Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass der Elitendiskurs über den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“, der für die Selbstdeutung unserer Gesellschaft fast inflationär verwendet wird, mittlerweile ohne nähere Kenntnis seiner Entstehungsgeschichte und seines Theoriegehalts stattfindet. In Zeiten, in denen alle demokratischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland die „Soziale Marktwirtschaft“ für sich in Anspruch nehmen und etwa die SPD im Wahlkampf 2013 „die Soziale Marktwirtschaft neu begründen“ wollte (so Sigmar Gabriel in der Bild am Sonntag), besteht Bedarf an der Rückführung einer schwammig gewordenen Phrase aus dem Arsenal der politischen Sonntagsreden auf ihren wissenschaftlichen Kern.

Deshalb ist es verdienstvoll, dass Horst Friedrich Wünsche, der von 1973 bis zu Erhards Tod 1977 dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter und danach Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung in Bonn gewesen ist, kürzlich den Versuch unternommen hat, der Diskussion um den Markenkern der Sozialen Marktwirtschaft neue Impulse zu geben (Horst Friedrich Wünsche, Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft. Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen, München 2015). Dabei handelt es sich um das Lebensthema des Verfassers, der schon in mehreren Monographien eine Deutung von Ludwig Erhards wissenschaftlicher Konzeption vorgenommen hat. (Bei unserem „Frankfurter Gespräch“ am 14. Dezember 2015 stellte Dr. Horst Friedrich Wünsche zentrale Thesen seines Buches vor, die im Anschluss daran diskutiert wurden.)

Kontrapunkt zu Hentschels Erhard-Biographie

Passagenweise wirkt Wünsches Arbeit als bewusste Antwort auf die vor fast zwei Jahrzehnten erschienene Erhard-Biographie von Volker Hentschel (Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1996). Hentschels Beschreibung des Lebensweges und der Lebensleistung Erhards ist die bislang ausführlichste Darstellung und gibt zurzeit den Grundtenor der Erhard-Deutung vor. Die Quellendichte und souveräne Einordnung in den historischen Kontext sind ihre Vorzüge, allerdings kann man dem Autor wahrlich nicht den genretypischen Vorwurf machen, dass er sich zu sehr mit seinem Sujet identifizieren würde: Stellenweise wirkt die Biographie, als sähe Hentschel in dem „Vater des Wirtschaftswunders“ einen mittelmäßigen Ökonomen, der von den Zeitläuften in eine politische Schlüsselposition gespült worden sei, die er dann eher schlecht als recht ausgefüllt habe. Flüssig erzählt und mit Sinn für das Komische liest sich Hentschels Biographie zwar leicht, doch wird sie Erhards Lebensleistung nicht gerecht. Fast durchgängig werden Misserfolge als Konsequenz der intellektuellen Defizite oder der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit Erhards erklärt, die nicht zu leugnenden Erfolge erscheinen dagegen als Ergebnis günstiger Zufälle. Man fühlt sich bei Hentschel gelegentlich an die Hollywoodkomödie „Forrest Gump“ erinnert, in der ein liebenswerter Trottel mithilfe einer Verkettung glücklicher Unfälle sein Leben bestens meistert. Als Deutungsmuster eines Politikerlebens, das sich über fast zwei Jahrzehnte in politischen Spitzenpositionen bis hin zum Amt des Regierungschefs erstreckte und eindeutig einer der Faktoren für die fulminanten Wahlsiege der CDU in dieser Zeit war, ist dies wohl unzureichend.

Heterogener Aufbau

Wünsches Ansatz kann man dagegen den Vorwurf übergroßer Distanz zu Erhard nicht machen. Die Sympathie für den „Vater des Wirtschaftswunders“ ist mit Händen zu greifen, und besonders auffällig erscheint das Bemühen, Erhards wissenschaftliche Originalität herauszustellen. Wünsches Leistung liegt darin, durch eine lebenslange Beschäftigung mit seinem Thema eine besonders starke Identifikation mit Erhards Gedankenwelt erreicht zu haben. Das erlaubt ihm durchaus, auf deutliche Diskrepanzen und Ungenauigkeiten im gegenwärtigen Umgang mit der Terminologie der „Sozialen Marktwirtschaft“ hinzuweisen. Wenn er beispielsweise die derzeitige Überbetonung des „Sozialen“ in der Sozialen Marktwirtschaft als so nicht intendiert kritisiert und demgegenüber Erhards Auffassung herausarbeitet, dass Hilfe zuallererst immer Hilfe zur Selbsthilfe sein solle und eine Umverteilungsgesellschaft keineswegs anzustreben sei, hat er schlicht recht.

Gleichzeitig hat dieser personalisierende Ansatz – der Band ist sogar explizit Erhards Andenken gewidmet – seine Grenzen: Beispielsweise wird der Anspruch erhoben, „Eigenheiten der aktuellen Politik aus Erhards Sicht“ (Seite 42) deuten zu können. Störend ist neben der unkritischen Nähe zu Erhards Gedankenwelt eine permanente Verteidigungshaltung, die auch darin zum Ausdruck kommt, dass der Band mit einer ausführlichen Antikritik beginnt, die Erhard-kritische Forschungspositionen als „Bigotterie“, „Dogmatismus“ und „blind“ abqualifiziert.

Die Arbeit ist sehr heterogen aufgebaut und stellenweise redundant. Nach der Kritik an der Forschung folgen die Kritik an der heutigen Wirtschaftspolitik, Lösungsvorschläge und dann wieder ein biographischer Absatz über Erhards Studienzeit. In allen Passagen gibt es durchaus beachtenswerte Informationen, aber die Ausführungen sind stark wertend. Kaum haltbar ist insbesondere der Versuch, Erhard mit der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie in Verbindung zu bringen. Ebenfalls nicht quellenmäßig gedeckt ist die Vorstellung, dass Erhard und Walter Eucken sich in deutlichem Gegensatz befunden hätten und keine Beeinflussung Erhards durch Ordoliberale wie Franz Böhm oder Wilhelm Röpke stattgefunden habe. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Natürlich gab es Unterschiede zwischen den einzelnen Positionen, aber der Erfolg von Erhards Wirtschaftspolitik wäre ohne die vorhergehende theoretische Fundierung durch die „Freiburger Schule“ unmöglich gewesen. Richtig liegt Wünsche hingegen, wenn er die Wertgebundenheit der Vorstellungen Ludwig Erhards im Unterschied zu heutigen Wirtschaftstheorien betont; aber erstaunlicherweise scheint ihm das Bild Erhards als Umsetzer einer politischen Ökonomie nicht zu reichen. Gerade hier, bei seiner zentralen These, Erhard sei ein Wissenschaftler sui generis gewesen, bleibt Wünsche den Beweis schuldig. Der Versuch, aus den Schriften des ersten Bundeswirtschaftsministers ein geschlossenes, originelles und eigenständiges Theoriegebäude zu belegen, gelingt nicht. Erhard hat die theoretischen Anregungen der ordoliberalen Denker rezipiert, dem Wähler schmackhaft gemacht und in politisches Handeln erfolgreich umgesetzt – dies ist sein bleibendes historisches Verdienst. Selbst entwickelt hat er sie jedoch nicht.

Lückenhafte Rezeption

Durchaus rezipiert, aber nicht durchgängig akzeptiert hat Wünsche die Ergebnisse der neueren wirtschaftshistorischen Forschung; unter den Publikationen zu diesem Themenkomplex sticht die Habilitation von Bernhard Löffler über das Bundeswirtschaftsministerium besonders hervor (Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, Wiesbaden 2002). Die sorgfältige Untersuchung kann die Leistungen und Grenzen von Erhards Führungsstil in seinem Ministerium klar herausarbeiten. Andere wichtige biographische Neuerscheinungen wie die 2005 erschienene Biographie Wilhelm Röpkes von Hans Jörg Hennecke (Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005) finden Beachtung, erstaunlicherweise aber die von der Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte Biographie Franz Böhms von Niels Hansen (Franz Böhm mit Ricarda Huch, Düsseldorf 2009), die unter anderem neue Erkenntnisse zur Entstehungsgeschichte der „Freiburger Schule“ enthält, nicht.

Ludwig Erhard heute?

Wenn Wünsches Arbeit, vor allem im Vergleich mit Hentschels Biographie, eines deutlich macht, dann ist es die Notwendigkeit, dass sich die volkswirtschaftliche und die wirtschaftshistorische Forschung wieder verstärkt der Begründungsphase der Sozialen Marktwirtschaft zuwenden müssen. Weder war Erhard ein eher tumber Zufallspolitiker, wie ihn Hentschel vorführt, noch der visionäre Wissenschaftler, den Wünsche wahrgenommen zu haben glaubt. Fraglich erscheint auch, ob eine Kanonisierung, wie sie Wünsche anzustreben scheint, sinnvoll ist. Am nächsten kommt ihm vielleicht die Beschreibung als „Zentralfigur des neoliberalen Spektrums“ (Yorck Dietrich), der ordoliberale Vorstellungen in seiner Politik bündelte. Erhard hat eine theoretisch tief fundierte Wirtschaftspolitik eindeutig sehr erfolgreich umgesetzt. Dem steht nicht entgegen, dass er selbst kein origineller eigener Theoretiker oder gar ein geschickter Parteipolitiker gewesen ist. Und natürlich taugen nicht mehr alle von Erhards Ansätzen zur Bewältigung heutiger wirtschaftspolitischer Herausforderungen.

Andererseits aber behalten die im Umfeld der „Freiburger Schule“ formulierten Grundsätze wie marktwirtschaftliche Orientierung, freie Preisbildung, Zerschlagung von Kartellen, Verzicht auf monetäre Staatsfinanzierung und solide Haushaltspolitik ihre überzeitliche Gültigkeit für die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft auch in Zeiten der Globalisierung. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass gegenwärtig der aus dem anglo-amerikanischen Raum diffundierende Glaube an die Machbarkeit unbegrenzter Geldschöpfung in Europa Konjunktur hat und sich auch in Deutschland die Frage stellt, wie viele Politiker eine Politik der Sozialen Marktwirtschaft tatsächlich noch verstehen und fundiert vertreten. Nötig scheint deshalb – vor allem auch in Vorbereitung auf die Erhard-Jubiläen 2017: 120. Geburts- und 40. Todestag – eine im wissenschaftlichen Sinne kritische Überprüfung der bisherigen Erhard-Forschung. Es empfiehlt sich, Erhard und sein intellektuelles Umfeld, die Ökonomen der „Freiburger Schule“, wie Hans Großmann-Doerth, Walter Eucken, Wilhelm Röpke und andere, sowie die konkreten Entstehungsbedingungen des politischen Programms der „Sozialen Marktwirtschaft“ unter Berücksichtigung der Forschungsergebnisse der letzten Jahre neu auszuleuchten. Dabei wird sich sicherlich ein präziseres Bild der Lebensleistung Erhards ergeben, vor allem aber wird hoffentlich der Diskurs zu den eigentlichen Inhalten der Sozialen Marktwirtschaft erneut aufgenommen. Wenn dabei die Grundsätze (und nicht irgendwelche tagespolitischen Einzelentscheidungen) Erhards neu hervortreten, ist zu bezweifeln, ob sich Sigmar Gabriel weiterhin als Verfechter der „Sozialen Marktwirtschaft“ darstellen wird.

Der Autor des vorliegenden Beitrags, Dr. Wolfgang Tischner, ist Abteilungsleiter Publikationen/Bibliothek, Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Text ist erstmals erschienen in Die Politische Meinung, Türkei – Schlüsselmacht einer Krisenregion, Nr. 537, März/April 2016.

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