Prof. Dr. Richard Reichel
FOM Hochschule, Essen, und Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Genossenschaftswesen an der Universität Erlangen-Nürnberg

Die Soziallehre der Kirche steht in enger Verbindung zur Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft. Allerdings haben sich die Gewichte zwischen Marktwirtschaft und Staatsinterventionen im Laufe der Zeit immer wieder verschoben.

Päpstliche Sozialenzykliken sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Hauptquelle für die katholische Soziallehre und als solche für die Entwicklung einer sozialethischen und wirtschaftsordnungstheoretischen Position der Kirche von zentraler Bedeutung. Herausragende Bedeutung haben dabei die Enzykliken Rerum novarum (1891, Leo XIII.), Quadragesimo anno (1931, Pius XI.), Mater et magistra (1961, Johannes XXIII.) und Centesimus annus (1991, Johannes Paul II.).

All diesen Stellungnahmen gemein ist einerseits die Anerkennung des Privateigentums an Produktionsmitteln und damit verbunden einer marktwirtschaftlichen Ordnung, andererseits werden aber auch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums hervorgehoben und die Rechte der Arbeitnehmer betont. Die Soziallehre der Kirche steht damit in enger Verbindung zur Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft. Allerdings haben sich die Gewichte der Elemente „Marktwirtschaft“ und „Staatsinterventionen“ im Laufe der Zeit immer wieder verschoben. Unmittelbar davon beeinflusst wurde die kirchliche Position gegenüber dem Sozialismus in seinen verschiedenen Spielarten.

Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, dass sich Ökonomen und Wirtschaftsphilosophen mit den wirtschaftsethischen und ordnungstheoretischen Aspekten der päpstlichen Lehrschreiben beschäftigen und diese interpretieren und kritisch kommentieren. Die Einschätzungen sind durchaus unterschiedlich. Während etwa Martin Rhonheimer1Vgl. Martin Rhonheimer, Katholische Soziallehre: Barmherzig sollen die anderen sein, in: NZZ vom 8. November 2016; https://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/katholische-soziallehre-barmherzig-sollen-die-anderen-sein-ld.126978?reduced=true (18. Oktober 2020). eine in jüngerer Zeit zunehmende Abkehr von marktwirtschaftsfreundlichen Positionen beklagt, ist Bernhard Emunds der Ansicht, weitgehende sozialstaatliche Aktivitäten seien immer schon im Sinne der kirchlichen Sozialverkündigung gewesen.2Vgl. Bernhard Emunds, Stellungnahmen zu den Einlassungen von Martin Rhonheimer in der NZZ und FAZ, Oswald von Nell-Breuning Institut, Frankfurt am Main, Mai 2016; https://nbi.sankt-georgen.de/assets/typo3/redakteure/Dokumente/2016/Stellungnahme_Emunds_Rhonheimer_Mai2016.pdf (18. Oktober 2020).

Im Gegensatz zu diesen eher normativ geprägten Einschätzungen steht die positive Analyse von Ernst Dürr, der die Enzyklika Centesimus annus daraufhin untersucht, inwieweit die Aussagen von Johannes Paul II. den ordnungstheoretischen Leitideen der Sozialen Marktwirtschaft entsprechen. Dürr geht auch ausführlich auf das Verhältnis zu sozialistischen, interventionistischen und wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen ein.3Vgl. Ernst Dürr, Die Enzyklika „Centesimus annus“ und die Soziale Marktwirtschaft, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 48, 1997, Seiten 779–785. Er kommt zum Ergebnis, dass sich die Aussagen der Enzyklika in weitestgehender Übereinstimmung mit den Ideen der Sozialen Marktwirtschaft befinden. Mit Blick auf die (insbesondere lateinamerikanischen) Entwicklungsländer weist Dürr auf die Notwendigkeit einer marktkonformen Sozialpolitik hin, um der dort herrschenden oftmals extrem ungleichen Einkommensverteilung entgegenzuwirken.4Vgl. Ernst Dürr, Die Enzyklika „Centesimus annus“ und die Soziale Marktwirtschaft, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 48, 1997, Seite 782.

Insgesamt wird die Enzyklika Centesimus annus als marktwirtschaftsfreundlich, ja streckenweise sogar „ordoliberal“ bezeichnet.5Vgl. Nils Goldschmidt, Katholische Sozialethik und die Soziale Markwirtschaft, in: Karlies Abmeier/Petra Bahr (Hrsg.), Katholizismus – eine politische Kraft, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., St. Augustin/Berlin, Seiten 37–44; https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=decb1a3b-4b6f-975e-7fd8-9df2eecebdbe&groupId=252038 (18. Oktober 2020); vgl. auch Karl Lehmann, Notwendiger Wandel der Sozialen Marktwirtschaft?, Vortrag am 13. Juni 2002 in Berlin; https://bistummainz.de/organisation/ehemalige-mainzer-bischoefe/kardinal-lehmann/texte-predigten/a-blog/Notwendiger-Wandel-der-Sozialen-Marktwirtschaft/ (18. Oktober 2020). Sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sozialverkündigung der Kirche als Ganze von einem großen Interpretationsspielraum geprägt ist. Dieser reicht von den unternehmerfreundlichen Positionen von Joseph Kardinal Höffner bis zu den kapitalismusfeindlichen, weit ins marxistische Spektrum hineinreichenden Thesen der Theologie der Befreiung, wenngleich diese nie offizieller Bestandteil der Soziallehre der Kirche war.6Vgl. Joseph Höffner, Soziallehre der Kirche oder Theologie der Befreiung?, Eröffnungsreferat bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, Fulda, 24. September 1984; https://www.dbk-shop.de/de/publikationen/der-vorsitzende-bischofskonferenz/soziallehre-kirche-theologie-befreiung.html?dl_media=28101 (18. Oktober 2020). Dennoch haben Befreiungstheologen wie Gustavo Gutierrez, Leonardo Boff oder Ernesto Cardenal in Lateinamerika und darüber hinaus erhebliche Bedeutung erlangt. Boff bezieht sich ausdrücklich auf Karl Marx.7Vgl. Interview mit Leonardo Boff, Marxismus als Werkzeug; https://www.goethe.de/ins/ve/de/kul/fok/hum/21253100.html Offiziell hielt der Vatikan zur Theologie der Befreiung Distanz, insbesondere die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. standen ihr ablehnend gegenüber.8Vgl. Klaus-Dieter Heiser, Ernesto Cardenal und die Theologie der Befreiung; https://www.marx21.de/ernesto-cardenal-theologie-der-befreiung/ (8. Januar 2021). Bei Papst Franziskus ist ein Bruch mit dieser Haltung erkennbar.9Vgl. Gerhard Kruip, Die Befreiung und die Förderung der Armen, Kirche und Gesellschaft Nr. 408; https://ordosocialis.de/pdf/Kruip/408-Papst-19-03-14%20final.pdf (8. Januar 2021).

Die ökonomischen Aussagen in „Fratelli tutti“

Papst Franziskus unterzeichnete am 3. Oktober 2020 die Enzyklika Fratelli tutti, die sich einer ganzen Reihe von Problemen widmet. Zu nennen sind die Folgen der Corona-Epidemie, die weltweite wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Fragen der Migration oder der Berechtigung von Kriegen. Die Enzyklika hat in den vergangenen Wochen eine Vielzahl von Stellungnahmen ausgelöst, zustimmende und kritische. Eine prägnante Zusammenfassung des weitschweifigen und teilweise schwer zu lesenden Texts hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, geliefert.10 Vgl. Georg Bätzing, Würdigung der neuen Enzyklika Fratelli tutti, Pressekonferenz am 4. Oktober 2020 in Limburg; https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-159a-W%C3%BCrdigung-Bischof-B%C3%A4tzing-%C3%BCber-die-Sozialenzyklika-Fratelli-tutti-Kurzfassung.pdf (18. Oktober 2020).

Nachfolgend wird ein wichtiger Teilbereich – die wirtschafts- und sozialpolitischen Thesen – herausgegriffen und einer Überprüfung aus der Sicht der Ordnungsökonomie, aber auch der empirischen Wirtschaftsforschung unterzogen. Bislang gibt es einige wenige Stellungnahmen von Ökonomen, beispielsweise vom Präsidenten des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, Clemens Fuest. Er äußert sich sehr kritisch und wirft dem Papst „Vorurteile und Unwahrheiten“ vor und kritisiert die Position des Papstes gegenüber der Marktwirtschaft scharf.11Siehe im katholischen Online-Magazin Kirche+Leben https://www.kirche-und-leben.de/artikel/scharfe-kritik-an-fratelli-tutti-von-wirtschafts-experte-fuest (18. Oktober 2020). Das vollständige Interview mit Clemens Fuest findet man unter https://www.kath.ch/newsd/wirtschaftsforscher-sieht-in-enzyklika-fehleinschaetzungen-und-ideologie/.

Eher zustimmend ist dagegen die Reaktion von Joachim Wiemeyer, Sozialethiker an der Universität Bochum. Er weist darauf hin, dass Papst Franziskus die Rolle des (sozial verantwortlichen) Unternehmers würdige und den Rückgang der weltweiten absoluten Armut „zur Kenntnis nehme“. Letzteres klingt freilich nicht nach einem Plädoyer für die Marktwirtschaft.12 Siehe unter https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2020-10/deutschland-sozialethiker-wiemeyer-fratelli-tutti-lob-kommentar.html (18. Oktober 2020).

Auszüge aus der Enzyklika Fratelli Tutti13Die Enzyklika Fratelli Tutti findet sich im Volltext unter http://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html

12. „Offen sein zur Welt“ ist ein Ausdruck, den sich die Wirtschaft und die Finanzwelt zueigen gemacht haben. Er bezieht sich ausschließlich auf die Öffnung gegenüber den ausländischen Interessen oder auf die Freiheit der Wirtschaftsmächte, ohne Hindernisse und Schwierigkeiten in allen Ländern zu investieren. Die örtlichen Konflikte und das Desinteresse für das Allgemeinwohl werden von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert, um ein einziges kulturelles Modell durchzusetzen. Eine solche Kultur eint die Welt, trennt aber die Menschen und die Nationen, denn „die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwistern“. Wir sind einsamer denn je in dieser durch Vermassung gekennzeichneten Welt, welche die Einzelinteressen bevorzugt und die gemeinschaftliche Dimension der Existenz schwächt. Es gibt vor allem mehr Märkte, wo den Menschen die Rolle von Verbrauchern oder Zuschauern zukommt. Das Fortschreiten dieses Globalismus begünstigt normalerweise die stärkeren Gebiete, die sich selbst behaupten, sucht aber die schwächsten und ärmsten Regionen zu beeinträchtigen, indem es sie verwundbarer und abhängiger macht. Auf diese Weise wird die Politik gegenüber den multinationalen wirtschaftlichen Mächten, die das „Teile und herrsche“ anwenden, immer zerbrechlicher.

21. Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich als wirksam für das Wachstum, aber nicht gleicherweise für die Gesamtentwicklung des Menschen erweisen. Der Reichtum wächst, aber auf ungleiche Weise, und so „entstehen neue Formen der Armut“. Wenn man sagt, dass die moderne Welt die Armut verringert habe, so misst man hier mit Maßstäben anderer Epochen, die nicht mit der aktuellen Wirklichkeit vergleichbar sind. In anderen Zeiten wurde zum Beispiel die Tatsache, dass man keinen Zugang zur elektrischen Energie hatte, nicht als Zeichen der Armut betrachtet und gab keinen Anlass zu Sorge. Man untersucht und man versteht die Armut immer nur im Zusammenhang mit den wirklichen Gegebenheiten eines bestimmten historischen Moments.

22. „[…] Es gibt heute in der Welt weiterhin zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit, genährt von verkürzten anthropologischen Sichtweisen sowie von einem Wirtschaftsmodell, das auf dem Profit gründet und nicht davor zurückscheut, den Menschen auszubeuten, wegzuwerfen und sogar zu töten. Während ein Teil der Menschheit im Überfluss lebt, sieht der andere Teil die eigene Würde aberkannt, verachtet, mit Füßen getreten und seine Grundrechte ignoriert oder verletzt“. […]

105. Der Individualismus macht uns nicht freier, gleicher oder brüderlicher. Die bloße Summe von Einzelinteressen ist nicht in der Lage, eine bessere Welt für die gesamte Menschheit zu schaffen. Sie kann uns auch nicht vor so vielen immer globaler auftretenden Übeln bewahren. […]

109. Einige wachsen in Familien mit guten wirtschaftlichen Voraussetzungen auf, erhalten eine solide Ausbildung, sind wohl genährt aufgewachsen oder besitzen von Natur aus bemerkenswerte Fähigkeiten. Sie werden sicherlich keinen aktiven Staat brauchen und nur Freiheit einfordern. Aber offensichtlich gilt das nicht für Menschen mit einer Behinderung, für Menschen aus einem armen Elternhaus, für Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau oder solche, die kaum Chancen auf eine angemessene Behandlung ihrer Krankheiten haben. Wenn die Gesellschaft in erster Linie auf den Kriterien des freien Marktes und der Leistung beruht, ist für sie kein Platz, […].

116. „… [Solidarität] bedeutet auch, dass man gegen die strukturellen Ursachen der Armut kämpft: Ungleichheit, das Fehlen von Arbeit, Boden und Wohnung, die Verweigerung der sozialen Rechte und der Arbeitsrechte. Es bedeutet, dass man gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Herrschaft des Geldes kämpft […].“

119. […] Wenn jemand nicht das Notwendige zu einem Leben in Würde hat, liegt das daran, dass ein anderer sich dessen bemächtigt hat. Der heilige Johannes Chrysostomus fasst dies mit den Worten zusammen: „Den Armen nicht einen Teil seiner Güter zu geben bedeutet, von den Armen zu stehlen, es bedeutet, sie ihres Lebens zu berauben; und was wir besitzen, gehört nicht uns, sondern ihnen“. Ähnlich drückt sich der heilige Gregor der Große aus: „Wenn wir den Armen etwas geben, geben wir nicht etwas von uns, sondern wir geben ihnen zurück, was ihnen gehört“.

123. Die Unternehmertätigkeit ist in der Tat eine edle Berufung, „die darauf ausgerichtet ist, Wohlstand zu erzeugen und die Welt für alle zu verbessern“. Gott fördert uns, er erwartet von uns, dass wir die Fähigkeiten entfalten, die er uns gegeben hat, und er hat der Welt sehr viele Möglichkeiten geschenkt. Sein Plan für uns ist es, dass jeder Mensch sich entwickelt und dazu gehört, auch die Förderung wirtschaftlicher und technologischer Fähigkeiten, um Güter und den Wohlstand zu mehren. In jedem Fall aber sollten diese Fähigkeiten der Unternehmer, die ein Geschenk Gottes sind, klar auf die Entwicklung anderer Menschen und auf die Überwindung der Armut ausgerichtet sein, insbesondere durch die Schaffung vielfältiger Beschäftigungsmöglichkeiten. Immer gibt es neben dem Recht auf Privatbesitz das vorrangige und vorgängige Recht der Unterordnung allen Privatbesitzes unter die allgemeine Bestimmung der Güter der Erde und daher das allgemeine Anrecht auf seinen Gebrauch.

138. Dies war schon immer bekannt, doch heute, in einer Welt, die durch die Globalisierung so sehr miteinander verbunden ist, ist es offensichtlicher denn je. Wir brauchen eine rechtliche, politische und wirtschaftliche Weltordnung, „die die internationale Zusammenarbeit auf die solidarische Entwicklung aller Völker hin fördert und ausrichtet“. Dies kommt letztlich dem ganzen Planeten zugute, denn „Entwicklungshilfe für die armen Länder“ bedeutet „Vermögensschaffung für alle“. Unter dem Gesichtspunkt ganzheitlicher Entwicklung setzt dies voraus, dass „auch den ärmeren Nationen eine wirksame Stimme in den gemeinschaftlichen Entscheidungen zuerkannt wird“ und dass Anstrengungen unternommen werden, „den von Armut und Unterentwicklung gezeichneten Ländern Zugang zum internationalen Markt zu verschaffen“.

168. Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkeimenden Herausforderung immer die gleichen Rezepte herauszieht. Der Neoliberalismus regeneriert sich immer wieder neu auf identische Weise, indem er – ohne sie beim Namen zu nennen – auf die magische Vorstellung des Spillover oder die Trickle-down-Theorie als einzige Wege zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme zurückgreift. Man sieht nicht, dass die vorgebliche Neuverteilung nicht die soziale Ungerechtigkeit aufhebt, die ihrerseits Quelle neuer Formen von Gewalt ist, die das gesellschaftliche Gefüge bedrohen. Einerseits ist eine aktive Wirtschaftspolitik unverzichtbar, die darauf ausgerichtet ist „eine Wirtschaft zu fördern, welche die Produktionsvielfalt und die Unternehmerkreativität begünstigt“, damit es möglich ist, die Anzahl von Arbeitsplätzen zu erhöhen, anstatt sie zu senken. Eine Finanzspekulation mit billigem Gewinn als grundlegendem Ziel richtet weiter Unheil an. Andererseits kann der Markt „ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen. Heute ist dieses Vertrauen verlorengegangen.“ Damit hat die Geschichte nicht aufgehört, und die dogmatischen Rezepte der herrschenden Wirtschaftstheorie haben sich als fehlbar erwiesen. […]

177. Ich darf betonen: „Die Politik darf sich nicht der Wirtschaft unterwerfen, und diese darf sich nicht dem Diktat und dem effizienzorientierten Paradigma der Technokratie unterwerfen.“ […]

Fasst man diese Thesen zusammen, so lässt sich einerseits eine grundsätzlich positive Sicht des Papstes auf den Unternehmer konstatieren, andererseits ist Franziskus augenscheinlich der Meinung, Wirtschaften im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft beruhe auf Ausbeutung der Armen und begünstige somit die Entstehung von Armut. Deshalb sei aktives staatliches Eingreifen, auch auf internationaler Ebene erforderlich, um die negativen Effekte zu begrenzen. Eine besonders negative Meinung hat der Papst vom Neoliberalismus, der – so lässt sich zwischen den Zeilen lesen – weltweit dominierend, zumindest aber sehr bedeutend sei.

Angesichts solcher Thesen ist die kritische Reaktion von Clemens Fuest nicht verwunderlich. Dieser sieht sich offenkundig etwas in die Defensive gedrängt, denn er verweist darauf, dass es eine freie, unregulierte Marktwirtschaft ohnehin nicht gebe. Fuest sagt dazu: „Es gibt kein Land auf der Welt, in dem eine ungeregelte Marktwirtschaft ohne staatliche Einflüsse existiert.“14Clemens Fuest im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur, 5. Oktober 2020; https://www.kath.ch/newsd/wirtschaftsforscher-sieht-in-enzyklika-fehleinschaetzungen-und-ideologie/

Im Folgenden sollen die Thesen von Papst Franziskus (und die von Clemens Fuest) genauer beleuchtet und einer empirischen Überprüfung unterzogen werden.

Die Thesen und die Realität

Einige Thesen des Papstes sind von eher normativer Art, bei anderen handelt es sich um Aussagen über die Wirklichkeit, die einer empirischen Überprüfung zugänglich sind. Eher normativer Natur sind folgende Thesen:

These 1: Gemeinwohl ist mehr als die Summe aller individuellen Wohlergehen.

Diese These steht tendenziell im Widerspruch zur liberalen Theorie, die mit dem Begriff des Gemeinwohls wenig anzufangen weiß. Die kirchliche Soziallehre sieht dies anders, das Gemeinwohl spielt bekanntlich eine besondere Rolle. Allerdings ist es eine zeitraubende und kontroverse Angelegenheit, den Begriff zu definieren. Deshalb ist es sinnvoll, auf die Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Rationalität abzustellen.

Bekanntlich zeigt das spieltheoretische Modell des Gefangenendilemmas, dass die Verfolgung individueller nutzenmaximierender Strategien nicht notwendigerweise das gesellschaftliche Optimum im Sinne eines maximalen gesellschaftlichen Nutzens herbeiführt. Individuell rationales Verhalten führt dann zu einer kollektiven Selbstschädigung. Praktische Beispiele für das Gefangenendilemma gibt es zuhauf. Beispielsweise können Phänomene wie der Rüstungswettlauf, ein Bank Run oder auch nationale Alleingänge bei der Bekämpfung einer Pandemie herangezogen werden. Einige Abschnitte in der Enzyklika sprechen dafür, dass der Papst diese Problematik meint.

Wenn dem so ist, dann ist Franziskus recht zu geben und Kritik an seinen Ausführungen ungerechtfertigt. „Gemeinwohl“ könnte auch – weiter gefasst – als alle jene Bedingungen verstanden werden, die der Entfaltung der einzelnen Persönlichkeit förderlich sind. Auch dann ergibt sich kein Widerspruch zur liberalen Sichtweise. Diesen würde es erst dann geben, wenn mit Gemeinwohl das abstrakte Wohl einer übergeordneten Einheit (Klasse, Volk) gemeint wäre. Ein solches genuin kollektivistisches Konstrukt existiert in der kirchlichen Lehre indes nicht.

These 2: Unternehmertum ist eine Gabe Gottes, die aber dem Wohl aller dienen soll.

Diese positive Sichtweise überrascht im Kontext anderer Aussagen. Gleichwohl ist sie aus wirtschaftspolitischer Perspektive zu unterstützen. Unklar bleibt, ob der „Dienst an der Gesellschaft“ schon allein dadurch umfassend ausgeübt wird, indem der Unternehmer Güter und Dienstleistungen produziert oder ob er noch andere Anforderungen erfüllen muss. Hier könnte man an die Vermeidung externer Effekte, Fürsorge für die Beschäftigten, Zahlung rechtmäßig erhobener Steuern und Ähnliches denken. Nicht akzeptabel wäre die Ausnutzung von Marktmacht oder von Informationsasymmetrien zulasten von Vertragspartnern oder Dritten. Wie dem auch im Einzelnen sei, Papst Franziskus befindet sich hier in der Tradition der kirchlichen Soziallehre und wird sicherlich auch von Ökonomen Zustimmung erfahren.

These 3: Schwache bedürfen eines starken Staats, nur Starke kommen ohne ihn aus.

Diese These leuchtet zunächst intuitiv ein, ist aber diskussionswürdig. Für arme Länder würde sie einen besonders starken Staat rechtfertigen, da es hier besonders viele Schutzbedürftige gibt. Aus historisch-empirischer Sicht kann hierzu Folgendes gesagt werden:

  • Um ihre Situation zu verbessern, benötigen Schwache nicht unbedingt einen starken Staat. Sie könnten auch versuchen, Genossenschaften zu gründen, die nach den Prinzipien „Selbstverwaltung“ und „Selbstverantwortung“ organisiert sind und die ohne staatliche Hilfe auskommen. Not und Armut werden hier in liberaler Tradition durch kollektive Selbsthilfe beseitigt. In Deutschland und vielen anderen Industrieländern konnten so im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche soziale Missstände beseitigt werden. Auch in vielen Entwicklungsländern waren und sind Genossenschaften erfolgreich.
  • Ein „starker Staat“ bedeutet in vielen Entwicklungsländern nicht einen „Rechtsstaat mit sozialer Verantwortung“, sondern einen korrupten Klientelstaat ohne jede Rechtsstaatlichkeit. Um Schwachen einen sozialen Schutz zu bieten sind solche Staaten wenig geeignet. Funktionierende Demokratien gibt es nur in wenigen Entwicklungsländern.
  • Diese Einwände implizieren nun nicht, dass der Staat bei der Organisation sozialer Sicherheit keine Rolle zu spielen hätte. Im Gegenteil, es gibt Bereiche, die der staatlichen Organisation oder der staatlichen Mitwirkung bedürfen. Ein Beispiel wäre die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit.

Der Ruf nach „dem Staat“ oder „einem starken Staat“ stellt die Dinge einfacher dar als sie sind. Durch Staatsinterventionen ist gerade in Entwicklungsländern viel ökonomische Substanz zerstört worden, ohne soziale Gerechtigkeit und Sicherheit geschaffen zu haben. Dies trifft besonders auf Lateinamerika zu.15Vgl. Ernst Dürr, Soziale Marktwirtschaft in Entwicklungs- und Schwellenländern, Paul Haupt, Bern 1991. Zusammenfassend kann man Papst Franziskus bei der Bewertung der Rolle des Staats nur stark eingeschränkt zustimmen.

These 4: Die globalisierte Wirtschaft zwingt der Welt ein einheitliches kulturelles Modell auf.

Dies ist eine vielfach behauptete, jedoch kaum belegte These. Auch sie reflektiert eher eine subjektive Bewertung als eine empirisch überprüfbare Tatsache. Papst Franziskus hat recht, wenn er darauf hinweist, dass die westliche Lebensart – damit ist nicht unbedingt Kultur gemeint – in den meisten Entwicklungsländern heute eine größere Rolle spielt als noch zu Zeiten des Kolonialismus. Gleichwohl kann wohl kaum die Behauptung begründet werden, diese habe die existierenden nationalen Kulturen vernichtet oder ersetzt. Die These des Papstes ist überspitzt und daher in dieser Form unhaltbar.

These 5: Profitorientiertes Wirtschaften beutet die Menschen aus. Insbesondere die Herrschaft des Geldes ist (eine) Ursache struktureller Armut.

Hier liegt der Kern der päpstlichen Kritik, die das fortführt, was bereits in der Enzyklika Evangelii gaudium aus dem Jahr 2013 angelegt wurde, nach der „diese Wirtschaft tötet“. Mit der Formulierung „diese Wirtschaft“, so steht zu vermuten, ist das gemeint, was im populären Sprachgebrauch als „internationaler Kapitalismus“ bezeichnet wird, wobei angezweifelt werden muss, dass es einen einheitlichen, weltumspannenden Kapitalismus überhaupt gibt.

Keine Behauptung des Papstes steht so im Widerspruch zu den Fakten wie diese. Zunächst ist als zutreffend festzuhalten, dass es kapitalistische Marktwirtschaften in Reinform, also mit keinerlei Beteiligung des Staats, nicht gibt und auch nie gegeben hat. Was es gegeben hat, sind liberale Marktwirtschaften mit geringem Staatsanteil, wie sie beispielsweise in den westlichen Industriestaaten bis zum Ersten Weltkrieg anzutreffen waren. Die heutigen ordnungspolitischen Realitäten unterscheiden sich von Land zu Land vor allem im unterschiedlich hohen Staatsanteil.

Es gibt lediglich ein Land, das man heute noch als freie Marktwirtschaft mit einem Minimalstaat bezeichnen kann, nämlich den Stadtstaat Hongkong. Clemens Fuest hat ihn bei seinem Kommentar zur Enzyklika offensichtlich übersehen. Minimalstaat bedeutet in diesem Fall eine Staatsquote, die gegenwärtig bei erstaunlich niedrigen 10 Prozent liegt.16https://www.theglobaleconomy.com/Hong-Kong/government_size/ (19. Oktober 2020). Früher war sie noch niedriger. Reiche Industrieländer weisen heute üblicherweise Werte von 45 bis 55 Prozent auf. In Hongkong erklärt sich dieser niedrige Wert insbesondere durch den Verzicht auf ein umfassendes Sozialsystem und eine Armee. Der wirtschaftlichen Entwicklung geschadet hat dies nicht, im Gegenteil. Hongkong ist nach dem Zweiten Weltkrieg in wirtschaftlicher Hinsicht in einzigartiger Weise erfolgreich gewesen. Aus einem armen Entwicklungsland ist ein wohlhabendes Land geworden mit einem Lebensstandard, der sich kaum von demjenigen anderer reicher Länder unterscheidet. Diese Entwicklung fand ohne jede Entwicklungshilfe statt.17Vgl. auch im Hinblick auf andere asiatische Länder Richard Reichel, Markt oder Moral, Fischer Verlag, Frankfurt 1994, Seiten 210 ff. Hongkong ist zudem das einzige Land, das keine Zölle kennt. Dieser vollständige Freihandel hat dem Land offensichtlich nicht geschadet.

Aber nicht nur in diesem Extremfall gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der marktwirtschaftlichen Orientierung eines Landes und seinem ökonomischen und sozialen Erfolg. Wirtschaftlich freiere Länder haben einen höheren Lebensstandard, eine höhere Lebenserwartung, eine geringere Kindersterblichkeit, geringere Armutsquoten und mehr Geschlechtergerechtigkeit als unfreie Länder.18Economic Freedom of the World, 2020 Annual Report, Fraser Institute; https://www.fraserinstitute.org/sites/default/files/economic-freedom-of-the-world-2020.pdf, Seiten 17 ff. (19. Oktober 2020).

Auch und gerade in historischer Perspektive hat sich die kapitalistische Marktwirtschaft als wirksames Mittel zur Armutsbeseitigung erwiesen und durch Wirtschaftswachstum einen bisher nicht gekannten Massenwohlstand herbeigeführt. Und nicht nur das: Sie hat auch Milliarden Menschen in den vergangenen 250 Jahren überhaupt erst die Existenz ermöglicht.

Dabei hat die Existenz von Geld Tauschprozesse wesentlich vereinfacht und zur Wohlstandsschaffung beigetragen. Die Behauptung, „die Herrschaft des Geldes“ habe Armut erzeugt, ist ebenso unsinnig wie die Behauptung, dass „diese Wirtschaft tötet“. Papst Franziskus hat sich mit diesen Aussagen in ein Fakten-Abseits gestellt.

These 6: Neoliberalismus als herrschende Wirtschaftstheorie ist eine Art Magie. Nötig ist eine aktive Wirtschaftspolitik. Finanzspekulation und billiger Gewinn richten Unheil an. Märkte benötigen Vertrauen, um ihre Funktion zu erfüllen.

Wenn Papst Franziskus mit „Neoliberalismus“ eine kapitalistische Marktwirtschaft meint, dann ist die These, wie oben gezeigt, falsch. Worauf sich eine aktive Wirtschaftspolitik richten soll, bleibt bei Papst Franziskus unklar. Finanzspekulation kann sowohl positive wie auch negative Effekte haben. Mit „billigem Gewinn“ meint der Papst – so steht zu vermuten – „schnellen Gewinn“. Auch dieser kann aus wohlstandsschaffenden Transaktionen entstehen. Die Behauptung, dass er generell Unheil anrichtet, ist nicht begründbar und muss somit als Meinung klassifiziert werden, die sich dem wissenschaftlichen Diskurs entzieht. Dass Märkte Vertrauen benötigen, ist eine triviale Aussage, da Vertrauen Transaktionskosten und damit Tauschkosten reduziert.

These 7: Reichtum ist den Armen gestohlener Wohlstand. Reichtum an einer Stelle bedingt Armut an anderer Stelle. Die angebliche Verringerung der Armut ist eine Behauptung, die sich auf ungeeignete Messinstrumente stützt.

Diese These ist Unfug und allenfalls als plakative Anklage zu verstehen. Die Behauptung selbst ist einerseits unlogisch, andererseits empirisch widerlegt. Unlogisch ist sie, weil man einem Armen keinen Reichtum wegnehmen kann. Empirisch widerlegt und damit falsch ist sie, weil der seit dem 18. Jahrhundert in den Ländern des Nordens entstandene Reichtum geschaffen und nicht umverteilt wurde. In historischer Perspektive lässt sich hier Folgendes festhalten:

Um 1500, also zu Beginn des Kolonialzeitalters, lag das Pro-Kopf-Einkommen derjenigen Länder, für die Zahlen vorliegen, zwischen 3.125 US-Dollar (Italien) und 844 US-Dollar (Türkei). Die ersten Angaben für Länder „der Peripherie“ gibt es für das Jahr 1800. Die spanischen Kolonien hatten damals folgende Pro-Kopf-Einkommen: Argentinien (1.635 US-Dollar), Kolumbien (937 US-Dollar), Mexiko (1.555 US-Dollar), Peru (1.120 US-Dollar), Uruguay (1.807 US-Dollar); die Kolonialmacht Spanien lag bei 1.600 US-Dollar. Im Jahr 1500 lag das Pro-Kopf-Einkommen Spaniens bei 1.477 US-Dollar.19Siehe Maddison Project Database 2018; https://www.rug.nl/ggdc/historicaldevelopment/maddison/releases/maddison-project-database-2018?lang=en

Diese Zahlen sprechen für sich und zeigen, dass alle Länder damals einen in etwa vergleichbaren Lebensstandard hatten. Würde die These von der Ausbeutung und der Umverteilung des Reichtums stimmen, hätte Spanien immer reicher werden müssen und Lateinamerika hätte gegenüber Spanien weit zurückgefallen sein müssen. Nichts dergleichen lässt sich beobachten.

Auch in neuerer Zeit und im Hinblick auf die Entwicklungsländer anderer Regionen und Kontinente lassen sich keine Belege für die These „Armut im Süden durch Reichtum im Norden“ finden.20Vgl. Richard Reichel, Markt oder Moral, Fischer Verlag, Frankfurt 1994, Seiten 210 ff. Die drastische Reduktion der absoluten Armut in vielen Ländern des Südens scheint Papst Franziskus zu irritieren. Nur so ist zu erklären, dass er unter Punkt 21 diese Reduktion mit kryptischen Formulierungen wie zum Beispiel „die moderne Welt“ zu relativieren versucht. Joachim Wiemeyer liegt also mit seiner Formulierung „nimmt zur Kenntnis“ durchaus richtig.21 Siehe unter https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2020-10/deutschland-sozialethiker-wiemeyer-fratelli-tutti-lob-kommentar.html (18. Oktober 2020). Gleichwohl kann man diese Erkenntnis nicht im Sinne einer zustimmenden Bewertung interpretieren. Vielmehr liegt der Papst mit seiner Aussage derart außerhalb der Realität, dass er Deckung zu suchen scheint, ohne Stellung beziehen zu müssen.

Fazit: Die These vom umverteilten Reichtum ist nicht haltbar und muss in das Reich der Märchen verwiesen werden. Auch ist die weltweite Armut im Zeitalter der Globalisierung erheblich zurückgegangen – und das nicht nur in China. Selbst in Subsahara-Afrika ist der Anteil derjenigen, die von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag leben müssen (extreme Armut) von etwa 60 Prozent zu Anfang der 1990er Jahre auf etwa 40 Prozent im Jahr 2018 zurückgegangen.22 https://data.worldbank.org/topic/poverty

Wer oder was hat die Armut verringert? Der Sozialstaat oder das Wirtschaftswachstum? Die Antwort ist eindeutig: Dem Wirtschaftswachstum kommt die primäre Bedeutung zu. Dieses wiederum resultiert aus geeigneten staatlichen Rahmenbedingungen, die der privaten Initiative Raum geben.23Growth – Building Jobs and Prosperity in Developing Countries, Department of International Development, https://www.oecd.org/derec/unitedkingdom/40700982.pdf (19. Oktober 2020). In vielen, insbesondere den armen Ländern würgen die Rahmenbedingungen die private Initiative ab. Am ungünstigsten sind sie, wenn eine Politik des Inflationismus, des Interventionismus und der Importsubstitution oder gar des Sozialismus betrieben wird. An ebendieser Krankheit leidet Lateinamerika seit Jahrzehnten und nicht am Neoliberalismus.

These 8: Es gilt das Primat der Politik.

Diese normative Forderung dürfte mehrheitsfähig sein, denn sie resultiert aus dem Demokratieprinzip. Zustimmen dürften Vertreter des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft, während sie in radikalliberalen oder libertären Kreisen abgelehnt werden dürfte. Immerhin hat der Papst hier die deutschen Ordoliberalen auf seiner Seite.

These 9: Entwicklungshilfe dient allen; sie hat positive externe Effekte.

Bei der Prüfung dieser These kann man auf die Erfahrung mit praktizierter Entwicklungshilfe aus sieben Jahrzehnten zurückgreifen. Und diese sind nicht uneingeschränkt positiv: Während man auf mikroökonomischer Ebene bei zahlreichen Projekten positive Effekte feststellen konnte, sieht es aus der makroökonomischen Perspektive ganz anders aus. Hier existiert eine verwirrende Vielfalt empirischer Ergebnisse.24Siehe https://www.weforum.org/agenda/2014/11/how-effective-is-foreign-aid/ (19. Oktober 2020). Staatliche Entwicklungshilfe wird auch unter Wissenschaftlern höchst kontrovers diskutiert und ihre Wirksamkeit ist an zahlreiche Bedingungen geknüpft, die in der Wirklichkeit vielfach nicht gegeben sind. Die einseitig positive Darstellung durch den Papst ist durch die Fakten nicht gedeckt.

Fasst man dies alles zusammen, so muss man leider konstatieren, dass die Ausführungen von Papst Franziskus zu den Themen Marktwirtschaft und Armut vorurteilsbehaftet und unwahr (Clemens Fuest) sind.25Vgl. Clemens Fuest; https://www.kath.ch/newsd/wirtschaftsforscher-sieht-in-enzyklika-fehleinschaetzungen-und-ideologie/. Offenkundige Verletzungen des achten Gebots, nach dem Falschaussagen von Christen gegenüber dem Nächsten zu unterlassen sind, sollten in einem päpstlichen Lehrschreiben nicht vorkommen. Gerade erschütternd ist, wenn man sich vor Augen führt, welche selbst ernannten Hilfstruppen sich um den Papst scharen. So gab die Rosa-Luxemburg-Stiftung bereits 2015 einen Sammelband heraus, dessen Titel sich explizit auf Papst Franziskus bezieht und dessen Autorenspektrum zwischen links und extrem links anzusiedeln ist.26Vgl. Franz Segbers/Simon Wiesgickl (Hrsg.), „Diese Wirtschaft tötet“ (Papst Franziskus), Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Hamburg 2015; https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Segbers_Wiesgickl_Diese_Wirtschaft_Netz.pdf (20. Oktober 2020). Was die Autoren vereint, ist ihre ökonomische Inkompetenz.

Sozialismus, Interventionismus und die Position des Papstes

„Die reichen Länder sind am Elend der armen Länder schuld“ – diese Botschaft lässt sich aus der Enzyklika Fratelli tutti herauslesen. Was man leider nicht findet, ist eine Bewertung von Papst Franziskus bezüglich der Leistungen der (Wirtschafts-)Politiker in den armen Ländern. Dabei hätte Franziskus die Wirtschaftsgeschichte seines eigenen Landes studieren können. Sie gibt Aufschluss darüber, welches der falsche Weg ist. Der Abstieg Argentiniens von einem der reichsten Länder der Welt zu einem Schwellenland mit lediglich noch mittlerem Einkommen ist eine Folge von Interventionismus, Inflationismus, Importsubstitutionspolitik und Auslandsverschuldung in der ökonomischen Dimension sowie Korruption und Klientelwirtschaft in der politischen. Sicherlich wurde Argentinien nicht „vom Ausland“, „von den Globalisten“ oder von „den Neoliberalen“ arm gemacht. Die Verantwortlichen heißen Juan Perón, Jorge Rafael Videla, Raúl Alfonsín und Cristina Fernández de Kirchner, um nur einige zu nennen. Bei Papst Franziskus findet sich hierzu kein Wort.

Wirtschaftlicher Niedergang traf aber nicht nur Argentinien. Auch in anderen Ländern Lateinamerikas war es falsche Wirtschaftspolitik, die wirtschaftliches Chaos und Verarmung beförderte. Chile unter Salvador Allende und Venezuela unter Hugo Chávez und Nicolás Maduro sind weitere Beispiele. Es gibt weltweit kein einziges Beispiel für ein Land, in dem Sozialismus zu Wohlstand geführt hätte, bestenfalls gab es gleich verteilte Armut (Kuba) oder ungleich verteiltes Elend (Nordkorea). Angesichts der Faktenlage ist unverständlich, wie Papst Franziskus solch unhaltbare Positionen vertreten kann.

Seine Vorgänger waren da viel weiter. So schreibt Johannes Paul II. 1991 in der Enzyklika Centesimus annus: „Noch vor wenigen Jahren wurde behauptet, die Entwicklung würde von der Isolierung der ärmsten Länder vom Weltmarkt und davon abhängen, dass sie nur auf ihre eigenen Kräfte vertrauen. Die jüngste Erfahrung aber hat bewiesen, dass die Länder, die sich ausgeschlossen haben, Stagnation und Rückgang erlitten haben; eine Entwicklung hingegen haben jene Länder durchgemacht, denen es gelungen ist, in das allgemeine Gefüge der internationalen Wirtschaftsbeziehungen einzutreten.“ (Ziffer 33) Und unter Ziffer 34 heißt es: „Sowohl auf nationaler Ebene der einzelnen Nationen wie auch auf jener der internationalen Beziehungen scheint der freie Markt das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein.“

Fazit

Man kann die katholische Soziallehre drehen und wenden, wie man will, es gibt jenseits des Normativen keine Möglichkeit, kontrafaktische Behauptungen in ihr Ideengerüst einzubauen. Genau das tut aber Papst Franziskus. Wesentliche Aussagen seiner Enzyklika Fratelli tutti sind mit der bisherigen Lehrtradition der Kirche unvereinbar. Es ist schwer vorstellbar, dass er diese Positionen selbst korrigiert. Das werden andere tun müssen.

Prof. Dr. Richard Reichel ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der FOM Hochschule Essen und Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Genossenschaftswesen an der Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2003 bis 2008 war er Mitglied der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ der Deutschen Bischofskonferenz.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, herausgegeben von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, ISSN 2366-021X

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