen.

Dennoch: Die genannten Unterschiede haben beide Partner nicht daran gehindert, in enger Zusammenarbeit nach Lösungen zu suchen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Währungsunion ein historisch einmaliges Projekt ist, dass es keine Blaupause für die Überwindung ihrer Krise seit 2010 gegeben hat, dass insofern Irrtümer und Fehlentwicklungen nicht auszuschließen waren und dass es – wie beschrieben – sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Funktionsweise und Weiterentwicklung der Währungsunion gab und gibt. Gemessen daran stellen die inzwischen erreichten Fortschritte, die fast immer auf deutsch-französischen Vorschlägen und Kompromissen beruhen (Europäischer Stabilitätsmechanismus, verbesserte Stabilitätsregeln, Überwachung der nationalen Haushaltsentwürfe, Fiskalpakt, Bankenunion, Juncker-Plan für Investitionen), eine große Leistung dar.

Generell gilt es, die deutsch-französischen Unterschiede richtig einzuschätzen. Europa basiert auf der Vielfalt der nationalen Kulturen, Strukturen, Leitbilder und Handlungsansätze und Präferenzen. Die europäische Integration besteht darin, diese unterschiedlichen Elemente langsam zusammenzuführen, was nur durch – möglichst konstruktive – Kompromisse möglich ist. Hier liegt die besondere Rolle Frankreichs und Deutschlands: Gerade weil sie in gewisser Weise zwei wirtschaftspolitische Traditionen und Handlungsansätze verkörpern, ist ihre Fähigkeit, Brücken zu bauen und Kompromisse zu erarbeiten, so unersetzbar für die Europäische Union. Im Verlauf der jahrzehntelangen Zusammenarbeit beider Regierungen haben sich überdies viele Unterschiede relativiert und ihren grundsätzlichen, trennenden Charakter verloren; auch dies hat die Suche nach Kompromissen erleichtert.

Wie funktioniert diese Konvergenzarbeit? Ein von den beiden Finanzministern Wolfgang Schäuble und Michel Sapin gemeinsam verfasstes Buch („Anders gemeinsam“), das zur Lektüre dringend empfohlen werden kann, bietet dazu aufschlussreiche Einsichten.9Wolfgang Schäuble/Michel Sapin, Anders gemeinsam. Ein deutsch-französisches Gespräch über Flüchtlinge, Griechenland, Europa, den Euro und die schwarze Null, Hamburg 2016. Schon der Titel verweist auf die seit jeher bestehende, in entscheidenden Situationen oft produktive Spannung zwischen Differenzen und gemeinsamer Arbeit an Kompromissen für Europa. Die Gespräche zwischen den Ministern berühren ausführlich alle kritischen und kontroversen Fragen, von der Griechenlandkrise über die Stabilitätsregeln, die Spar- und Reformpolitik bis hin zu den Vorstellungen für die weitere Zukunft der Währungsunion. Sie geben einen guten, anschaulichen, immer wieder sehr konkreten Einblick in die unterschiedlichen Problemlagen, Denkmuster und Handlungsansätze beider Länder, ebenso wie in die Mechanismen der deutsch-französischen „Konsensfindungsmaschine“. Der deutsche Christdemokrat und der französische Sozialist verschweigen nicht ihre Differenzen, aber sie bleiben auch nicht dabei stehen und suchen pragmatisch nach gangbaren Wegen für Europa. Es wird deutlich, wie steinig der Weg zu deutsch-französischen Gemeinsamkeiten und europäischen Lösungen ist, wie viel gemeinsame europäische Grundüberzeugung, Verständnis für Handlungszwänge und Sorgen des Partners, Pragmatismus und Mut zu unvollkommenen Kompromissen notwendig sind, um solchen Lösungen den Weg zu ebnen. Es sind diese Tugenden, die alle wichtigen Meilensteine der europäischen Integration ermöglicht haben, auf der Grundlage einer europäischen Verantwortungsethik, die erkennt, dass jeder Rückfall in nationale Egoismen ein verhängnisvoller Trugschluss wäre.

Dies ist ermutigend in einer Zeit, in der Brüssel-Bashing zur Mode geworden ist, in der allenthalben – auch in Deutschland! – nationale Prinzipienreiterei betrieben wird und in der politische Scharlatane jeglicher Couleur simple nationale Scheinlösungen für komplexe europäische Problemlagen suggerieren. Die von Michel Sapin und Wolfgang Schäuble in ihrem Buch aufgezeigte Methode pragmatischer, mühseliger Kompromissfindung unter oft wechselnden europäischen und innenpolitischen Rahmenbedingungen mag in vieler Hinsicht unbefriedigend sein, aber sie bleibt unverzichtbar. Auch wenn die deutsch-französische Kooperation sich derzeit in einer politischen Formkrise befindet und vor allem der französische Partner schwächelt: Deutschland und Frankreich bleiben aufeinander angewiesen. Nur gemeinsam können sie es schaffen, die Europäische Union zu konsolidieren und vor dem drohenden Zerfall zu bewahren.

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Fussnoten

  • 1
    Dies ist das zentrale Argument von drei renommierten französischen Ökonomen; vgl. Philippe Aghion/Gilbert Cette/Elie Cohen, Changer de modèle, Paris 2014.
  • 2
    Die Staatsquote misst die Summe aller öffentlichen Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt.
  • 3
    Zu den Strukturproblemen zusammenfassend Henrik Uterwedde, Zeit für Reformen: Frankreichs Wirtschaft im Wahljahr, DGAP Analyse 5/2012 (http://tinyurl.com/hzsuq2k).
  • 4
    Zu den wesentlichen Reformgesetzen vgl. ausführlich Henrik Uterwedde, Hollandes Wirtschaftspolitik, in: Richard Rill (Hrsg.), Frankreich im Umbruch. Innerer Reformdruck und außenpolitische Herausforderungen, München 2015, Seiten 33–43 (http://tinyurl.com/j9mlnsj).
  • 5
    Vgl. Etudes économiques de l‘OCDE, France, Paris, März 2015, Seite 10. Ähnlich Patrick Artus, Quelles sont les réformes structurelles les plus urgentes pour redresser la croissance de long terme? Natixis, Flash problèmes structurels, 144, 19. Februar 2015 (http://tinyurl.com/zyvwxk7).
  • 6
    Vgl. dazu Henrik Uterwedde, Frankreichs Wirtschaft. Potenziale und Herausforderungen, in: Politische Studien 447/2013, Seiten 60–70 (http://tinyurl.com/znvujso).
  • 7
    Zu den wechselseitigen Wahrnehmungen in den Medien vgl. Claire Demesmay/Christine Pütz/Hans Stark (Hrsg.), Frankreich und Deutschland – Bilder, Stereotype, Spiegelungen, Baden-Baden 2016.
  • 8
    Vgl. dazu Jean-Marc Trouille/Henrik Uterwedde, Frankreich, Deutschland und die europäische Wirtschaftspolitik. Kooperation mit Hindernissen, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.), Frankreich-Jahrbuch 2012, Wiesbaden 2013, Seiten 123–139.
  • 9
    Wolfgang Schäuble/Michel Sapin, Anders gemeinsam. Ein deutsch-französisches Gespräch über Flüchtlinge, Griechenland, Europa, den Euro und die schwarze Null, Hamburg 2016.
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Fussnoten

  • 1
    Dies ist das zentrale Argument von drei renommierten französischen Ökonomen; vgl. Philippe Aghion/Gilbert Cette/Elie Cohen, Changer de modèle, Paris 2014.
  • 2
    Die Staatsquote misst die Summe aller öffentlichen Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt.
  • 3
    Zu den Strukturproblemen zusammenfassend Henrik Uterwedde, Zeit für Reformen: Frankreichs Wirtschaft im Wahljahr, DGAP Analyse 5/2012 (http://tinyurl.com/hzsuq2k).
  • 4
    Zu den wesentlichen Reformgesetzen vgl. ausführlich Henrik Uterwedde, Hollandes Wirtschaftspolitik, in: Richard Rill (Hrsg.), Frankreich im Umbruch. Innerer Reformdruck und außenpolitische Herausforderungen, München 2015, Seiten 33–43 (http://tinyurl.com/j9mlnsj).
  • 5
    Vgl. Etudes économiques de l‘OCDE, France, Paris, März 2015, Seite 10. Ähnlich Patrick Artus, Quelles sont les réformes structurelles les plus urgentes pour redresser la croissance de long terme? Natixis, Flash problèmes structurels, 144, 19. Februar 2015 (http://tinyurl.com/zyvwxk7).
  • 6
    Vgl. dazu Henrik Uterwedde, Frankreichs Wirtschaft. Potenziale und Herausforderungen, in: Politische Studien 447/2013, Seiten 60–70 (http://tinyurl.com/znvujso).
  • 7
    Zu den wechselseitigen Wahrnehmungen in den Medien vgl. Claire Demesmay/Christine Pütz/Hans Stark (Hrsg.), Frankreich und Deutschland – Bilder, Stereotype, Spiegelungen, Baden-Baden 2016.
  • 8
    Vgl. dazu Jean-Marc Trouille/Henrik Uterwedde, Frankreich, Deutschland und die europäische Wirtschaftspolitik. Kooperation mit Hindernissen, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.), Frankreich-Jahrbuch 2012, Wiesbaden 2013, Seiten 123–139.
  • 9
    Wolfgang Schäuble/Michel Sapin, Anders gemeinsam. Ein deutsch-französisches Gespräch über Flüchtlinge, Griechenland, Europa, den Euro und die schwarze Null, Hamburg 2016.